Eyes Wide Shut – Folge 6

We Are the World

Ein Familienmitglied, ein Freund oder eine Kollegin ist plötzlich davon überzeugt, dass die Corona-Pandemie inszeniert ist und eine kleine Elite die Welt regiert. Was tun? Serie «Eyes Wide Shut», Folge 6.

Von Daniel Ryser, Olivier Würgler (Text) und Matthieu Bourel (Illustration/Animation), 22.01.2021

Dass bei Verschwörungs­theorien irgendwann Kinder sterben, lernen wir in diesen Tagen, ist fast so sicher wie das Amen in der Kirche. Auf einem Telegram-Kanal zum Thema Corona erreicht uns die Videonachricht eines Hals-, Nasen- und Ohren­arztes aus Sinsheim bei Stuttgart namens Bodo Schiffmann, ein führender Kopf der Bewegung Querdenken, wo die politischen Massnahmen gegen die Ausbreitung des Corona­virus gerne auch mal mit Konzentrations­lagern im Dritten Reich verglichen werden.

«Freunde, es ist kein Spass, diese ganze Scheisse. Ich hab, ich weiss jetzt definitiv, dass dieses dritte Kind auch gestorben ist. Ich kenn jetzt auch diese ganze Geschichte. Und zwar aus erster Hand», sagt Schiffmann, und bald brechen Tränen aus ihm heraus, und er ringt mit Worten.

«Und ich krieg sogar Interviews zu dem Scheiss. Ich muss ein Interview machen, damit ihr mir glaubt. Es ist wohl nötig. Kinder sterben! Verdammte Scheisse. Und ich bin kein Verschwörungs­theoretiker, und ich bin kein Covidiot. Kinder sterben! Weil sie Masken tragen gegen eine Erkrankung, die es nicht gibt. (…) Also, ich kenne jetzt die komplette Story, die dahintersteht. Und die Story ist, ja, ihr werdet sie hören. Ihr glaubt sie ja sonst nicht. Ihr fragt wieder nach Quellen. Und ihr macht mich fertig. Ihr macht mich alle fertig, die ihr noch zu Hause sitzt, die ihr Angst habt um euren Job, um euren Kredit, um euer Haus, und sonstiges. Was muss noch passieren, bitte? Drei Kinder reichen euch nicht? Drei Kinder in einer Woche. Mein Kanal wird wahrscheinlich heute zensiert, beziehungs­weise ganz gelöscht. Es ist eure Pflicht, das auf eure Kanäle zu stellen, wenn ich schon meinen Kopf für die ganze Scheisse hinhalte.»

«Glaube nichts, hinterfrage alles»: So lautet das Motto von Querdenken. Gleichzeitig ist Bodo Schiffmann erbost, dass man von ihm Belege für diese Nachricht einfordert und sie hinterfragt. Was irgendwie auch verständlich ist, denn es gibt die Belege nicht. Sogar die bayerische Polizei hat wegen des Videos ermittelt und noch am selben Tag mitgeteilt, dass nirgendwo ein Kind gestorben sei, weil es eine Mund-Nasen-Bedeckung getragen habe.

«Eine Erklärung für die Aussage von Herrn Schiffmann können wir nicht liefern», schreibt die Polizei Oberfranken in einer Stellung­nahme. «Wir können nur klarstellen, dass es sich bei der Aussage nicht um die Wahrheit handelt.»

Zur Serie «Eyes Wide Shut»

Wieso ist Verschwörungs­glaube während der Pandemie plötzlich allgegen­wärtig? Woher kommt er, wie wirkt er, was richtet er an? Zum Auftakt der Serie.

Menschen, die sich mit dem Thema Corona und Verschwörungs­denken auseinander­setzen, schildern eine systematische Instrumentalisierung von Kindern. Vor einem Schulhaus in Ebikon bei Luzern beispielsweise demonstrierten fünfzig Personen für Kindes­schutz, nachdem die Schul­leitung empfohlen hatte, auch Schüler der fünften und sechsten Klassen sollten besser Masken tragen, nachdem zwei Lehrpersonen positiv auf das Virus getestet worden waren und mehrere Klassen in Quarantäne geschickt werden mussten.

