Überall Militär, Polizei, Söldner, «Sicherheit» – aber nirgendwo Gerechtigkeit

Anfang Januar entscheidet ein Londoner Gericht, ob Wikileaks-Gründer Julian Assange an die USA ausgeliefert wird, weil er schwere Kriegsverbrechen der US-Armee aufdeckte. Anwältin Jennifer Robinson, die Assange seit 2010 vertritt, schildert die Schikanen, denen sie als Anwältin ausgesetzt war, die Folgen, die Assanges Einkerkerung schon jetzt für Journalisten hat – und wie die Trump-Regierung eine Begnadigung in Betracht zog, wenn Assange dafür politischen Gegnern geschadet hätte.

Ein Interview von Daniel Ryser (Text) und Kate Peters (Bilder), 29.12.2020

Ein Fall, in dem auch sie als Anwältin verleumdet werden sollte: Die Australierin Jennifer Robinson verteidigt Julian Assange seit zehn Jahren.

Während Donald Trump zu Heilig­abend verurteilte Kriegsverbrecher und Mörder begnadigt, die im Irak Zivilisten abschlachteten und ein Massaker verübten, sitzt Julian Assange in London in Isolations­haft. Diejenigen Mörder, die Assange enttarnt hatte, mussten sich niemals vor Gericht verantworten. Andere, die es mussten, wie im Fall der Söldnerfirma Blackwater, sind jetzt frei.

Das Büro der Hohen Kommissarin für Menschenrechte der Uno warnte, die Begnadigungen würden andere dazu ermutigen, ähnliche Grausamkeiten zu begehen. Der Vater eines neunjährigen irakischen Buben, der von US-Söldnern erschossen wurde, sagte, dieser Entscheid habe sein Leben ein zweites Mal zerstört.

Überall Militär, Polizei, Söldner, angebliche Sicherheit, aber nirgendwo Gerechtigkeit. Wikileaks-Gründer Julian Assange sitzt seit über einem Jahr in England in einem Hochsicherheits­gefängnis. Das Einzige, was gegen ihn vorliegt: Die USA verlangen seine Auslieferung, weil er Kriegs­verbrechen, Folter, Massaker durch das US-Militär publik gemacht hat. Menschen­rechts­organisationen wie Amnesty International und die Organisation Reporter ohne Grenzen fordern seit langem seine unverzügliche Freilassung.

Das Gericht in London, das am 4. Januar 2021 sein Urteil verkünden wird, hat bis heute nie öffentlich Stellung genommen, warum man Assange überhaupt in Einzelhaft steckt; warum man ihn überhaupt wegsperrt; warum er an den Gerichts­verhandlungen gefesselt hinter Panzerglas sitzen muss, als wäre es Assange, der schwere Kriegs­verbrechen begangen hat.

Julian Assange wird für seine Arbeit als Publizist vor unser aller Augen zu Tode gefoltert: Das sagte Nils Melzer, der Uno-Sonder­bericht­erstatter für Folter und andere menschliche Grausamkeiten, in einem viel beachteten Interview in der Republik vor einem Jahr. «Wenn investigativer Journalismus einmal als Spionage eingestuft wird und überall auf der Welt verfolgt werden kann, folgen Zensur und Tyrannei», so Melzer. «Vor unseren Augen kreiert sich ein mörderisches System. Kriegs­verbrechen und Folter werden nicht verfolgt. Youtube-Videos zirkulieren, auf denen amerikanische Soldaten damit prahlen, irakische Frauen mit routine­mässiger Vergewaltigung in den Selbstmord getrieben zu haben. Niemand untersucht das. Gleichzeitig wird einer mit 175 Jahren Gefängnis bedroht, der solche Dinge aufdeckt.»

Am 4. Januar fällt in London nach einer Dekade Irrungen und Wirrungen nun also das Urteil: ob Julian Assange für seine Wikileaks-Publikationen an die USA ausgeliefert wird.

Wenige Wochen vor dem Urteil treffen wir Jennifer Robinson zum Gespräch. Die australische Anwältin und Feministin verteidigt Julian Assange seit zehn Jahren gegen die Bestrebungen der USA, ihn in die Finger zu kriegen. 2009 hatte die Menschen­rechts­anwältin beim International Criminal Court eine Klage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen den Vatikan und den Papst eingereicht – als Folge von weit verbreitetem Kindes­missbrauch innerhalb der katholischen Kirche.

