Das umgestimmte Klavier
Der Zürcher Komponist Edu Haubensak hantiert virtuos mit einem radikalen musikalischen Mittel: der Stimmung.
Von Peter Révai (Text) und Joël Hunn (Bilder), 26.01.2021
Klaviertöne wabern, als kämen sie von verstimmten Instrumenten, die zu lange im Durchzug gestanden sind. Wer die schiefen Klangkaskaden hört, könnte auch den Eindruck bekommen, auf einem wankenden Schiff mit Klavierbegleitung statt in einem der renommiertesten Konzertorte der Welt zu sitzen. Doch wir befinden uns im Grossen Saal des Wiener Konzerthauses, der seit Anfang des letzten Jahrhunderts schon öfter Schauplatz für bahnbrechende, historische Aufführungen gewesen ist, zum Beispiel für Werke von Arnold Schönberg oder Anton von Webern.
Jetzt dient er dem Zürcher Komponisten Edu Haubensak als Plattform. In Wien erfolgte die erste integrale Aufführung seines gigantischen zehnteiligen Klavierzyklus «Grosse Stimmung I–X», der wegen der speziell gestimmten Tasteninstrumente für bisher nie gehörte Schwingungen, Färbungen, Nuancen, Aggregatzustände und Zeitempfindungen sorgt.
Nur schon logistisch ist die Aufführung der «Grossen Stimmung» eine monumentale Herausforderung. Das ganze Parkett des Konzertsaals wurde extra von der Bestuhlung befreit und durch eine Legion von speziell gestimmten Konzertflügeln ersetzt. Diese mussten zunächst aus der Schweiz in die österreichische Hauptstadt gekarrt und anschliessend vor Ort feingetunt werden. Dem Publikum blieben die Ränge und die Bühne vorbehalten, sodass es den musikalischen Schauplatz mit obligatem Covid-Abstand umrahmen konnte.
Verkehrte Welt, aber anders ist Haubensaks Monumentalwerk gar nicht umzusetzen. Da jedes der zehn zwischen 1989 und 2005 entstandenen Stücke für eine bestimmte Stimmung geschrieben ist, braucht es zehn verschiedene Flügel, um das Werk integral aufzuführen. Eigentlich hätte die Premiere im vergangenen Sommer an der Ruhrtriennale erfolgen sollen, sie fiel aber wegen des generellen Covid-Aufführungsstopps ins Wasser. Jetzt klappte es am Wiener Festival für zeitgenössische Musik – mit Masken- und Distanzpflicht. Nur ein Bruchteil der im Rahmen von «Wien Modern» zum Festivalthema «Stimmung» geplanten Werke konnte überhaupt zur Aufführung gelangen, darunter eben die «Grosse Stimmung».
Wenige Komponisten haben sich so intensiv mit Stimmung im allerbuchstäblichsten Sinn auseinandergesetzt wie der Zürcher Edu Haubensak. Es ist der Schlüsselbegriff zu seinem Lebenswerk. Um neue, bisher noch nie gehörte Klangwelten zu kreieren oder, wie Haubensak sagt, «zu erforschen», widmet er sich seit über 30 Jahren den Stimmungen, respektive eben den Verstimmungen. Haubensak ist der Meister nicht der Halb-, sondern der Drittel-, Viertel-, Achtel- oder noch feineren Zwischentöne; jener Klangnuancen und Tonintervalle also, welche die meisten Hörer zunächst nur als «verstimmt», «unrein» oder als fremd und exotisch wahrnehmen.
Worin liegt überhaupt der Sinn, mit allerkleinsten Frequenzunterschieden kompositorisch umzugehen und auf diese Weise komplexe Klanguniversen zu konstruieren?
Um das zu beantworten, muss man mit der Gegenfrage anfangen: Warum sind die Tonfolgen und Intervalle eines konventionell gestimmten Musikinstrumentes überhaupt so festgelegt, wie sie es in unseren Breitengraden nun einmal sind? Was geschieht, wenn man beginnt, die eigentlichen Grundstrukturen des musikalischen Kosmos zu modifizieren? Wie unantastbar sind die Grundlagen unserer Klangwelten?