Während in Ebikon vor Schulen demonstriert wird, werden in Berlin Kinder an Demonstrationen gegen Corona-Massnahmen als menschliche Schutz­schilde gegen die Polizei benutzt. Das sagt die Historikerin Annika Brockschmidt und verweist auf eine Demonstration in Berlin gegen die Corona-Massnahmen im November, wo es zu Ausschreitungen und Angriffen auf die Polizei kam und Wasser­werfer eingesetzt wurden. In einer Stellung­nahme verurteilte Unicef, das Kinder­hilfswerk der Vereinten Nationen, am Tag nach der Demonstration «eine solche Instrumentalisierung von Kindern».

Hinten Hooligans, vorne Kinder: «Das ist eine ganz massive Radikalisierung der Bewegung», sagt Brockschmidt. «Die Kinder wurden ganz bewusst für diesen Tag als menschliche Schutz­schilde gegen die Polizei mitgebracht, wie diverse Screenshots aus Corona-Chats zeigen, wo für die Demonstration mobilisiert wurde.»

Nehme unsere Kleinen auf jeden Fall mit. Die Antifa und die Polizei werden keine Kinder angreifen und wenn ja, wird es unschöne Bilder geben.

Freiheits-Chat, 17. November 2020, 51’132 Mitglieder.

Zu Beginn sei die Polizei dafür kritisiert worden, dass sie ihre Wasserwerfer, wie man auf Videos sehen kann, ziemlich harmlos habe über die Demonstration regnen lassen, statt wie bei anderen eskalierenden Demonstrationen mitten in die Menschen hinein­zuspritzen. «Aber der Grund war eben, wie sich dann zeigte, dass zuvorderst und überall in der Demo Kinder platziert worden waren», sagt Brockschmidt.

«Das ist eine krasse Eskalations­stufe. Die Polizei hat das auch gesagt: Wir konnten gegen die gewaltbereite Demo mit dem Wasser­werfer nicht richtig vorgehen, weil da überall Kinder mit dabei waren. Das ist eine bewusste Methodik, die auch besonders zynisch und absurd wirkt, wenn man bedenkt, dass bei den Protesten gegen die Masken­pflicht auch immer mit dem Kindes­schutz argumentiert wird. Aber diese Leute ordnen alles dem Verschwörungs­glauben unter. Und somit wird dieser Wider­spruch gar nicht wahrgenommen.»


Alles dem Verschwörungs­glauben unterordnen, auch das Wohl der eigenen Kinder: Davon berichtet auch Susanne Schaaf, Geschäfts­führerin des Vereins Infosekta in Zürich, einer Fachstelle für Informationen und Beratungen zu sektenhaften Gruppen.

«Der Verschwörungsglaube kann so weit gehen, dass Eltern die eigenen Kinder aus Angst vor Chemtrails nicht mehr draussen spielen lassen», sagt Schaaf. «Sie müssen zu Hause bleiben. Die Lehrperson schaltet sich ein, weil das Kind nicht mehr zur Schule geht. In diesem Fall hat sich die Situation bereits stark zugespitzt und ist offensichtlich zum Problem geworden. Aber die Beeinflussung der freien Entwicklung und des freien Denkens beginnt schon früher in diesem Entwicklungsprozess.»

Ein Kind halte beispiels­weise einen Vortrag an einer Schule und behaupte, Corona sei eine Erfindung, nennt Schaaf ein Beispiel aus ihrer täglichen Arbeit. «Der Lehrer ruft daheim an und fragt nach. Dem Kind wurden diese Ideen offensichtlich von einem Elternteil vermittelt. Der andere Elternteil konnte die Beeinflussung auffangen. Zwei Weltanschauungen in einem Haushalt, und die Kinder mittendrin. Sie möchten von beiden Eltern geliebt werden und sind zu jung, das Gehörte einzuordnen und zu hinterfragen. Sie übernehmen, was die Eltern sagen, und stellen sich – in diesem Fall bei den Schul­kollegen – ins Abseits.»

