Diana Kinnert hat unter anderem die britische Politik zum Thema Einsamkeit beraten.

«Den Jungen ist gar nicht bewusst, wie schlecht es ihnen geht»

Einsamkeit ist nicht erst seit Corona ein dringendes Problem. Wie kann man sie bekämpfen? Und was hat das mit dem Kapitalismus zu tun? Ein Gespräch mit Diana Kinnert, Unter­nehmerin und Politikerin in der deutschen CDU.

Von Daniel Graf (Text) und Robert Rieger (Bilder), 02.03.2021

Wenn es so etwas gibt wie einen modernen Konservatismus, steht in Deutschland vor allem Diana Kinnert dafür. Jung, netzaffin, lesbisch, aus einer Familie mit Migrations­erfahrung – das sind Schlag­wörter, die in den Medien regelmässig fallen, wenn die Pointe lautet, dass Kinnert nicht dem landläufigen Bild eines CDU-Mitglieds entspricht.

Sah man sie früher nur mit Basecap, gehört mittlerweile der schwarze Hut so untrennbar zu Kinnerts Erscheinungs­bild wie das ebenfalls gern erwähnte Jesus-Tattoo zu ihrem Unterarm.

Vor kurzem ist die Unternehmerin 30 geworden, seit ihrem 18. Lebens­jahr engagiert sie sich bei den Christ­demokraten. Auch als Publizistin und Autorin ist Diana Kinnert schon länger präsent. In diesen Tagen erscheint ihr Buch «Die neue Einsamkeit», das sie gemeinsam mit dem Autor und Journalisten Marc Bielefeld verfasst hat.

Wir haben Diana Kinnert zum Gespräch getroffen – im Videochat. Womit wir bei einem von Kinnerts Kernthemen sind: dem Wohl und Wehe der digitalen Kommunikation.

Frau Kinnert, Sie beschäftigen sich seit Jahren mit dem Thema Einsamkeit. Wie hat ein Jahr Pandemie Ihren Blick darauf verändert?
Wenn es Kontakt­beschränkungen gibt, hat das psychologische Konsequenzen, die müssen mitberücksichtigt werden. Die Politik muss sich langfristig Gedanken machen, damit man Sterilität nicht zum Dogma macht, sondern auch sozialen Austausch ermöglicht. Ansonsten habe ich über Einsamkeit in der Pandemie nicht viel Neues gelernt, weil alles vorher schon bekannt war. Was sich aber extrem verändert hat, ist die Sensibilität für das Thema. Wollte man vorher Politiker dafür sensibilisieren, hat sich keiner interessiert.

Sie gelten als international bestens vernetzt, sind in unzählige Projekte eingebunden, in Zeitungs­porträts lernt man Sie als aktiven Teil der Berliner Ausgeh­kultur kennen. Bei dem öffentlichen Bild von Ihnen würden wohl die wenigsten Einsamkeit als eines Ihrer Lebens­themen vermuten. Ein typischer Denkfehler?
Ja. Meine Beschäftigung mit Einsamkeit hat damit begonnen, dass ich in Gross­britannien die Pioniere dieses Politik­felds kennen­gelernt habe.

Sie haben die britische Politik beraten, bevor die Regierung 2018 ein Ministerium für Einsamkeit eingerichtet hat.
Genau. Vor sechs Jahren habe ich die britische Labour-Abgeordnete Jo Cox kennen­gelernt, die ja später von Rechts­extremen ermordet wurde. Vor allem als Jugend- und Sozial­politikerin hatte sie viel zum Thema Einsamkeit gemacht und in Gross­britannien ein überfraktionelles Netzwerk initiiert, britische Abgeordnete aller Parteien hatten also schon dazu gearbeitet. Ich bin zufällig durch Freundschaften und kleinere Projekte dazugestossen. Cox’ Schwester hat dann eine Stiftung gegründet, die Jo Cox Foundation, und die hat dieses Gutachten geschrieben, dass wir ein Ministerium brauchen und wie es aufgebaut sein muss. Damals dachte ich noch, Einsamkeit sei ein Thema für Hochaltrige, und in Gross­britannien wurde das auch so interpretiert.