Um Haubensaks «Verstimmungen» zu verstehen, muss man sich erst einmal einen Begriff davon verschaffen, worin diese Grundlagen überhaupt bestehen. Beginnen wir also mit einem kleinen Exkurs über die Basis der Harmonik – und wie sie sich im Lauf der Geschichte verändert hat.
Ein Resonanzkörper von «Gottes Hand»
Ein einzelner Klang ist stets die Summe seiner Teiltöne. Aus der Mischung der Teiltöne ergibt sich im Wesentlichen eine bestimmte Klangfarbe, die zum Beispiel charakteristisch ist für die Stimme eines Menschen oder für den spezifischen Ton eines Musikinstruments. Der Abstand zwischen zwei Tönen wird Intervall genannt. Auch dieses lässt sich präzis definieren durch das Verhältnis der Frequenzen, also der Geschwindigkeiten, mit denen Luftmoleküle zum Schwingen gebracht werden. So ergeben etwa zwei Schwingungen im Verhältnis von 2:3 ein Intervall, das als reine Quinte bezeichnet wird.
Vom Altertum bis ins Mittelalter wurden in Europa die reinen Intervalle als das klangliche Ideal empfunden. Es wurde mit einem Stimmungssystem musiziert, das nur aus reinen Intervallen bestand, auch deshalb, weil es mit seinen reinen Proportionen die kosmische Harmonie und somit die «natürliche» Ordnung des Weltalls widerspiegeln sollte.
Grundlage zu dieser Theorie war die Denkweise des griechischen Philosophen und Mathematikers Pythagoras. Zahlen galten ihm als der Urgrund von allem Seienden. Das Universum war demzufolge nichts anderes als ein von «Gottes Hand» geschaffener Resonanzkörper, der sich nach den Zahlenproportionen in Schwingung bringen liess. Die einfachen ersten Teilungsverhältnisse wie Oktave, Quinte und Quarte – also Frequenzen im Verhältnis 1:2, 2:3, 3:4 – ergaben Konsonanzen, kompliziertere Brüche wurden als Dissonanzen betrachtet. Die damalige Musik bestand deshalb nur aus reinen, konsonanten Akkorden und sollte einstimmen in die Sphärenharmonie.
Diese schöne harmonische Welt bekam es jedoch mit einem Problem zu tun: Es gibt Intervalle, die keine reinen Proportionen haben und dennoch spannend klingen für das menschliche Ohr. In besonderem Mass gilt das für die Terz, das Intervall, das etwa aus der heutigen Unterhaltungsmusik überhaupt nicht mehr wegzudenken ist. Im Lauf der Jahrhunderte setzte sich ihr Einbau ins konsonante System durch, obwohl sie nach pythagoräischer Lehre als dissonantes Intervall galt.
Diese Umpolung nahm viel Zeit in Anspruch, sollte aber schliesslich dazu führen, dass sich in der europäischen Musik mit dem sogenannten «temperierten» System eine neue Stimmung durchsetzte. Seit dem Barock ist sie weltweit dominierend. Zum einen integriert die wohltemperierte Stimmung die Terz als konsonantes Intervall. Zum anderen hat sie den enormen Vorteil, dass die Frequenzen aller ihrer Töne äquidistant respektive im gleichen Abstand voneinander entfernt sind: Das bedeutet, dass diese Stimmung die Oktave physikalisch exakt gleichmässig in zwölf Halbtöne aufteilt. Im Gegenzug kennt sie jedoch mit Ausnahme der Oktave überhaupt kein reines Intervall mehr und hat mit den reinen Proportionen der Sphärenharmonien nichts mehr am Hut.