Die familiären Situationen entwickelten sich unterschiedlich, sagt Schaaf. Teilweise gehe es nicht mehr darum, wie die Betroffenen wieder als Paar zusammen­fänden, sondern um juristische Fragen, ums Sorgerecht, um Finanzielles.

Mittlerweile sei das Thema Verschwörungs­theorie auch bei ihnen angekommen, sagt die Sekten­expertin. «Im Frühling, als der Lockdown verordnet wurde, hat sich die Thematik noch nicht in den Beratungen abgebildet», sagt Schaaf. «Mit einer Verzögerung von vier bis fünf Monaten wurde es dann aber sichtbar, und wir haben zunehmend mit Verschwörungs­glauben in Verbindung mit der Corona-Pandemie zu tun.» Die meisten Anfragen würden zwar viele bekannte Gemeinschaften, Freikirchen und das Thema Esoterik betreffen, «aber wir haben inzwischen jede Woche auch Anfragen zu dieser Thematik».

Vor allem die QAnon-Bewegung sei zu einem Thema geworden, sagt Schaaf. «Ältere Personen, aber auch junge Menschen sitzen zu Hause am Computer und bewegen sich bis in die Nacht hinein in solchen Filter­blasen: Sie geraten teilweise in eine derartige Verblendung hinein, dass schliesslich ganze Familien darunter leiden.»

Diese Phase könne sehr wohl eintreffen: dass man sich nicht mehr finde.

Im öffentlichen Diskurs sei für sie klar, dass man sich klar und deutlich positioniere, wenn falsche oder menschen­verachtende Aussagen gemacht würden, zum Beispiel im Kontext von Verschwörungs­glauben. Im familiären Kontext, und jetzt spreche sie aus der Perspektive der psychologischen Beratung, gehe es darum, den Betroffenen emotional zu erreichen und Eskalationen zu vermeiden.

Da rate sie zuerst einmal zu einem überlegten Vorgehen, um Ruhe reinzubringen. Ziel sei es, den Rahmen für das Gespräch so zu gestalten und sich für das Gegenüber in seiner Lebens­situation zu interessieren, damit nicht gleich ein Streit entbrenne oder sich der Betroffene ausklinke.

Möglichst wenig Konfrontation, vielmehr vorsichtiges Nachfragen: «Wie kommst du darauf, dass alles eine Verschwörung ist? Wie hat sich dein Leben dadurch verändert? Wenn ich deine Unter­lagen lese, bist du auch bereit, ein Dokument von mir anzuschauen?»

«Je länger sich Menschen in bestimmten Lebens­situationen unwidersprochen in dieser Welt bewegen, desto stärker identifizieren sie sich mit dieser Haltung, desto stärker wird die Abhängigkeit, desto stärker verengt sich die Sichtweise auf die Welt», sagt Psychologin Schaaf. «Es gibt Abstufungen der Abhängigkeit, der Einengung. Je früher man darüber spricht, desto eher besteht eine Gesprächs­bereitschaft, die Bereitschaft, Dinge zu hinterfragen, etwas anderes zu lesen, eigene Quellen infrage zu stellen. Je verbohrter jemand ist, desto fakten­resistenter wird er. Ab einem gewissen Punkt sind Gespräche nicht mehr möglich. Im persönlichen Kontakt raten wir: die Konfrontation so lange wie möglich vermeiden, Abwertung und Belehrung vermeiden. Dennoch ist es wichtig, in bestimmten Situationen, wenn Fakten geleugnet oder verdreht werden, klar Stellung zu beziehen: zum Beispiel wenn ein Familien­mitglied den Verschwörungs­glauben verbreitet, die Ermordung von George Floyd sei bloss eine Inszenierung.»