Mittlerweile wissen wir, dass das Problem längst nicht nur ältere Menschen betrifft. Was waren die Massnahmen, die Sie damals mit den Kolleginnen in Gross­britannien diskutiert haben?
Zunächst sehr formale Dinge. Es braucht ein Budget, einen Evaluierungs­rahmen, eine Enquete-Kommission, die das Thema aus dem aktuellen wissenschaftlichen Stand heraus definiert. Die Briten, besonders die konservativen, fanden das Thema vor allem deswegen interessant, weil dahinter enorme Gesundheits­kosten stehen. Wir haben dann dafür gesorgt, dass bis 2023 jeder Hausarzt eine Fortbildung zum Thema Einsamkeit gemacht haben muss. Jedes Gesetz wird nun nach einem Einsamkeits­index nochmals darauf geprüft, ob es Gesellschaften und kleinere Familien­bande eher zusammen­führt oder auseinander­treibt. Ich war beteiligt bei der Kampagne der Royal Mail, der britischen Post. Da haben die Briefträger neue Arbeits­bedingungen bekommen, damit sie zum Beispiel bei Allein­stehenden klingeln und sich mit ihnen unterhalten können. Insgesamt ging es um Gesundheits­politik und Subsidiarität: Nachbarschafts­genossenschaften, Mehrgenerationen­häuser. Also darum, den Menschen, die im ländlichen Raum verstreut sind, soziale Orte zu ermöglichen.

Was nehmen Sie von diesen Erfahrungen mit?
Ich bin im Anschluss viel durch andere Länder gereist und habe mir deren Politiken angekuckt. In Skandinavien haben die Grund­schüler das Fach Empathie und Ethik, in Tel Aviv geht es viel um Smarthome und Technologie bei Hochaltrigen, in Australien – das ist ja eher eine libertär-rechte Regierung dort – geht es um Erwerbs­tätigkeit für über 70-Jährige. Das ist alles weiter weg von der deutschen Politik als die britische. Gross­britannien und Deutschland waren früh Treiber der Industrialisierung, woraus ein Gesundheits­begriff entstand, der viel auf physische Gesundheit schaut und kaum auf mentale Belastung. Wir brauchen einen neuen Kultur­begriff für die soziale Teilhabe der Hoch­altrigen und einen ernsten Platz in der Gesellschaft für sie, statt entweder Kreuz­fahrt oder Flaschen sammeln.

Einsamkeit war schon vor Corona weltweit ein riesiges Problem. In der Schweiz zum Beispiel fühlte sich schon vor der Pandemie ein Drittel der Menschen einsam. Was also sind die tiefer liegenden Ursachen?
Sehr verschiedene. Was ich in Gross­britannien wahrgenommen habe, lag ein Stück weit auf der Hand: dass der Gesundheits­apparat mentale Belastung zu gering schätzt. Und dass wir immer mehr Hochaltrige haben, die durch nicht agile Infra­struktur zu wenig eingebunden sind.

«Nicht agile Infrastruktur», was meint das konkret?
Die Hochaltrigen sind oftmals von Freunden und Familie abgeschnitten. Gleichzeitig haben wir eine Quartier­politik, die immer noch auf lange Fusswege setzt, wo baulich nicht umgesetzt ist, dass ich irgend­wohin komme, wenn ich kaputte Knie oder einen kaputten Rücken habe. Es gibt Rufbusse auf dem Land, bei denen ich Wochen vorher anrufen muss, damit ich in die Stadt komme. Viele Infra­strukturen sind einfach nicht auf die Lebens­bedürfnisse hochaltriger und kranker Menschen ausgerichtet. Digitale Kommunikation ist da ein wichtiges Thema. Aber wenn die Hochaltrigen im Pflegeheim oft nicht mal WLAN haben … Die digitale Infra­struktur steht ganz weit hinten. Dabei wäre das ein Schlüsselprojekt.