Die Temperierung hat aber einen enormen praktischen Vorteil. Auf einem rein gestimmten Tasten- oder Lauteninstrument konnte man nur wenige Tonarten intonieren, aber die leicht unreine, temperierte Stimmung eröffnete ganz neue Möglichkeiten. Plötzlich liessen sich auf einem Instrument alle Tonarten spielen, ohne falsch zu klingen. Die Abweichungen von den reinen Intervallproportionen sind so klein, dass sie kaum wahrgenommen werden. Exemplarisch dafür steht etwa die Kompositionssammlung «Das Wohltemperierte Klavier», worin Johann Sebastian Bach sämtliche Tonarten auf demselben Instrument zu Ehren kommen lässt. Heute haben wir sie in unsere Hörgewohnheiten ohnehin vollständig integriert.
Mikrotonalität und Einzelgänger
Erst die Avantgarde brachte Anfang des letzten Jahrhunderts bekanntlich einen riesigen Umbruch in der Musik. Alles wurde revolutioniert, verändert, neu erfunden, da alle bis dahin geltenden klanglichen, harmonischen, melodischen, rhythmischen Mittel und Formen infrage gestellt wurden – alles ausser das temperierte System.
Zu den wichtigsten Fackelträgern der neuen Musik zählten etwa die Grössen der «Zweiten Wiener Schule» wie Arnold Schönberg, und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde deren Werk durch die sogenannten Serialisten Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono fortgesetzt. Sie warfen die traditionelle Harmonielehre über den Haufen, während zuvor Komponisten wie Igor Strawinsky und Béla Bartók rhythmisches Neuland betraten.
Nur die Stimmung wurde von der Avantgarde kaum angetastet.
Klangkünstler, die damit experimentierten, gab es zwar auch, aber sie fanden wenig Beachtung, und dies obwohl der Komponist Ferruccio Busoni in seinem weit beachteten «Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst» bereits 1907 die Notwendigkeit neuer, engerer Tonskalen postulierte. Er forderte unter anderem mikrotonale Systeme mit Drittel- und Sechsteltönen und die Entwicklung elektronischer Instrumente, die solche Töne präzis erzeugen können. Das menschliche Gehör hat nämlich die hoch entwickelte Fähigkeit, kleinste Tonhöhen voneinander zu unterscheiden. Die natürliche Grenze liegt in der Regel bei rund sechs «Cents». Cent ist die logarithmische Basiseinheit, um Intervalle zu messen, wobei ein Cent für ein Hundertstel des gleich temperierten Halbtons steht. Das bedeutet, dass eine Oktave aus 1200 und ein Halbton aus 100 Cents besteht.
Lange blieb es Einzelgängern vorbehalten, die mikrotonalen Bereiche – kleiner als die temperierten Halbtöne – systematisch zu erforschen. Zu den herausragenden Pionieren zählten vor dem Zweiten Weltkrieg der vor der Revolution nach Paris geflüchtete Russe Iwan Wyschnegradsky, der Mexikaner Julián Carrillo oder der Tscheche Alois Hába und anschliessend die US-Amerikaner Charles Ives und Harry Partch.
Wyschnegradsky baute viele seiner Werke auf der Idee eines «Klangkontinuums» auf, etwa in Form riesiger Klangflächen, die über mehrere Oktaven hinweg in Form eines sogenannten Clusters gespielt wurden. Auch liess er Klaviere zum Spielen von Vierteltönen mit zwei Manualen konstruieren. Carrillo wiederum entwickelte ein System mit Kleinstintervallen, Hába publizierte eine 1927 erschienene Harmonielehre für Viertel-, Drittel-, Sechstel- und Zwölftelton-Systeme.
Der US-Komponist Harry Partch schliesslich entwarf in Anlehnung an antike griechische Skalen ein System mit 43 Stufen pro Oktave. Dafür entwickelte er völlig neue Instrumente oder passte bestehende wie etwa eine Gitarre und eine Bratsche auf seine Bedürfnisse an. Etwa zur gleichen Zeit begannen von der indischen Spiritualität inspirierte Werke des Römers Giacinto Scelsi ebenfalls mikrotonal um die Vorstellung eines sphärischen Klangs zu kreisen. Seine Arbeiten wurden Mitte der Siebzigerjahre von den sogenannten Pariser Spektralisten entdeckt, deren Musik auf den Obertonspektren der Töne aufbaut.
