Was wir wissen müssten, um zu wissen, ob offene Schulen die Pandemie antreiben
Aus pädagogischer Sicht ist Präsenzunterricht sinnvoll, keine Frage. Doch für eine sachliche Debatte um Corona-Schutzmassnahmen braucht es einen nüchternen Blick auf die Daten – und von denen mehr und verlässlichere.
Von Marie-José Kolly, 01.02.2021
Die Frage, wie stark Kinder und Jugendliche zur Verbreitung von Sars-CoV-2 beitragen, ist so alt wie die Pandemie selbst. An Medienkonferenzen im Frühling erklärte Daniel Koch, damals Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten des Bundesamts für Gesundheit: Kinder und Schulen seien nicht die Treiberinnen der Epidemie.
Journalistinnen hakten nach, fragten anders, Daniel Koch blieb dabei: «Mit Sicherheit kann man sagen: Die Kinder sind nicht die Haupttreiber dieser Epidemie.» Am 17. April sagte er, viele Kinder seien auch gar nicht infiziert. Und von Infektiologen wisse man, dass Kinder in der Regel durch ihre Eltern infiziert würden, nicht umgekehrt.
Als Begründung hierfür dienten unter anderem die offiziellen Statistiken – die sogenannten Fallzahlen und die Inzidenz in den Altersgruppen:
Schon klar: Seit dem Frühling haben wir alle einiges dazugelernt. Insbesondere, dass solche Zahlen die Ansteckungen bei Kindern dramatisch unterschätzen: Kinder werden typischerweise nicht getestet, weil sie häufig keine Symptome haben. Sie können infiziert sein, das Virus reproduziert sich in ihren Zellen, das Virus ist in ihrem Rachen, aber sie fühlen sich nicht krank, husten nicht, niesen nicht. Man muss also anders messen.
Seit kurzem häufen sich die Covid-19-Ausbrüche an Schulen auch in der Schweiz, und dabei spielt auch die neue Virusvariante mit, die zunächst in Grossbritannien entdeckt worden war.
Doch wie stark Schulen zum globalen Infektionsgeschehen beitragen, ist nach wie vor umstritten. Weil es schwierig ist, das zu untersuchen, und vielleicht auch, weil viele nicht epidemiologische Interessen – von Erwachsenen, von Jugendlichen, von Kindern – selbstverständlich für Präsenzunterricht an Schulen sprechen.
Die epidemiologische Frage muss aber erst einmal unabhängig von diesen Interessen gestellt werden.
«Schulen offen zu halten und sichere Strategien zu finden, um das zu tun, sollte priorisiert werden», schrieb die Molekular-Epidemiologin Emma Hodcroft Anfang dieses Jahres. «Aber das bedeutet, Abstand zu nehmen von dem Narrativ, dass sich Kinder nicht mit Sars-CoV-2 infizieren und dass Schulen das Virus nicht verbreiten. Wir können nicht angemessen handeln, solange wir das Problem nicht anerkennen.»
Was man betrachten muss, um die umstrittene Frage zu beantworten:
Wie exponiert Kinder und Jugendliche sind.
Wie häufig sie sich infizieren, wenn sie exponiert sind.
Und wie oft sie das Virus an andere übertragen, wenn sie infiziert sind.
Die aktuelle Situation fühlt sich so diffus an, weil sie es ist: Wer wann und wo wen angesteckt hat und mit welchen Folgen – das wissen wir in sehr vielen Fällen schlicht nicht, auch bei den symptomatischen Erwachsenen nicht. Studien aus verschiedenen Ländern, mit verschiedenen Massnahmen, zu verschiedenen Zeitpunkten sind schwierig zu vergleichen.
1. Wie stark exponiert sind Kinder und Jugendliche?
In den frühen Phasen der Epidemie waren es zunächst erwachsene Reisende, die das Virus in die Haushalte trugen. So beobachtete man, dass Kinder weniger häufig Erwachsene ansteckten als umgekehrt. Und bald schon waren die Schulen und Kindergärten zu, sodass Kinder und Jugendliche gar keine Möglichkeit mehr hatten, Sars-CoV-2 nach Hause zu bringen.