In Ihrem Buch gehen Sie aber auch stark auf die Schwierigkeiten ein, die mit dem Digitalen einher­gehen, und legen dabei den Fokus besonders auf jüngere Generationen.
Genau. Teil eins meiner Antwort waren diese klassischen Sachen: Industrialisierung, die Hochaltrigen, Infrastruktur. Dann fing die eigentliche Reise dieses Buches an. Sämtliche Studien, vor allem aus Amerika und Australien, sagen, die stärkste Einsamkeit gibt es gar nicht bei den Hochaltrigen, sondern bei den sehr Jungen, seit letztem Jahr nochmals verstärkt. Da sagte ich mir: Gut, dann übertrage ich die vorhandenen Instrumente auf die Jungen – und musste feststellen, das funktioniert gar nicht, denn die haben ja das Internet, die sind ja miteinander verbunden. Das ist für mich das eigentliche Thema des Buches: Warum sind die Jungen einsam? Das fand ich extrem widersprüchlich.

Was ist Ihre Antwort?
Meine These ist: Die ökonomischen Strukturen, die die junge Generation betreffen, sind so sehr auf Disruption, Unverlässlichkeit, Veränderung, Flexibilität und Anpassung gepolt, dass das genau die Tugenden sind, die wir dann in unser Kultur­leben übersetzen. Ich bin dann oberflächlich und flüchtig. Anders als bei den Senioren sind bei den Jungen ja schon alle zusammen. Es entsteht aber trotzdem keine Intimität. Denn man kann auch Beziehungen und soziale Anerkennung konsumieren. Wir können Zwischen­menschliches zu Konsum­gütern degradieren. Die ökonomische Unsicherheit, der vor allem die junge Generation ausgesetzt ist, führt dazu, dass wir uns Intimität nicht mehr trauen und nicht in etwas investieren, wenn wir das Gefühl haben: Erstens setzt es mich meiner eigenen Gefühls­welt aus, und ich zeige eine Verletzlichkeit, die mich bei einem Rückschlag um Jahre zurückwirft. Zweitens: Warum sollte ich mich entscheiden, wenn ich lerne, dass die anderen sich auch nicht entscheiden? Diese ökonomische Durch­dringung sorgt dafür, dass wir unfähig sind zur Intimität.

Welche Rolle spielt dabei die heutige Arbeitswelt?
Eine sehr entscheidende. Ich bin damals vor allem aus christlich-sozialen Gründen in die CDU eingetreten. Meine Sympathie gilt den Familien­unternehmen, weil dort auf lange Hand Verbindlichkeit, Haltung und Verantwortung gelebt werden. Worauf ich immer stolz war in der deutschen sozialen Markt­wirtschaft, waren Sachen wie Betriebs­räte, Gewerkschaften, Tarif­autonomie. Über diese Strukturen entsteht ein langer Vertrauens­prozess, beide Seiten wissen miteinander, wie es diesem Unter­nehmen geht und was möglich ist und was nicht.

Dieser gewerkschaftliche Aspekt hätte doch eher dafür gesprochen, dass Sie sich in der Sozial­demokratie engagieren.
Nein. Ich habe eine Sympathie gegenüber Arbeit­gebern, ich bin ja auch Unter­nehmerin, weil diese bereit sind, Pionier­arbeit zu leisten. Aber klar, sozial­politisch ergibt es nur Sinn, wenn die Arbeit­nehmer partizipativ beteiligt sind. Das Alternativ­modell zu einem sehr sozial­demokratischen Stil ist es, über die Tarif­autonomie zu gehen, über Arbeit­nehmer und Arbeit­geber – dort werden dann Tariflöhne und Bedingungen ausgehandelt. Und nicht, weil ich als Sozial­politiker am lautesten rufe. Das ist etwas, was ich anstrengend finde, und deswegen war ich immer gegen einen politischen Mindest­lohn. Weil ich nicht möchte, dass der lauteste Sozial­populist jede Wahl gewinnt, weil er den Lohn nach oben ruft.

Aber Mindestlöhne sind doch Instrumente, die Armut zu bekämpfen – die Sie selbst als eine der wichtigen Mitursachen insbesondere für Einsamkeit im Alter beschreiben.
Es kommt drauf an. Ich bin grundsätzlich jemand, der Dinge im System klären und sie nicht ausserhalb des Systems sozial­populistisch aufgreifen möchte. Wenn ich vor jeder Wahl sage: «Und jetzt der Mindestlohn auf 30 Euro!», dann weiss ich, ich werde gewählt (aktuell beträgt der gesetzliche Mindest­lohn in Deutschland 9,50 Euro brutto; Anm. d. Red.). Aber das hat nichts mit dem Vertrauen im Unter­nehmen zu tun. Ich glaube, dass es Arbeit­nehmern langfristig überhaupt nicht guttäte, wenn der Arbeit­geber sie für Beklatscher der Sozial­populisten hielte. Sondern erst dann, wenn zwischen Arbeit­nehmern und Arbeit­gebern ein institutioneller Faden verwoben ist, der sie in einem vertrauens­vollen Zyklus hält, kann man auf beide Seiten eingehen.