Womit wir am Ende unseres Exkurses und wieder bei Edu Haubensak wären. Auch in der Schweiz stiess in der musikalischen Avantgarde die systematische Verwendung der Mikrotonalität auf zunehmendes Interesse. Ende der Siebzigerjahre trat in Winterthur und Zürich mit Regina Irman, Dieter Jordi, Martin Wehrli, Alfred Zimmerlin und eben Edu Haubensak plötzlich eine Gruppe von ambitionierten Komponistinnen – alle in den Fünfzigerjahren geboren – auf den Plan, die sich auf mikrotonale Techniken verlegten. In der Radikalität und Strenge, mit der sie ihr ästhetisches Programm verfolgten, konnten sie es durchaus mit der zwei Generationen früher formierten Künstlergruppe der Zürcher Konkreten aufnehmen. Seit über 30 Jahren führt Haubensak nun sein Kompositionswerk kontinuierlich fort.
Am Sonntag immer Pause
Haubensak wurde 1954 in einem künstlerischen Umfeld geboren und wuchs in Zürich auf. Erst mit elf oder zwölf Jahren begann er Geige zu spielen. Zum Komponistenberuf, so erzählt er im Gespräch, kam er mithilfe eines Bekannten, den er während seiner Töpferlehre zufällig auf der Strasse antraf und der ihn unvermittelt fragte, was er werden wolle. «Schauspieler oder Komponist», lautete seine spontane Antwort. «Dann hör dir doch mal Schönberg an», riet ihm der Bekannte ebenso spontan.
Haubensak ging in den nächsten Plattenladen, wo er sich Schönbergs Violinkonzert anhörte: ein Schlüsselerlebnis. Bereits nach den ersten Tönen habe er sich wie vom Blitz getroffen gefühlt, jeden Ton habe er sofort verstanden. Als Autodidakt vertiefte sich Haubensak darauf Abend für Abend mit rotem Kugelschreiber in die Übungen von Schönbergs «Harmonielehre».
Er wollte Komposition studieren, fing sich aber bald einen ersten Schrecken ein: Am Zürcher Konservatorium beschied ihm der Direktor, dass nur Theorie unterrichtet würde, für das Komponieren könne er sich den Sonntag freihalten. Haubensak verliess umgehend das Haus und schwor sich, fortan an jedem Tag der Woche zu komponieren, nur am Sonntag nicht. Wie er berichtet, hält er sich bis heute an seinen Schwur.
Schliesslich fand Haubensak einen Platz an der Musikakademie Basel, wo er den Studiengang Komposition und Theorie belegte. Am meisten hätten ihn, so sagt er heute, jedoch nicht seine Lehrer, sondern zwei Schallplatten beeinflusst, die ihm sein Dozent, der Elektro- und Computermusiker Thomas Kessler, überlassen habe. Die eine war von Luc Ferrari, der sich als Vertreter der Musique concrète mit experimenteller Tonbandmusik hervortat, und die andere enthielt das minimalistische Paradestück «Violin Phase» von Steve Reich.
Ebenfalls sehr beeindruckt war Haubensak von Gastdozenten wie dem deutschen Komponisten Dieter Schnebel, einem Freund von Stockhausen. Schnebel organisierte Gruppenimprovisationen mit Instrumentalisten, an denen Haubensak mit 15 bis 20 Leuten zusammen teilnahm. Auch der Besuch des US-Amerikaners Earle Brown, als Komponist ein Autodidakt, ansonsten ein gelernter Ingenieurwissenschaftler und Mathematiker, stellte eine wichtige Begegnung dar. Brown arbeitete gemeinsam mit John Cage an Projekten und pflegte engste Kontakte zur New Yorker Kunstszene.
Daneben besuchte Haubensak regelmässig die von Jean-Christophe Ammann organisierten Avantgarde-Konzerte in der nahe gelegenen Kunsthalle Basel mit Musikern wie Philip Glass oder sah sich dort Performances von Konzeptkünstlern wie Tom Marioni an.
