Eyes Wide Shut – Folge 8

Same Shit, Different Age

Von vergifteten Brunnen über Kinderblut trinkende Eliten bis zum Finanzkapital an der US-Ostküste: Antisemitismus bildete schon immer den Kern von Verschwörungstheorien – bis heute und auch bei Corona. Serie «Eyes Wide Shut», Folge 8.

Von Daniel Ryser, Olivier Würgler (Text) und Matthieu Bourel (Illustration/Animation), 29.01.2021

Wer noch sagt, «Wehret den Anfängen», begreift nichts.

Michel Friedman.

Wir surfen durch das Netz und stossen auf den Tweet einer jungen jüdischen Journalistin aus Salzburg. «Ich hatte bis jetzt nie wirklich Angst vor Antisemitismus in Österreich», retweetet Julia Stallinger eine Kollegin. «Nicht vor der FPÖ, nicht vor den Identitären, nicht vor ‹muslimischem Antisemitismus›. Aber das Revival antisemitischer Verschwörungs­theorien durch Corona-Leugner macht mir ehrlich Angst.»

Wir schreiben ihr eine Mail.

Die 23-Jährige studiert jüdische Kultur­geschichte und produziert gleichzeitig die wöchentliche Radio­sendung «Maschehu – Mischehu» über innerjüdische Diversität.

«Ich würde mich dem Statement anschliessen», sagt Stallinger. «So fühle ich. Es drückt sehr gut aus, wie es vielen Jüdinnen und Juden in Österreich geht. In Salzburg ist das jüdische Leben leider fast unsichtbar, dementsprechend ist Antisemitismus zum Glück hier ein kleines Thema.»

Aber im übrigen Österreich sehe man, dass sich Spannungen entwickelten, dass Menschen ahistorische Dinge reproduzierten, die auf antisemitischen Theorien basierten.

Auch ihr selbst gegenüber würden sich schnell unangenehme Spannungen entladen, wenn sie Leuten im Gespräch sage, dass sie es falsch finde, sich mit Sophie Scholl gleichzusetzen, oder dass sie solche Vergleiche als Jüdin verletzten und es einfach nicht richtig sei. «Man merkt auf einmal, dass die Spannung grösser ist als in den Jahren zuvor, und dass auch die Stimmen lauter werden, die solche Dinge reproduzieren, dass sie wütender werden, und das ist besorgniserregend.»

Die Menschen würden sich immer öfter lautstark über die Regierung echauffieren, die Corona-Massnahmen kritisieren, und dabei fielen Vergleiche mit der DDR oder mit dem Holocaust, auch häufig im Gespräch mit ihr, ohne dass die Leute realisierten, dass sie Jüdin sei. «Wenn man den Menschen ihre Aussagen entgegnet, werden sie schnell aggressiv oder verharmlosend, indem sie sagen, das sei doch gar nicht antisemitisch», sagt Julia Stallinger. «Sie sehen deinen Punkt gar nicht. Sie sehen sich zum Teil dermassen in einer Opferrolle, dass sie wirklich das Gefühl haben, sie leben in einer Art NS-Regime, und dementsprechend gross ist dann die Aggression, wenn man das kontert.»

Sie habe festgestellt, dass es bei vielen Menschen nicht ausreiche, ihnen zu erklären, warum ein historischer Vergleich dieser Dimension nicht richtig sei, «sondern dass ich es ihnen auch aus meiner persönlichen Situation heraus erklären muss, warum es verletzend ist, warum das Menschen schädigt, und warum das vielleicht sogar unsere Demokratie schädigen kann».

Viele Menschen glaubten sich offenbar in der Vorstufe der eigenen Vernichtung, sagt Julia Stallinger. Auch wenn dieser Vergleich komplett an den Haaren herbeigezogen sei, zeige er, wie viel Angst und Verunsicherung sich in diesen Kreisen breitmache, und das wiederum offenbare ein Potenzial für Radikalisierung. «Das macht mir nicht nur Angst, weil da viele Rechts­radikale dabei sind», sagt sie. «Es macht mir vor allem auch Angst, weil so viele Nicht-Rechtsradikale bereit sind, mit Rechtsradikalen zu marschieren.»

Zur Serie «Eyes Wide Shut»

Wieso ist Verschwörungs­glaube während der Pandemie plötzlich allgegen­wärtig? Woher kommt er, wie wirkt er, was richtet er an? Zum Auftakt der Serie.


Wir treffen uns mit Christina Späti, Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Fribourg mit Forschungs­schwerpunkt Holocaust und Antisemitismus. Denn gewisse Begriffe, die uns in den letzten Monaten tausendmal begegnet sind, in Telegram-Chats, auf Youtube, an Kundgebungen, riechen auch auf hundert Meter gegen den Wind nach Antisemitismus: das Bild der verschwörerischen Rothschild-Familie, der Ritualmord an Kindern als Hauptmotiv bei der QAnon-Bewegung, die Vergleiche an den Corona-Protesten mit den Dreissiger­jahren in Deutschland. Menschen, die sich in einer Traditions­linie mit Sophie Scholl oder Anne Frank sehen, weil sie sich gegen die Corona-Massnahmen engagieren.