Seit dem Schulbeginn im Herbst sind aber Kinder viel exponierter. Das britische Pendant zur schweizerischen Science-Taskforce, die Scientific Advisory Group for Emergencies, beobachtet, dass im Herbst und im Winter junge Leute – zwischen 2 und 16 Jahre alt – viel häufiger die erste infizierte Person in ihrem Haushalt waren als 17-jährige oder ältere Personen.
Das sagt uns noch nichts Allgemeingültiges dazu, ob in Umständen, die wir mittlerweile «Normalität» nennen – Umstände ohne pandemiebedingte Einschränkungen –, Kinder oder Erwachsene dem Virus häufiger ausgesetzt sind. Aber es zeigt, wie stark die jetzt herrschenden Umstände mitbeeinflussen, was sich in den Daten niederschlägt.
2. Wie häufig infizieren sich Kinder?
Eine andere Frage ist, wie häufig sich jemand, der dem Virus ausgesetzt war, auch ansteckt. Noch nicht publizierte Daten aus isländischen Massentests sowie Kontaktdaten aus China suggerieren, dass sich exponierte Kinder weniger oft anstecken als Erwachsene. Zu diesem Schluss kommt auch eine grosse Metastudie, die mehrere Untersuchungen zusammenfasst. Nur: All diese Untersuchungen stützen sich auf das Infektionsgeschehen im Frühling.
Neueste Resultate aus verschiedenen Ländern zeichnen ein anderes Bild:
Forscherinnen aus Genf haben die Seroprävalenz in der Bevölkerung – also den Anteil derer, die Antikörper gegen das Coronavirus haben – zu mehreren verschiedenen Zeitpunkten gemessen, zuletzt zwischen dem 23. November und dem 23. Dezember. Autorin Silvia Stringhini, Epidemiologin am Universitätsspital Genf, sagt zu den Resultaten: «Die Seroprävalenz ist bei den Kindern, die älter als 6 sind, praktisch identisch mit der bei der generellen Bevölkerung.» Auch wenn sie meist nicht schwer krank würden, so infiziere das Virus die 6- bis 18-Jährigen etwa gleich häufig wie Erwachsene – und auch Kinder unter 6 Jahren seien nicht viel weniger betroffen.
Die niedrigere Seroprävalenz bei den über 75-Jährigen liegt vermutlich einerseits daran, dass Personen aus dieser Altersgruppe ihre Kontakte noch stärker eingeschränkt haben – oder eingeschränkt sahen, weil viele von ihnen in einem Altersheim leben. Andererseits wird die Immunantwort mit zunehmendem Alter schwächer: Ältere Menschen bilden bei einer Erkrankung – oder Impfung – weniger schützende Antikörper als jüngere.
Die Genfer waren schon im April getestet worden. Damals wiesen die 0- bis 9-Jährigen bedeutend weniger oft Antikörper auf, 10- bis 19-Jährige aber etwa gleich häufig wie 20- bis 49-Jährige. Nur: Damals war gerade Shutdown. Erst am 11. Mai kehrten Schüler und Lehrerinnen in die Klassenzimmer zurück. So sagt auch die Epidemiologin Stringhini: Dass sich dieses Bild so stark von dem der ersten Welle unterscheide, liege vermutlich daran, dass die Schulen während der zweiten Pandemiewelle geöffnet blieben.
Ähnliche Resultate gibt es aus österreichischen Massentests: «Kinder spiegeln ganz eindeutig das Infektionsgeschehen um sie herum wider», sagte der Wiener Mikrobiologe Michael Wagner zum ARD-Magazin «Panorama». Was in der Gesellschaft passiere, finde auch in den Schulen statt, so schlügen sich etwa regionale Unterschiede auch in Schulen nieder. Primarschülerinnen und Lehrer seien ungefähr gleich häufig infiziert wie andere.