Das war ein ziemlich grosser Fall. Aber dann kam Wikileaks.

In einem Schreiben vom 26. November 2010 an Julian Assange setzte das US-Aussen­ministerium Assange und seine Anwältin als Teil von Wikileaks gleich – eine bis dahin nicht gekannte Aussetzung des Verhältnisses zwischen Anwältin und Klient und eine direkte Drohung gegen die Verteidigung, als solche gleich mitangeklagt zu werden. 2011 wurde bekannt, dass die Sicherheits­firma HBGary vermutlich im Auftrag der US-Regierung einen Plan entworfen hatte, das Wikileaks-Personal gezielt zu verleumden, und somit auch die Personen im Umfeld von Wikileaks, Anwältinnen und Anwälte zum Beispiel. Jennifer Robinson stand ganz oben auf der Liste.

Männer in schwarzen Autos warteten vor ihrem Haus.

Sie machte weiter.

Ms Robinson, wir haben wiederholt gehört – von führenden Uno-Folter­experten, von Psychiatern des Londoner King’s College, die als Zeugen vor Gericht auftraten –, Julian Assange stehe aufgrund der Haft­bedingungen und der drohenden Auslieferung an die USA kurz vor dem Suizid. Wie geht es Ihrem Klienten?
Seit Julian verhaftet wurde, zuerst wegen des Kautions­verstosses, für den er die Strafe längst abgesessen hat, und dann nach seiner Wegsperrung im Hochsicherheits­trakt für die mögliche Auslieferung, kommen wir fast nicht an ihn ran. Weder seine englische Anwältin Gareth Peirce noch ich. Es war uns lange nicht erlaubt, Dokumente mit ins Gefängnis zu bringen. Oder ihm einen Laptop zu geben, damit er seine Verteidigung vorbereiten kann. Und als wir es erkämpft hatten, durfte er nur einen Laptop bekommen, der stark in den Funktionen limitiert war.

Was heisst das?
Er kann damit Dinge lesen – aber nur Dinge, die bereits auf dem Laptop sind. Er kann weder Kommentare noch Markierungen setzen oder das Material anderweitig bearbeiten. Monat um Monat haben wir dafür gekämpft, genug Zeit mit ihm zu kriegen. Doch bei vereinbarten Treffen im Gefängnis passierte es regelmässig, dass man uns sagte: «Ach so, Sie sind hier? Wir haben ganz vergessen, ihn zu holen.» Dann wurde er geholt, das dauerte, zehn Minuten, zwanzig Minuten, eine halbe Stunde, eine Stunde. Unsere Besuchs­zeit aber, in der Regel zwei Stunden, wurde deswegen nicht verlängert.

Ist das üblich?
Natürlich nicht. Man vergisst seinen bekanntesten Gefangenen nicht einfach. Und vor allem nicht jedes Mal.

Was war das Motiv?
Es ist offensichtlich, dass dieser Fall extrem komplex ist. Extrem kontrovers. Mit einem unglaublichen Volumen an Beweis­material. Wir hatten nicht annähernd genügend Zeit, um die Verteidigung mit ihm vorzubereiten. Und man tat in London alles, die Bedingungen so unfair wie möglich zu gestalten. Hinzu kamen dann die Covid-Restriktionen: Der Mann sass wegen nichts in Isolations­haft in einem Hoch­sicherheits­gefängnis. Schon allein das. Aber dann, durch die Restriktionen, die er nun zu erdulden hatte, konnte er während sechs Monaten gar niemanden sehen. Julian Assange wurde nie für irgendwas verurteilt. Sechs Monate: nichts. Niemanden. Ein schwarzes Loch.

Wann sahen Sie ihn wieder?
Das erste Mal sah ich ihn wieder im Gericht, als das Auslieferungs­verfahren im September in die zweite Runde ging.

Ist das normal?
Nichts an diesem Fall ist normal. Am 7. September 2020, dem ersten Tag der zweiten Verfahrens­runde, wurde Julian Assange freigelassen und an Ort und Stelle wieder verhaftet. Aufgrund einer erweiterten Anklage­schrift. Als habe es der US-Regierung während der ersten Verhandlungs­runde gedämmert, dass der jahrelang ausgearbeitete Vorwurf nicht reicht, einen Menschen wegen «Spionage» hundert Jahre wegzusperren. Also liess man ihn frei, verhaftete ihn an Ort und Stelle und klagte ihn nun auch wegen Hackings an. Er habe quasi Chelsea Manning dazu aufgefordert, Computer der US-Armee zu hacken. Eine erweiterte Anklage­schrift, von der wir an diesem Tag das erste Mal hörten. Ich sage es mal so: Das ist alles unfassbar unbefriedigend.