«Diese Ritualmord-Geschichten zum Beispiel», sagt Späti, «sind eines der klassischen antijüdischen Stereotype. Die Legende entsteht im Mittelalter: Juden opfern christliche Kinder, bringen sie um, damit sie ihr Blut trinken können, um sich zu stärken. Gegen Ende des 19. Jahr­hunderts gibt es vor allem im östlichen Teil Europas viele Pogrome, die auf diese Vorstellung zurückgehen. ‹Der Stürmer› hat im Mai 1934 eine Sonder­nummer publiziert zum Ritualmord. Er wurde als Argument benutzt, um den Holocaust zu rechtfertigen.»

Wir erzählen Späti von einem Gespräch mit einem Verschwörungs­theoretiker, der uns sagte, nur weil er gegen George Soros und die Rothschild-Familie sei, sei er kein Antisemit. Er sei schliesslich auch gegen Hillary Clinton und das britische Königshaus und einfach alle Eliten, die versuchten, uns zu steuern.

«Rothschild, das ist ein klassischer antisemitischer Code, der auf die ersten Finanz­krisen Ende des 19. Jahr­hunderts zurückgeht», sagt Späti. «Nach dem Holocaust kommt es zu einer Tabuisierung des Antisemitismus. Gewisse Dinge konnte man nicht mehr sagen. Also benutzte man jetzt Codes. Man sprach dann von der Ostküste, von New York, dem dortigen Finanz­kapitalismus. Von Israel. Von den Rothschilds oder den Zionisten. Man hat den Begriff Jude durch diese Codewörter ersetzt. Wenn man diese Codes benutzt, ist es antisemitisch. Was nicht zwingend heisst, dass derjenige, der sie benutzt, ein Antisemit ist. Es ist nicht dasselbe.»

«Als man vor 1945 noch offen antisemitisch sein konnte, wussten alle, worum es geht: Die Juden, das sind die Kapitalisten, die Sozialisten, die sind schuld an der Russischen Revolution. Und so weiter.» Mit der Tabuisierung habe man auch gemeint, der Antisemitismus sei verschwunden.

«Aber er verschwindet nicht», sagt die Historikerin. «Er bleibt. Er überlebt in Codes. Manche wissen heute, was gemeint ist, wenn man Ritualmord sagt, dass es mit Juden verbunden ist. Andere wissen es nicht. Aber die Ideen sind immer noch vorhanden. Man verbindet sie nicht mehr zwingend mit Jüdinnen und Juden, weil gewisse Leute kein klares Wissen mehr haben. Aber die antisemitischen Bilder existieren weiter.»

Durch die Tabuisierung sei auch das Bewusstsein über Antisemitismus ein Stück weit verloren gegangen, sagt Späti. «So halb ist er immer noch hier, aber wenn er kommt, erkennt man ihn nicht unbedingt. Zum Beispiel wie damals bei den Juso, als sie vor ein paar Jahren im Zusammenhang mit der Antispekulations­initiative eine Karikatur posteten: Es war sehr klar, dass damit ein jüdischer Finanz­kapitalist gemeint war. Sie haben es nicht gemerkt. Das zeigte: Die Bilder werden weiter transportiert. Und sie werden gar nicht mehr immer mit Antisemitismus verbunden. Aber sie sind es.»

Später googeln wir das Bild. Es zeigt einen orthodoxen Juden mit schwarzem Hut und Zapfen­locken, der vom Bundesrat einen «Löffel für die internationale Finanz­lobby» in den Mund geschoben bekommt.

«Der an die Juden gerichtete Vorwurf der Verschwörung ist das zentrale Motiv im Antisemitismus», sagt Späti. «Es ist gleichzeitig auch das Motiv, was den Antisemitismus von anderen Formen von Rassismus unterscheidet: Juden werden als übermächtig dargestellt, im Gegensatz zum Kolonial­rassismus, wo man die Schwarzen abgewertet hat und das immer noch tut. Man hätte sich beispielsweise niemals eine Verschwörung von Schwarzen vorstellen können.»

In der Verschwörungs­ideologie würden die sich eigentlich zum Teil widersprechenden verschiedenen antisemitischen Stereotype zu einem grossen Ganzen verbunden: der Jude als Kapitalist. Der zugleich auch die subversiven Kommunisten steuere und die Medien kontrolliere.

Ein zentrales Motiv in der Geschichte der Juden­feindlichkeit sei die Vorstellung, dass die Juden die Römer dazu gedrängt hätten, Jesus zu ermorden. Die Juden als Gottesmörder.

Als Vorläufer des modernen Antisemitismus habe es im Mittelalter bereits Anti­judaismus gegeben. Man schrieb den Juden Dinge zu, die man nicht habe erklären können. Als die Pest ausgebrochen sei, beispielsweise. Die Juden hätten die Brunnen vergiftet.