Die Ciao-Corona-Studie mit Zürcher Schulkindern beobachtet ebenfalls, dass es unter Lehrerinnen und Schülern ungefähr gleich viele Infektionen gebe wie bei der allgemeinen Bevölkerung, und ähnliche Resultate gibt es auch aus Grossbritannien. In Israel dagegen fand man sogar, dass Kinder stärker betroffen waren als Erwachsene.
3. Wie stark übertragen Kinder das Virus?
Ist man erst einmal infiziert, gibt man das Virus dann auch weiter? Hier können, was Kinder betrifft, mehrere Aspekte ins Spiel kommen:
Wie viel Viruslast sich überhaupt im Rachen von Kindern befindet.
Wie krank Kinder werden – ob sie also das Virus aushusten oder ausniesen.
Wie gross das Lungenvolumen der Kinder ist.
Wie sich Kinder verhalten: Wie oft sie etwa ihre Mitschülerinnen umarmen, ihre Eltern. Wie viele Kontakte sie haben und wie nahe sie ihnen kommen.
Die Viruslast hat Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité in 3303 Infizierten untersucht. «Es ist da kein Unterschied» zwischen Kindern und Erwachsenen, sagt Drosten. Zumindest nicht, wenn man Gleiches mit Gleichem vergleicht, das heisst: Proben, die aufgrund ähnlicher Testkriterien entstanden.
Die Daten in der Grafik stammen aus der frühen Phase der Pandemie, als via Contact-Tracing noch ganze Cluster getestet wurden – Erwachsene wie Kinder. Später, als nur noch symptomatische Personen getestet wurden, ergab sich ein kleiner Unterschied in den Daten von Drosten und seinem Team: Bei Kindern fanden sie etwas weniger Viruslast. Aber diese Daten seien verzerrt, sagt der Virologe. Denn damals stammten die (wenigen) Kinder-Testproben von denen, die schwerer erkrankt und oft schon im Spital waren – typischerweise befanden sie sich schon in der zweiten Krankheitswoche, wo sich bei einem Abstrich schon weniger Virus zeigt. Unter den Testproben von Erwachsenen dagegen waren mehrheitlich solche, die sich aufgrund von Symptomen hatten testen lassen – Symptome, welche viele Kinder eben nicht haben.
Dass sie oft keine Symptome haben, könnte für Übertragungen eine Rolle spielen, muss es aber nicht: Bei manchen Infektionskrankheiten ist die Stärke der Symptome tatsächlich ausschlaggebend dafür, wie ansteckend jemand ist – jedoch bedeute «die Absenz von Symptomen nicht zwingend niedrigere Virusausscheidung», schreiben Virologe Christian Drosten und seine Co-Autorinnen.
Auch das Lungenvolumen könnte das Infektionsgeschehen mitbestimmen: Eine kleinere Lunge atmet vermutlich weniger Viruslast aus. Bei der Tuberkulose etwa spielt das eine Rolle, bei Sars-CoV-2 ist es noch unklar.
Kontakte haben Schulkinder tendenziell mehr als Erwachsene, und Abstandsvorschriften sind für sie schwieriger einzuhalten: beim Spielen sowieso, und in einem Klassenzimmer à 25 Schülerinnen ebenfalls. «Das ganze Verhalten der Kinder spricht dafür, dass sie mehr [Viruslast] abgeben müssen», sagte Virologe Drosten in seinem Podcast.
Kinder können also das Coronavirus übertragen, und sie tun es auch. Aber tun sie es weniger, gleich viel oder gar mehr als Erwachsene?