Nach sechs Jahren brach Haubensak die Ausbildung in Basel jedoch ab. Er habe genug gelernt, so sagt er, um zu wissen, was es für ihn zu tun gebe. Neben seinen kompositorischen Arbeiten kuratierte er zusammen mit Kollegen die Konzertreihe «Fabrikkomposition» in der Roten Fabrik Zürich, die sich auf Komponisten fokussierte, deren Stücke noch nicht im Repertoirebetrieb etabliert waren. Dazu zählten etwa die legendären Werke Morton Feldmans mit den leisen, stundenlang variierten Repetitionen oder die streng seriellen Stücke des Belgiers Karel Goeyvaerts.
Anschliessend war Haubensak zehn Jahre lang Dozent an der Schule für Gestaltung, mit dem Kurs «Freifach für die Ohren». Danach schrieb er auch für Nichtspezialisten sehr empfehlenswerte, pointierte Essays für die NZZ, in denen er Vorbilder porträtierte. Was sie eint? Die meisten arbeiteten völlig abseits des Mainstreams und wurden erst spät entdeckt.
Arbeiten in mehreren Formen
Auch für Performance und Installationen ist Haubensak offen: Die mehrfach ausgestellte «Idiorhythmische Studie» aus dem Jahre 1994 thematisiert den «privaten Klang». Sie ist für eine Person eingerichtet und besteht aus einem alten, möglichst knarrenden Holzstuhl und Elektronik mit Mikrofonen und Kopfhörer. Setzt sich eine Besucherin darauf, hört sie über Kopfhörer die Bewegungen ihres eigenen Körpers, sodass sie sich sozusagen selber spielt. Das geschlossene System wird zusätzlich dadurch betont, dass der Stuhl gegen eine Wand gerichtet ist.
Ein vom Genre her hybrides Projekt sind die 1981 durch Tomas Bächli in der Roten Fabrik uraufgeführten «Drei Klangbilder». Der Pianist übernimmt hier auch eine schauspielernde Rolle und spricht Texte. Er befindet sich mit seinem Flügel innerhalb einer metallenen Gitterkonstruktion und bringt zunächst durch Anschieben einen von der Decke hängenden Stein wie ein Pendel zum Schwingen. Dann umrundet er sein Instrument, um endlich ein hochvirtuoses Stück zu spielen. Dieses mündet schliesslich in ohrenbetäubenden Lärm, weil der Solist einen Holzstab den Gitterrost entlangzieht.
Schon früh kündigte sich die Klavierkomposition als Haubensaks Paradedisziplin an. Sein erstes Klavierwerk schrieb er mit «Schwarz Weiss» 1979, eine Etüde in zwei Teilen für ein allerdings noch normal gestimmtes, temperiertes Instrument.
Dennoch lassen sich bereits hier erste Markenzeichen von Haubensak erkennen: Die Musik wirkt sehr emotional, körperlich und findet hauptsächlich in den extremen Tonlagen statt. Voller Kraft erklingen in rasend schnellem Tempo laut gehämmerte Klangaggregate. Zunächst ertönen die Akkorde im sehr tiefen Bereich, wo sie mikroharmonische Resonanzen erzeugen. Nach dem Übergang in den sehr hohen Bereich entstehen komplexe Klangballungen: Es scheint, als ob der ganze Flügel zu vibrieren begänne. Wenn der Zuhörer den ersten akustischen Schock überwunden hat, eröffnet sich ihm ein gewaltiger Farbenreichtum, der durch die breiten Obertonspektren entsteht.
Auf der Suche nach der richtigen Stimmung
Auf die für sein späteres Schaffen zentrale Idee, die herkömmliche temperierte Stimmung in seinen Kompositionen aufzugeben, kam Haubensak bereits während seiner Arbeiten im elektronischen Studio in Basel: Beim Experimentieren mit Aufnahmen von Klavierklängen entdeckte er, dass schon die kleinste Änderung in der Geschwindigkeit auch die Tonhöhe verändert. Es ergaben sich Abstände, die kleiner waren als ein Halbton. Dabei faszinierte ihn, wie sich dadurch gleichzeitig die Farbe eines Intervalls subtil veränderte.