Warum ist es Populismus, wenn man versucht, eines der ganz zentralen Probleme unserer Zeit – nämlich das Auseinander­gehen der Schere zwischen Arm und Reich und die massive soziale Ungleichheit – dort zu bekämpfen, wo die Schwächsten unter den unmittelbaren Auswirkungen leiden?
Das halte ich überhaupt nicht für sozial­populistisch. Ich halte die Methodik für nicht sinnvoll, diese Dinge aus den Prozessen auszulagern. Ich glaube, auch Arbeit­geber sind bereit, bessere Löhne zu zahlen, bessere Bedingungen zu schaffen, wenn sie ihren Arbeit­nehmern vertrauen und wissen, diese stehen am loyalsten unserem Gesamt­projekt gegenüber. Mir geht es um den Stil. Und ich glaube, am vertrauens­vollsten ist es über Jahre und Jahrzehnte gerechnet, wenn wir so etwas wie Tarif­autonomie haben.

Aber haben Sie nicht …
Natürlich muss man schauen: Funktioniert Tarif­autonomie noch? Und in dem Moment, in dem Arbeit­nehmer heutzutage eben nicht mehr 30, 40, 50 Jahre beim gleichen Arbeit­geber sind, es diese mittel­alterlichen Zünfte gar nicht mehr in jeder Berufs­gruppe gibt, diese ganze gewerkschaftliche Netzwerk­arbeit nicht mehr funktioniert – dann sehe ich auch, dass die Politik eingreifen muss. Deswegen wäre mein langfristiger Wunsch, dass es wieder neu solche Partizipations­modelle innerhalb der Unter­nehmerschaft gibt. Allerdings habe ich das Gefühl, das ist gar nicht erwünscht. Die Jungen verstehen nicht, dass es das vielleicht bräuchte für einen system­immanenten sozialen Aufstand. Und die Gründer und CEOs sagen: Ich stelle euch Obst und ’nen Kicker ins Büro, deswegen könnt ihr mich duzen und wir haben gar keine ökonomische Abhängigkeit. Das, was nötig wäre, nämlich dass Arbeit­nehmer und Arbeit­geber in einem fairen Prozess Dinge aushandeln, wird also versteckt. Und das nützt am Ende auf jeden Fall nicht den Arbeitnehmern.

Kann es sein, dass die Jungen gar nicht so sehr ein Problem mit dieser Erkenntnis haben, sondern das Vertrauen in eine Politik verloren haben, die sagt, man vertraue den Arbeit­gebern? Weil sie gleichzeitig sehen, wie die grossen Arbeit­geber unserer Zeit, Amazon und Co., seit Jahren die Standards unterlaufen und die Politik hilf- oder tatenlos zuschaut?
Ja, gerade bei den grossen Konzernen zeigt sich ein Problem der Globalisierung, für das wir multilateral noch keine effizienten Instrumente gefunden haben. Die Wirtschaft macht es sich auch sehr einfach, indem sie alle zwei Jahre eben neue Arbeit­nehmer findet und sich gar nicht in der Verantwortung sieht, eine langfristige Lebens­planung zu ermöglichen. Dazu haben wir eine Politik, die auf Basis globaler Kompetitivität glaubt, dass man Arbeitnehmer­rechte auch gar nicht gross ernst nehmen muss, weil man sonst Investoren und Unter­nehmen vertreibt. Gleichzeitig schwinden die Partizipations­prozesse innerhalb des Unter­nehmens, es gibt ein digitales Prekariat. Und es herrschen Selbst­ausbeutung und die Angst, dass ansonsten für mich gar nichts mehr übrig bleibt. Es sind also sehr viele Faktoren, die ineinandergreifen. Was ich aber fast am tragischsten finde, ist, dass den Jungen gar nicht bewusst ist, wie schlecht es ihnen geht.