Wenn jemand schon tief in den Verschwörungs­glauben abgerutscht sei, sei es extrem schwierig, als Externe etwas auszurichten. «Es braucht ein Minimum an Bereitschaft, sich auf ein konstruktives Gespräch einzulassen, sonst redet man gegen eine Wand», sagt Schaaf.

In gewissen Fällen würden sich die Familien­mitglieder darauf einigen, über gewisse Dinge nicht mehr zu sprechen, sie quasi zum Tabu zu erheben, sagt Schaaf. «Wir haben beispiels­weise eine Frau beraten, deren beste Freundin eine glühende Trump-Anhängerin ist und Trump in allen Aspekten verteidigt. Das führte zu grossem Streit und hätte die Freundschaft fast zerstört. Die beiden Frauen haben sich darauf geeinigt, nicht mehr über das Thema Trump zu sprechen, so gut das den Umständen entsprechend möglich ist. Die Frage ist natürlich immer: Was bleibt von der Beziehung, wenn man über wesentliche Dinge nicht mehr spricht? Aber es kann eine Möglichkeit sein, wenn man mit jemandem trotz allem nicht brechen will.»


«Die WHO hat schon im Februar davor gewarnt, dass wir nicht nur eine Pandemie, sondern auch eine Infodemie bekämpfen müssen», sagt die deutsche Sozial­psychologin Pia Lamberty, Co-Autorin des Buchs «Fake Facts – Wie Verschwörungs­theorien unser Denken bestimmen».

«Ich habe in den vergangenen Monaten so viele E-Mails von Leuten bekommen, deren Partner, Eltern, Kinder in diesen Verschwörungs­glauben abgedriftet sind und die keine Ansprech­person hatten. Ich glaube, dass man da versagt hat: dass man eben auch Beratungs­angebote hätte aufstocken müssen, wo Menschen Unter­stützung bekommen und man kurzfristig Entlastung hätte schaffen können.»

Lamberty sagt, und jetzt klingt sie ähnlich wie die Zürcher Sekten­expertin Susanne Schaaf, dass man im Umgang mit Verschwörungs­ideologen in der Familie erst einmal den Ball flach halten müsse, erst einmal tief durchatmen müsse. «Denn man hat einen langen Weg vor sich, und es wird länger dauern, bis man wieder einen Zugang findet», sagt Lamberty. Verschwörungs­mythen wirkten deswegen so radikalisierend, weil sie gegen Kritik von aussen immun seien. Was wiederum viele Menschen im Umgang mit diesen Mythen so hilflos mache.

«Es hilft nichts, über kleinteilige Diskussionen vorzugehen, wenn jemand schon stark dieser Ideologie verhaftet ist», sagt Lamberty. «Entweder wird man dann selbst als Teil der Verschwörung markiert oder im besten Fall als naiv bezeichnet. Aber eine Auseinander­setzung mit den Argumenten findet nicht wirklich statt.»

Manchmal könne es helfen, das Weltbild als Ganzes infrage zu stellen: Wie soll das denn gemacht worden sein, eine solch riesige Verschwörung? Wer sind denn «die»? So, dass es fast schon humoristisch werde. Auf diese Art und Weise könne es funktionieren, einen Zugang zu finden. «Aber das kommt immer auch auf die Beziehung an, die man zueinander hat», sagt Lamberty.

«Was meistens am besten funktioniert, ist, wenn man zu verstehen versucht, welche Funktion der Verschwörungs­glaube für die betreffende Person hat», sagt die Psychologin.