Doch was macht einer wie Haubensak, der partout nicht für elektronische Geräte komponieren und dennoch mit solchen Nuancen arbeiten will?
Er lässt seinen Flügel durch einen Klavierstimmer an seine Vorstellungen anpassen. Haubensaks Stimmer ist der Klavierbauer Urs Bachmann aus Wetzikon. Doch was am Computer leicht möglich wäre, wird auf dem Flügel selbst für den Fachmann zur extremen Herausforderung.
«Die äquidistante Struktur der Tonstufen normierte alles, was in der westlichen Welt an Musik komponiert wurde. Das muss geändert werden», begründet Haubensak seine musikalische Mission. Es entbehrt nicht der Ironie, dass der Angriff auf diese etablierte Norm, die über 200 Jahre lang unveränderlich blieb, ausgerechnet über das «bürgerliche» Klavier erfolgt, zu dem sich der Komponist nach einem ersten mikrotonalen Stück für Gitarre entschied.
Es ist die Vielschichtigkeit des Instruments, die ihn anzieht: Beim Konzertflügel erklingt ein Ton durch einen Anschlag auf eine seiner 88 Tasten über den sogenannten Hammer. Der Anschlag kommt einer Explosion gleich. Danach folgt jedoch ein Nachklang, der weich ist und die verschiedensten Farben erzeugt. Kompositorische Strukturverläufe lassen sich deshalb erst in der zweiten Klangphase differenziert heraushören.
Und es gebe einen weiteren Grund, so Haubensak, weshalb sich der Aufwand lohne, analoge Instrumente wie das Klavier für seine Stücke zu verstimmen. Sei der erste, durch die ungewohnten Akkorde verursachte Schock des Publikums einmal verdaut, höre es anschliessend aufmerksamer zu, wenn die neuen Klänge auf einem «normalen» Konzertflügel erklängen, als wenn diese auf einem E-Piano oder dem Computer gespielt würden.
Von 1989 bis 1992 machte sich Haubensak an sein erstes nicht temperiertes Klavierstück in sechstel- und dritteltöniger Stimmung, die «Campi Colorati I–III.» Sein unbedingter Wille, die Möglichkeiten veränderter Stimmungen und verschiedener Klangfelder auszuloten, trieb ihn in der Folge an, mit «Grosse Stimmung I–X» einen ganzen Zyklus mit weiteren zehn Stücken zu entwickeln.
In seinem grossen Opus ist jedes der zehn Stücke, die zwischen 11 und 24 Minuten dauern, in einer anderen Stimmung komponiert und evoziert völlig eigenständige Klanglandschaften. Die zehn Stimmungen unterscheiden sich beispielsweise nach der Art, ob und wie der sogenannte Chor, das sind die drei Saiten, die im klassisch temperierten Instrument in der Regel einer Taste zugeordnet sind und mit der gleichen Frequenz erklingen, aufeinander abgestimmt ist. Sie lassen sich nämlich auch einzeln verstimmen, sodass ein Tastenanschlag eine Klangfläche von drei Tönen erzeugen kann. Sind alle Saiten eines Flügels chorisch gestimmt, resultiert daraus eine riesige Tonfläche mit beinahe unerschöpflichen klanglichen Möglichkeiten, sodass bei zehn gleichzeitig gedrückten Tasten dreissig verschiedene Tonhöhen erklingen. Solche Konstellationen nennt der Komponist «Geräuschkuben».
In den Stücken «Spazio», «Halo» und «Coro Nuovo» werden mit dieser Technik Klangwelten geschaffen, die kaum noch an den herkömmlichen Klavierklang erinnern. «Collection», das zehnte Stück, beruht wiederum auf einer Mischstimmung, bei der die weissen Tasten jeweils gleichzeitig um 11 Cent erhöht und erniedrigt sind, während die schwarzen Tasten chorisch ganz unterschiedlich gestimmt werden. Konstellationen wie diese, so Haubensak, fordern ein verändertes kompositorisches Denken (und Hören), bei dem erst im lang anhaltenden Nachklang die Zusammenhänge greifbar werden. Um an diesen Punkt der Wahrnehmung zu kommen, verlangt jedoch das Klavier, wie bereits erwähnt, zuerst hämmernde, öfter sehr laute repetitive Schläge auf die Saiten.