Das ist nicht klar. Es gibt etliche Studien und Artikel dazu, veraltete, neue, mit kleinen oder grossen Probandenzahlen, adäquateren oder fraglicheren Methoden. Aktuelle Daten aus Grossbritannien zeigen zum Beispiel: Wenn der erste Infizierte in einem Haushalt zwischen 2 und 16 Jahre alt ist, ist die Chance einer Ansteckung der anderen Mitglieder gut zweimal höher, als wenn der erste Infizierte eine ältere Person ist. In New York dagegen beobachtete man, dass Kinder das Virus zweimal weniger als Erwachsene übertragen, Jugendliche aber mehr als Kinder. In Österreich geben es Jugendliche sogar öfter weiter als Erwachsene.
Und in der Schweiz? Ein Anruf bei den Contact-Tracern in Zug, der Mediensprecher Aurel Köpfli antwortet: «Wir stellen durchaus auch Ansteckungen an Schulen fest. Aber beim Contact-Tracing können wir für 50 Prozent der Fälle nicht auf den Ansteckungsort zurückschliessen. So kann man auch keine Aussage darüber machen, ob Kinder häufiger oder weniger häufig übertragen. Unsere Daten lassen schlicht keine Aussage zu.»
Wer ist der Indexfall? Wer also jeweils das Virus in den Haushalt eingeschleppt habe, das sei die grosse Frage. Wenn das Kind keine Symptome habe, sei das schwierig zu ermitteln.
Was ist jetzt mit den Schulen?
Die frühen Aussagen von Daniel Koch halten nicht stand: Dass Kinder und Schulen im Infektionsgeschehen wenn nicht die Hauptrolle, dann doch zumindest eine Rolle spielen, ist nicht nur plausibel, es ist auch deutlich sichtbar.
Etwa daran, dass die Infektionen bei Kindern im Schulalter in Deutschland und in Grossbritannien rascher sanken als bei anderen Altersgruppen, nachdem man die Schulen geschlossen hatte – im Winter, aber auch schon im Frühling.
Oder daran, dass in der Schweiz die Fallzahlen stiegen, nachdem die Schulen geöffnet hatten, «trotz verschärfter Massnahmen», schreibt der «Tages-Anzeiger». Dabei spielt auch die damit einhergehende Zunahme der Mobilität eine Rolle.
Oder daran, dass mehrere Studien, die länderübergreifend Massnahmen vergleichen, beobachten: Schulschliessungen sind hocheffizient.
Das alles heisst jetzt nicht, dass Kinder nun wochenlang keinen Unterricht bekommen sollten.
Aber es heisst, dass man die Situation mit den richtigen Methoden und Stichprobengrössen regelmässig monitoren sollte. Virologe Drosten schlug etwa vor, dass man Lehrer jede Woche testet – egal, ob sie Symptome haben. Betrachtet man Schulen erst, wenn ein Ausbruch schon da ist, hat man dasselbe Problem wie beim Testen der symptomatischen Patientinnen: Man übersieht Kinder und Jugendliche, die zwar infiziert, aber nicht krank sind. Das mag für die Klasse und für die Schule meist kein grosses Problem sein. Aber auch asymptomatische Kinder schleppen das Virus in ihr Zuhause ein.
Es heisst auch, dass Schutzmassnahmen an Schulen zentral sind: 25 maskenlose Kinder mit zwei Praktikanten und einer Lehrerin in einem schlecht gelüfteten Raum, das birgt Potenzial für Übertragungen. Masken – auf Kindergesichter zugeschnitten – für alle Jahrgänge könnten das Potenzial zumindest verringern.
Es heisst ebenfalls, dass alternative Unterrichtsformen sinnvoll wären: Halbklassenunterricht etwa, oder Fernunterricht mit Schularbeitsplätzen für Kinder, die daheim keinen solchen haben.
Wir wissen, dass sich neue, virulente Varianten von Sars-CoV-2 verbreiten und dass sie vor Kindern nicht haltmachen. Dass die Kinder exponiert sind, infiziert werden können und das Virus weiterverbreiten. Die Frage ist nur, wann und wo das als Nächstes geschehen wird.