«Ein klassisches Beispiel: Der Job ist verloren gegangen. Oder die Partnerschaft ist in die Brüche gegangen. Dann kommt Corona. Und man versucht so, mit der schwierigen Situation umzugehen. Wenn man versucht, an die Wurzel des Problems zu gehen, hat man teilweise ganz gute Chancen, die Person wieder zu erreichen. Ich kenne auch Beispiele, wo der Appell an Werte funktioniert hat. Eine Familie, die immer gegen Rassismus gekämpft hat zum Beispiel: Plötzlich marschieren die Eltern an Demonstrationen neben Rechten. Man sprach über die Werte, die man in der Familie doch immer hatte. Und so hat das dann dazu geführt, dass die Eltern nicht mehr hingegangen sind.»

Trotzdem dürfe man nicht vergessen, dass solche Situationen extrem belastend sein könnten und es dementsprechend legitim sei, Grenzen zu setzen. Dass man sage: «Das belastet mich zu stark, ich möchte nicht mehr mit dir darüber sprechen.» Oder dass man irgendwann sage, wenn es zu schlimm werde, vor allem auch um die eigene Psyche zu schützen, dass es halt wirklich nicht mehr gehe, dass man den Kontakt ganz abbreche.


Immer tiefer runter ins rabbit hole: Wie zum Beispiel der Schweizer Snowboard­profi Nicolas Müller, der mehr oder weniger über Nacht alle Sponsoren verloren hat, nachdem er in den sozialen Netzwerken behauptete, die Ermordung von George Floyd durch einen Polizisten in Minneapolis sei eine von George Soros bezahlte Inszenierung, um einen Rassen­krieg auszulösen.

«Die Frage ist, ob man nicht jeden drehen kann bis zu einem gewissen Punkt», sagt Daniel Laufer, Journalist bei «Netzpolitik.org». «Ob wir nicht alle eine potenzielle Disposition haben und unter den richtigen Bedingungen entsprechend auch zugänglich sein könnten.»

Laufer recherchierte in den letzten Monaten intensiv zum Thema Verschwörungs­theorien. Er publizierte bei «Netzpolitik.org» Artikel über die Intransparenz des Spendensystems von Querdenken. Er schrieb darüber, dass die Gelder, die aus einem anonymen Spenden­aufruf stammten, um die deutsche Regierung wegen der Corona-Massnahmen zu verklagen, in den Niederlanden bei einer Briefkasten­firma landeten. Er schrieb über Menschen, die mit Wunder­ketten, die vor Corona schützen sollen, viel Geld verdienen, und wie Amazon, die grösste Buchhändlerin der Welt, einen mit seinen Suchalgorithmen in zwei Klicks in tiefste Tiefen der Verschwörungs­erzählung lotst und diese sogar offensiv bewirbt und pusht, auch wenn man in der Suchleiste eigentlich nach seriöser und wissenschaftlicher Information zum Virus gesucht hat: Millionen­geschäft Verschwörungs­literatur. Seine Recherchen handeln auch davon, wie die Polizei in Bayern die Daten aus dem Corona-Tracing für Ermittlungs­zwecke verwendete – der Albtraum von Daten­schützerinnen und Bürgerrechtlern.

Er habe bei seinen Recherchen irgendwann aufpassen müssen, dass nicht in irgendeiner Form etwas hängen bleibe, sagt der Journalist. Und er könne heute gut nachvollziehen, wenn etwas hängen bleibe, wenn man sich zu viele solche Videos reinziehe. «Es gab bei mir den Punkt, wo ich mich quasi zurück­holen musste, kann man fast sagen. Nicht, weil ich es geglaubt hätte. Aber wo ich schon gemerkt habe, mir wachsen gerade Zweifel an. Eigentlich habe ich mich doch sorgfältig eingelesen. Ich kenne die Gegen­argumente. Und trotzdem wurde es irgendwann unangenehm.»