Wieso nicht?
Das Einsamkeits-Paradigma bedeutet ja, dass ich das Gefühl habe, ich bin allein damit. Und es gibt eine neue Wirtschaft, die Solidarität absichtlich zerschlägt und Menschen einreden möchte, dass sie Individuen sind. Ich habe «Individuum» immer für eine sehr ermächtigende Vokabel gehalten, dachte, damit gehen immer ein Privilegium und Freiheiten einher. Das kann aber auch zerschlagen, dass ich mich mit anderen zusammen­gehörig fühle. Ein sozialer Aufstand, den ich mir als konservativer Mensch natürlich über Partizipations­modelle in der Wirtschaft wünsche, ist sehr unwahrscheinlich geworden. Weil die Leute gar nicht erkennen, dass sie in der gleichen Lage sind.

«Ich bin sehr geprägt vom Christlich-Sozialen in meiner Partei.»
Ihr Jesus-Tattoo streckt Diana Kinnert nicht bei jeder Gelegenheit in eine Kameralinse.

Es gibt unzählige Studien zu Betroffenen-Zahlen beim Thema Einsamkeit. Schwieriger messbar hingegen ist, wie Einsamkeit sich anfühlt. Was macht Einsamkeit mit den Menschen?
Einsamkeit, das sagen auch alle Forscher, ist zunächst mal ein diffuses, subjektives Gefühl. Man muss es dann abgrenzen gegen ähnliche Begriffe, etwa indem man sagt: Allein sein bedeutet, ich bin abgegrenzt von anderen, aber ich kann das für Ruhe, Kontemplation, Erholung nutzen, und es ist ein Zustand, den ich verändern kann. Einsamkeit hingegen bedeutet: Ich wünsche mir soziale Intimität, Verbindlichkeit und Austausch, erreiche aber das Niveau, das ich mir wünsche, nicht. Ich leide darunter und habe keine Aussicht auf Veränderung. Also ein dauerhafter defizitärer Zustand hinsichtlich sozialen Austausches und einer bestimmten Qualität davon. Studien zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit für Depressionen, Demenz, Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch Einsamkeit stark ansteigt. Laut einer grossen Metastudie aus Schweden haben Menschen, die sich einsam fühlen, eine um 25 Prozent erhöhte Sterblichkeit.

In Ihrem Buch heisst es ganz am Ende, der Schreib­anlass seien Ihre eigenen Symptome gewesen. Welche waren oder sind das?
Ich hatte als Baby eine Neurodermitis, die war 25 Jahre lang weg. Und nach dem Tod meiner Mutter kam sie wieder. Ich habe bei Ärzten verschiedene Salben geholt, um diese Neurodermitis zu bekämpfen, sie tauchte aber immer wieder auf. Also habe ich mich viel mit mentaler Gesundheit beschäftigt und bin darauf gestossen, dass der britische Journalist Johann Hari gesagt hat: Was die Menschen krank macht, ist Unverbundenheit. In meinem Buch untersuche ich die Unverbundenheit zu anderen Menschen. In meinem privaten Leben war es so, dass ich aus dem Koffer gelebt habe, keinen Bezug mehr zu Geld hatte, weil ich zwölfmal am Tag Taxi gefahren bin, dreimal am Tag Essen bestellt habe und dann dachte, jetzt habe ich doch keine Lust mehr dazu. Ich hatte die Bezüge verloren, auch Heimat, Bezüge zum Zuhause. Ich hatte im Partyleben tausend Freunde, aber keine fünf Freunde, denen ich sagen wollte, dass ich traurig bin wegen des Todes meiner Mutter. In dieser Unverbundenheit war ich gar nicht traurig, weil ich andere Menschen vermisst habe, sondern auf eine Art mich selber. Diese Unverbundenheit zu einem selbst ist eine der grössten Ursachen dafür, warum wir uns einsam fühlen. Das hat eben auch was mit der jungen Generation allgemein zu tun. Wenn ich zehn unbezahlte Praktika mache, all die Projekte wieder aufhören und ich mir nichts ansparen kann, dann habe ich in dieser ständigen Hetzjagd gar kein emotionales Investment, um mich mit Leuten zu verbinden.