«Ein Vorläufer heutiger Verschwörungs­theorien», sagt Späti. «Es gab zu dieser Zeit immer wieder antijüdische Pogrome und Vertreibungen, auch in Zürich. Hier wurden sie auch vertrieben unter Rudolf Brun. Ab dem 19. Jahr­hundert wird der Anti­judaismus mit vielen neuen Narrativen kombiniert und formiert sich zu einer Art Weltanschauung.»

Späti unterscheidet klar zwischen dem mittelalterlichen Anti­judaismus und dem heutigen Antisemitismus: Es sei wichtig, zu verstehen, «dass man von Verschwörungs­theorien, wie wir sie heute kennen, erst sprechen kann, nachdem Gott nicht mehr als zentraler Urheber von allem gesehen wurde», sagt Späti. «Für die mittelalterlichen Menschen war es unvorstellbar, dass jemand ausser Gott alle Fäden in den Händen hielt. Dann kam die Aufklärung. In der Neuzeit, wo man sich nun vorstellen konnte, dass der Mensch selber in die Geschichte eingreift, ab diesem Moment konnte man auch auf die Idee kommen, dass er sich derart mächtig verschwören kann. Vieles, was neu war in der Welt und man nicht verstehen konnte, brachte man mit den Juden in Verbindung. Die ersten Finanz­krisen im Kapitalismus. Irgendjemand musste schuld sein, so wie im Mittelalter bei der Pest.»

Ein weiterer Hauptfaktor, der zum modernen Antisemitismus geführt habe, sei die Herausbildung der Nationalstaaten im 19. Jahr­hundert und die damit verbundene Vorstellung der Nations­losigkeit der Juden, sagt Späti.

«Eines der grossen Probleme des aufkeimenden Nationalismus des 19. Jahr­hunderts war, dass die Juden irgendwie nirgendwo dazugehörten. Sie bildeten keine Nation. Sie hatten keine Nation. Hatten keinen National­staat. Und sie hatten lange auch keinen angestrebt. Das empfand man als unheimlich. Die Deutschen hatten Vorurteile gegenüber den Franzosen. Sie führten 1870 und 1871 Krieg gegeneinander, und da standen sich nationale Stereotype gegenüber. Die Juden waren immer etwas Drittes. Mit der Nations­losigkeit war immer auch der Vorwurf der Illoyalität verbunden. Deswegen ging man davon aus, dass Juden keine guten Deutschen sein können, im Gegenteil, eher sogar Verräter gegenüber der deutschen Nation. Eine kleine Gruppe gegen das Grosse. Und da sind wir beim Kern von Verschwörungstheorien.»

Wenn man der Forscherin zuhört, scheint der Antisemitismus an den Protesten gegen die Corona-Massnahmen allgegenwärtig zu sein.

«Die Verschwörungs­theorien sind das eine», sagt sie. «Aber dann sind ja noch diese ständigen Vergleiche mit dem National­sozialismus. Der Slogan ‹Impfen macht frei› beispiels­weise: eine Anlehnung an den Nazispruch ‹Arbeit macht frei›, der über den Toren verschiedener Konzentrations­lager hing. Oder wenn sich die Leute den Judenstern auf ihre Atem­schutz­masken kleben: Die Juden mussten zwecks Diskriminierung im Dritten Reich einen Davidstern tragen. Sie sollten als Menschen zweiter Klasse kenntlich gemacht werden. Eine Ausgrenzung, bis hin zum Punkt, dass man wusste, wen man umbringen muss. Bei der heutigen Masken­pflicht geht es nicht um Diskriminierung. Der Staat verpflichtet einen zu etwas, was einem vielleicht nicht in den Kram passt. Aber es steht in keiner Weise in einem Verhältnis zu den Vorgängen in der Nazidiktatur. Das ist eine krasse Relativierung des National­sozialismus.»

Wir fragen die Historikerin, was sie davon hält, dass die «Freunde der Verfassung», die erfolgreich das Referendum gegen die Corona-Massnahmen ergriffen haben, von einem «Ermächtigungs­gesetz» sprechen.

«Die Ermächtigung, das waren die verschiedenen Massnahmen, die von den Nazis getroffen wurden, um Deutschland zu einer Diktatur zu machen», sagt Christina Späti. «Es waren verschiedene Schritte. Alles ist relativ schnell passiert: die Gleichschaltung. Das Verbot der Gewerkschaften. Das Verbot von zivil­gesellschaftlichen Organisationen. Die Ermächtigung war die rückwirkende rechtliche Legitimierung für den National­sozialismus, der Umbau der Weimarer Republik in einen totalitären Staat. Wenn man die heutige Zeit vergleicht mit der schlimmsten Zeit, dem Höhepunkt des Antisemitismus in Europa, dann bedeutet das eine Relativierung der national­sozialistischen Verbrechen und ist nichts anderes als zutiefst antisemitisch.»

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