«Wenn ich mir für eine Recherche stundenlang solche Videos angeschaut habe, diese gebetsmühlen­artigen Wieder­holungen von Falsch­behauptungen, und ich weiss das ja, dass es Falsch­behauptungen sind, dann musste ich aufpassen», sagt der Journalist. «Man wird ja skeptisch, wenn einem jemand stundenlang erzählt, und zwar unter Bezugnahme auf irgendwelche pseudo­wissenschaftlichen Hinter­gründe, warum Masken beispielsweise nichts bringen. Warum es keine Pandemie gibt, warum das Corona­virus nicht gefährlich ist. Und das mit sehr viel Selbstvertrauen, wie das gute Verkäufer eben tun. Und dabei so tut, als wäre er wissenschaftlich qualifiziert. Du wirst ertränkt in Bullshit. Irgendjemand sagt einen Satz, der dich skeptisch macht, und dann denkst du kurz darüber nach, aber bevor du zu einem Fazit kommen könntest und recherchiert hättest, kommt schon die nächste absurde Aussage. So läuft das dann eben. Ich glaube tatsächlich, dass darin letztendlich die Gefahr liegt: dass es sich so anschleicht.»

«Wenn du nüchtern rangehst, sagst du, das ist ja alles Quatsch», sagt Laufer. «Aber wenn du dir diese total durch­radikalisierten Typen anschaust, die waren ja auch mal ganz woanders.» Während einige mit Verschwörungs­theorien Geld machten, hätten andere ihre gesamte Karriere an die Wand gefahren, sagt Laufer. «Der einst sehr erfolgreiche Vegankoch Attila Hildmann: Der ist natürlich schon relativ am Ende der Reise angekommen. Oder der HNO-Arzt Bodo Schiffmann, der Heulkrämpfe hat vor laufenden Kameras, wo er erzählt, Kinder seien gestorben, weil sie eine Maske hätten tragen müssen. Wenn man seine Entwicklung über all die Monate verfolgt, merkt man, wie sich das zuspitzt, wie durch den Wind der inzwischen wirkt. Ich weiss nicht, was seine persönliche Geschichte war, was ihn dafür zugänglich gemacht hat. Aber das finde ich das Gruslige daran, dass es ein schleichender Prozess sein kann.»

Diese Verschwörungs­mythen böten einen wahnsinnig attraktiven Ausweg, gerade aus einer sehr unangenehmen Situation wie dieser Pandemie. «Weil da dieses unsichtbare Virus ist, das unser aller Leben aufmischt mehr oder weniger seit mehr als einem Dreiviertel­jahr und das noch viel drastischere Auswirkungen haben könnte», sagt Laufer. «Und man kann ja noch nicht einmal irgendwie wütend sein auf dieses Virus. Denn das bringt ja nichts. Und an dem Punkt verliert man dann vielleicht die Geduld, die Disziplin darüber, das alles logisch zu betrachten.»


Benjamin Dubno, Chefarzt der Integrierten Psychiatrie Winterthur, sagt: «Ich glaube, für viele Menschen haben Verschwörungs­theorien eine Funktion. Und sie funktionieren eigentlich mit ihr fast besser als ohne. Deshalb ist eine reine Pathologisierung schwierig. Die Leute leiden eigentlich an der Realität, aber durch das Konstrukt leiden sie weniger.»

Der renommierte deutsche Politik­wissenschaftler Claus Leggewie, Mitheraus­geber der «Blätter für deutsche und internationale Politik», hatte in einem Artikel in der «Welt» die Demonstranten gegen die Corona-Massnahmen als von einem «kollektiven Wahn befallen» bezeichnet.

Wir wollten von einem erfahrenen Psychiater wissen, inwiefern man dieses Phänomen pathologisieren kann. Ob es aus psychiatrischer Sicht überhaupt zulässig ist, hier von einem Wahn zu sprechen.

«Eigentlich nicht», sagt der Chefarzt. «Wahn ist eine Krankheit und ein Einzel­phänomen, das die betroffenen Menschen stark isoliert. Verschwörungs­glaube entspricht keiner Krankheit und ist ein soziales, verbindendes Phänomen.»