Warum fällt es Menschen so schwer, über Einsamkeit zu sprechen?
Weil Marktwirtschaft nicht nur in Produkten und Gütern vonstattengeht, sondern immer mehr auch Menschen zu Konsum­gütern werden. Jungen Männern, die sagen, mit wie vielen Frauen sie geschlafen haben, geht es ja nicht um ernste Beziehungen, sondern ums Trophäen­sammeln. Wenn die hetero­sexuelle Frau den gut aussehenden Bachelor mit Fitness­körper hat, dann geht es um das Ausstellen von Begehrlichkeit. Wir sind in unserer Gesellschaft durchdrungen von Attraktion, Attraktivität, Begehrlichkeit, auch von Anti-Aging. Mit Jungsein und Vitalität assoziieren wir Leben und Gewinnersein. Das, was Einsamkeit assoziiert, ist genau das Gegenteil: Ich bin es nicht wert, dass Menschen mit mir befreundet sind, ich bin hässlich, ich bin dumm, ich bin sozial inkompatibel, keiner will was von mir. Unsere ganze Gesellschaft lebt von Attraktivität und so etwas wie einem sozialen Wert. Und der, der zugibt, dass er einsam ist, deklariert sich als das komplette Gegenteil.

Einsamkeit ist verknüpft mit Scham?
Ja, Einsamkeit ist eines der schamvollsten Themen in unserer Gesellschaft überhaupt. Das, was unsere Gesellschaft am meisten ersehnt, sind Sozial­helden. Es ist hundertmal salon­fähiger zu sagen: «Ich bin pleite, aber ich bin cool und ein Rockstar», als zu sagen: «Ich habe Geld, aber keiner will mit mir spielen.» Es gibt sehr viele Gründe für Einsamkeit. Aber in der Mitte der Gesellschaft wird Einsamkeit sehr schamvoll behandelt, weil es mit sozialem Versagertum assoziiert wird.

Eines der grössten Erschwernisse für soziale Teilhabe ist Armut. Neben all den psychologischen Faktoren, neben all dem Denken in Status und Wertigkeit: Verbirgt sich hinter dem Problem der Einsamkeit nicht auch ganz massiv das Problem manifester sozialer Ungleichheit?
Ich wünsche mir, dass mein Buch tatsächlich primär als Kapitalismus­kritik gelesen wird. Nicht als Kritik an sozialer Markt­wirtschaft, von der ich das Gefühl habe, sie ist in Nachhaltigkeits- und Partizipations­fragen sinnvoll eingebettet. Aber wir erleben heute einen neuen Kapitalismus mit diesen ganzen Start-ups, die mit Betriebs­räten nichts zu tun haben wollen. Und wo verschleiert wird, was zu Marx’ Zeiten galt, aber heute immer noch gültig ist, nämlich dass es ökonomische Abhängigkeit gibt. Erst wenn die erkannt und adressiert wird, wenn es unter Arbeit­nehmern tatsächlich Widerstand gibt, kann sich das ändern. Aber die aktuelle Wirtschaft ist so von Flexibilität durchdrungen, dass sie kaum Verantwortung adressieren kann. Was damals der ehrbare Kaufmann war, der über drei Generationen hinweg der Ansprech­partner für den gleichen Arbeit­nehmer war, ist heute zersetzt und fragmentiert. Deshalb ist es nicht möglich, innerhalb der alten Prozesse einen sozialen Aufstand zu proben. Wir müssen uns bewusst werden: Wir brauchen neue Instrumente, weil die alten Prozesse nicht mehr funktionieren.