Eine neue Virtuosität
Das hat auch Auswirkungen auf den Rhythmus. Dauerangaben sind in Haubensaks Notation in der Regel nur pro Zeile angegeben, auf das obligate zeitliche Taktraster, in dem sich Spannung durch Aktion und Reaktion aufbaut und entlädt, verzichtet er. Das gestattet eine langsame Entfaltung der Zusammenklänge, dank der die neu zusammengesetzten Schwingungen gut hörbar werden.
Gerade dies verlangt von den Interpreten der Musik jedoch ein sehr feines Gespür. Anstelle perlender Läufe, wie sie berühmte Tastenlöwen gerne pflegen, rücken bei Haubensak eine hohe Koordinationsfähigkeit disparater zeitlicher Abläufe, die Präzision des akkordischen Anschlags und ausuferndes Flächenspiel in Verbindung mit grossen Sprüngen in den Vordergrund der pianistischen Leistung. Kein Wunder, vertraut Haubensak den Vortrag seiner Stücke nur ausgewählten Interpretinnen an, die sich in enger Tuchfühlung mit dem Komponisten die Werke erarbeiten.
Bei einer Komposition geht Haubensak in vier Stufen vor: Zuerst entwirft er eine neue Stimmung, dann realisiert er sie auf dem Klavier mithilfe des Stimmers, danach erforscht er sie improvisierend und experimentierend, zumal die neuen Intervall- und Akkordkombinationen zuerst via Gehör ausgelotet werden müssen. Zuletzt fertigt er Skizzen und formale Entwürfe an, wie es bei allen kompositorischen Prozessen üblich ist.
Um das Notenbild einer herkömmlichen Partitur nicht unnötig zu überlasten, hat Haubensak eine spezielle Notenschrift für die Interpreten entwickelt. Dabei zeigt eine sogenannte Tabulatur wie bei Noten aus der Renaissance nicht die resultierenden Klänge an, sondern nur die instrumentalen Aktionen, beispielsweise, welche Tasten wie lange gedrückt werden müssen.
Seine Grundüberzeugung erklärt der Komponist wie folgt: «Das Forschen mit Tonhöhen und die komplexen Verbindungen von Intervallen und Mehrklängen sind unerschöpflich. Voraussetzung ist ein Denken, das nicht auf der Suche nach einem einzigen System und dessen Ideologisierung beruht. Möglichst viele Systeme, möglichst multiple Stimmungen erweitern unsere Ohren und unser Verständnis von Harmonie.»
Eigentlich befolgt Haubensak die von Busoni bereits vor über 100 Jahren aufgestellten Forderungen. Dieser schrieb damals: «Nur ein gewissenhaftes und langes Experimentieren, eine fortgesetzte Erziehung des Ohres werden dieses ungewohnte Material einer heranwachsenden Generation und der Kunst gefügig machen.»
Zur rundum geglückten Wiener Erstaufführung trugen die drei bravourösen Pianisten Tomas Bächli, Simone Keller und Stefan Wirth, intime und langjährige Kennerinnen des Werks Haubensaks, entscheidend bei.
Die erstmalige integrale Gesamtaufführung der «Grossen Stimmung I–X» stellt einen Meilenstein in der Karriere Haubensaks und der Geschichte der Klaviermusik dar. Sie demonstriert nicht nur die Könnerschaft des Komponisten, sondern auch, dass das Klavier in der Lage ist, sich gänzlich neuen Anforderungen anzupassen. Haubensak ist angekommen in den neuen Welten, die Busoni in seinem «Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst» dereinst prophezeit hat. Wer die nötige Geduld und Konzentration aufbringt, wird ihm folgen.
Auf der Website von Radio SRF findet sich die Gesamtaufnahme des Wiener Konzerts der «Grossen Stimmung I–X» zusammen mit einführenden Gesprächen mit Edu Haubensak und den Interpreten unter der Leitung von Thomas Meyer als Podcast.