Erstaunlich aber sei, sagt der Psychiater, dass beide Phänomene in der Tat viele Gemeinsamkeiten hätten, und teilweise sogar eine ähnliche Funktion.

«Wie meinen Sie das?», fragen wir ihn.

«Lassen Sie mich über Wahn sprechen, ohne zu sagen, dass eine Verschwörungs­theorie automatisch ein Wahn ist», sagt Dubno. «Der Wahn ist eine neue Logik, eine eigene Welt, die oftmals nur eine Antwort ist auf eine vorher bestehende Angst. Durch die Wahn­vorstellung wird die existierende Angst erklärt und reduziert: Wenn du das Gefühl hast, dass deine Angst daher kommt, dass dich beispiels­weise die CIA verfolgt, dann ist das tausendmal angenehmer als das Gefühl, einfach nur Angst zu haben, ohne zu wissen, warum. Denn wenn der Wahn die Angst erklärt, dann bist du dieser Angst nicht mehr ohnmächtig ausgeliefert. Ohnmacht ist das unangenehmste Gefühl überhaupt.»

Dubno sagt: «Wenn ich das Virus ernst nehme und sage, es existiert, es ist gefährlich, ich kann daran sterben, meine Eltern können daran sterben, man sieht es nicht, aber jeder kann es übertragen und es kann mich finanziell ruinieren: Das kann einem unglaublich Angst machen.»

Wenn man jetzt sage, 5G oder Bill Gates sei zuständig, dann gingen Ohnmacht und Angst ein Stück weit zurück, denn jetzt gebe es ein Ziel, gegen das man sich auslassen könne. Man könne einen 5G-Turm abfackeln oder wütend sein auf Bill Gates, und das sei zentral, um die Angst zu binden.

Es gebe sogar folgende Theorie, sagt Dubno: dass wahnhaftes Verhalten deswegen so stabil sei, weil der Wahn die Angst zurückbinde. Und wenn der Wahn verschwinde, käme die Angst zurück.

Kürzlich habe er eine Dokumentation von «Spiegel TV» gesehen über eine Demonstration von Corona-Skeptikern in Berlin. Spannend habe er gefunden, sagt Dubno, dass viele Leute unterschwellig aggressiv gewesen seien. «Aber da war auch noch etwas anderes: Sie wirkten alle erleuchtet, im Sinne von: Wartet nur ab! Wir kommen! Wir zeigen es euch allen! Ihr werdet es schon noch sehen! Durch das Konstrukt der Verschwörungs­theorie sind diese Leute, die ja eigentlich verunsichert sein sollten, in eine Art grössen­wahnsinnigen Zustand gekippt.»

Der Wahn habe immer recht. Das sei letztlich die Definition von Wahn. Wahn sei nicht korrigierbar. Nicht durch Argumente, die heizten den Wahn sogar an.

Wenn man mit jemandem diskutiere, der wahnhaft sei, und ihn vom Gegenteil überzeugen wolle, dann werde man in den Wahn integriert. Man werde Teil des Wahn­systems. Man werde ein Teil des Bösen.

Wahn sei nicht nur extrem stabil. Er sei auch ein abgeschlossenes, logisches System.

«Wenn Sie hochreligiös sind und jemand wird krank, dann brauchen Sie nur zu beten, und die Krankheit geht weg», sagt Dubno. «Wenn die Krankheit dann tatsächlich weggeht, haben Sie die Bestätigung. Wenn Sie beten und jemand stirbt trotzdem, dann haben Sie einfach zu wenig gebetet. Sie können tun, was Sie wollen, das System bleibt bestehen.»

Eyes Wide Shut

Folge 2

Und plötzlich all diese Helikopter am Himmel

Folge 3

Wir töten die halbe Menschheit

Folge 4

True Lies

Folge 5

Satan in Hollywood

Sie lesen: Folge 6

We are the World

Folge 7

Entspannt in die Barbarei

Folge 8

Same Shit, Different Age

Folge 9

Der Untergang des Abend­lan­des