Vieles von dem, was Sie eben gesagt haben, könnte doch eine Brücke sein zur politischen Linken, in Deutschland etwa zur Links­partei, die sich besonders die Armuts­bekämpfung auf die Fahne schreibt. Die Links­partei wird aber von der CDU heftig bekämpft. Sind Sie mit der Kapitalismus­kritik, die Sie eben vorgetragen haben, in der richtigen Partei?
Zu Gründungs­zeiten haben die ersten CDU-Politiker noch einen christlichen Sozialismus gefordert. Da bin ich nicht, ich bin schon bei einer sozialen Markt­wirtschaft. Aber ich bin sehr geprägt vom Christlich-Sozialen in meiner Partei. Wir haben ein ganz anderes Problem mit der Links­partei, wenn es um autoritäre Staaten, etwa Russland, geht. Aber klar: Im gemeinsamen Ziel, Armut zu bekämpfen und auch Arbeit­geber zur Verantwortung zu ziehen, bin ich natürlich dabei. Gerade wenn Arbeit­geber sich aus der Verantwortung stehlen, muss ich sie auch als Schuldige adressieren und die Arbeit­nehmer einladen, einen neuen Prozess zu entwickeln. Für mich als konservativen Menschen ist aber das Entscheidende: Ich will auf Stabilitäts­anker und auf vertrauens­volle Prozesse setzen. Wie steht es um die Gesundheit im digitalen Beruf, muss ich nachts noch ans Telefon gehen, muss ich meine E-Mails prüfen, wenn ich gar nicht im Dienst bin? Solche Sachen müssen zwischen Arbeit­nehmern und Arbeit­gebern in neuen Zünften, in neuen Betriebs­räten, in neuen Gewerkschaften ausgehandelt werden.

Fühlen Sie sich in der CDU als junge Frau manchmal auch einsam? Die Partei ist ja wieder merklich männer­dominierter geworden.
Ich bin in eine Volkspartei gegangen, weil ich identitäts­politisch nicht daran glaube, dass jeder für seine eigene Lobby kämpft. Aber natürlich, ich bin jemand, für den Diversität und Repräsentanz enorm wichtig sind, weil nur dann Lebens­bedürfnisse, Lebens­wirklichkeiten, politische Anliegen auch besprechbar werden. Wenn ich mit Leuten am Tisch sitze, die mein Alter, mein Frausein, meine Lebens­wirklichkeiten nicht nachvollziehen können, bin ich immer in der Minderheiten­position. Es gibt viele Situationen, in denen ich mir eine andere Repräsentanz und Diversität wünsche, damit alle Lebens­bedürfnisse dort Eingang finden. Gleichzeitig muss ich sagen, ich habe oft persönliche Allianzen geschlossen mit Leuten, die ganz anders waren als ich. Meine stärksten Mentoren in der Politik waren zufällig immer alte weisse Männer über 70.

Sie gelten als grosse Nachwuchs­hoffnung der CDU, sitzen aber noch in keinem Parlament. Wann kommt das?
Das weiss ich nicht. Ich habe vor drei, vier Jahren verschiedene Unternehmen gegründet, unter anderem eine Agentur für nachhaltige Städte­strategien, das heisst, einige meiner Auftrag­geber sind kommunale Verwaltungen. Ich wüsste also, in dem Moment, in dem ich aktiv politisch einsteigen würde, müsste ich meine Unternehmerschaften hinter mir lassen. Und das ist etwas, wonach mir gerade nicht ist. Ich habe Spass daran, das Unternehmen gut zu entwickeln. Und mich interessiert zum Beispiel eine Arbeit wie an dem Einsamkeits­thema; dass ich auch die Zeit und den Raum habe, das ein Stück weit zu durchdringen und es nicht nur tages­politisch zu managen. Was nicht bedeutet, dass ich das nicht erstrebens­wert finde oder es gar geringschätzen würde. Ich achte Abgeordnete sehr und halte das für einen total verdienst­vollen Job. Aber meine Laune ist einfach gerade woanders.

Wenn Sie abschliessend das komplexe Thema Einsamkeit in die berühmte Nussschale packen: Wie muss eine zeitgemässe Anti-Einsamkeits-Politik aussehen?
Sie darf nicht der naiven Idee unterworfen sein, Menschen einfach nur zusammen­zuschieben, und zu glauben, dann entstehen Verbindlichkeit und Intimität. Sondern sie muss sich der Ursachen gewahr werden, warum wir Intimität und Verbindlichkeit nicht mehr wagen. Und sie muss erkennen, dass es etwas mit ökonomischen Strukturen zu tun hat. Das müssen wir in der Ursachen­bekämpfung kapitalismus­kritisch aufgreifen, um eine schlauere soziale Markt­wirtschaft zu bauen, die in die Zeit passt.

Zum Buch

Diana Kinnert, Marc Bielefeld: «Die neue Einsamkeit. Und wie wir sie als Gesellschaft überwinden können». Hoffmann und Campe, Hamburg 2021. 448 Seiten, ca. 21 Franken.