Haben Sie so etwas schon einmal erlebt?
Dieser Fall ist beispiellos auf so viele Arten. Noch nie wurde ein Journalist in den USA unter dem Espionage Act angeklagt. Das ist nur eine von zahlreichen juristischen Heraus­forderungen. Ich war gleichzeitig in mehrere wegweisende Verfahren involviert. Zu sehen, wie die USA all ihre Macht auf allen Ebenen gegen diesen einen Mann angewendet haben und es immer noch tun, das ist vor allem angesichts dessen, was er getan hat, Journalismus, absolut beispiellos. Zentral war dabei immer, auch beim Asylgesuch in der ecuadorianischen Botschaft, das Verfahren, das in den USA lief. Die USA bestritten dieses geheime Verfahren so lange, bis sie das nicht mehr konnten.

Was bedeutete das für Sie, für alle anderen Anwälte?
Die Hindernisse, mit denen wir Anwältinnen dabei konfrontiert waren, sind erheblich. Der Anwalt Mark Summers, wirklich ein sehr erfahrener Londoner Anwalt, sagte der Richterin in Bezug auf die erweiterte Anklage: In der ganzen kombinierten Erfahrung in diesem sehr erfahrenen Team von Anwältinnen und Anwälten habe man es noch nie erlebt, dass eine erweiterte Anklage derart spät eingereicht werde, quasi mitten im Spiel, und ohne weitere Erklärung. Es war uns nicht möglich, Zeugen vorzuladen, was die neuen Anschuldigungen anging. Das ist beispiellos. Und es ist extrem unfair.

Ein faires Verfahren für einen Beschuldigten, das ist doch ein Kern eines rechts­staatlichen Verfahrens. Darum müht man sich ja überhaupt so ab. Oder befinden wir uns hier in einem völlig anderen Bereich?
Schauen Sie, schon allein dass Julian Assange sechs Monate Isolations­haft kassierte wegen Kautions­verstosses ist eine in dieser Form noch nie gesehene Bestrafung in England. Er hatte vor Jahren gegen Kautions­auflagen verstossen, als er in die Botschaft Ecuadors geflohen war. Und in unseren Augen hatte er deswegen sowieso nie gegen die Kaution verstossen, sondern von seinem Menschen­recht Gebrauch gemacht, Asyl zu suchen. Und wie wir heute wissen, hatte er dafür auch sehr berechtigte Gründe. Dafür kassierte er also sechs Monate. Normalerweise geht man dafür in England nicht ins Gefängnis. Die Strafe läuft aus. Und was passiert? Man lässt ihn einfach nicht raus.

Was heisst das eigentlich: Man lässt ihn einfach nicht raus?
Es gibt keine rechts­staatliche Begründung, dass Julian Assange im Gefängnis sitzt. Rechtlich sitzt er in Untersuchungs­haft. Also Einzelhaft. Seit eineinhalb Jahren. Der Mann hat nichts getan. Der einzige Grund für seine Haft in England ist das Auslieferungs­gesuch der USA, der Trump-Administration – ein Auslieferungs­gesuch, das von allen wichtigen Menschen­rechts­gruppen scharf attackiert wird. Der Grund sind seine Publikationen, Journalismus.

Warum macht England das?
Eine exzellente Frage. Ich kann sie Ihnen leider nicht beantworten.

Was heisst das, Sie können mir das nicht beantworten?
Ich bin nicht die Einzige, die das nicht kann. Niemand kann das. Kein Gesetz erlaubt es, diesen Mann einzusperren, und dann noch auf diese brutale Art und Weise.

Wie waren die Besuche bei Julian Assange im Hochsicherheits­gefängnis? Wie gesagt, wegen der Covid-Restriktionen war es mir seit einem halben Jahr nicht mehr möglich, meinen Mandanten zu besuchen oder mit ihm Kontakt zu haben. Das erste Mal traf ich ihn wieder vor Gericht im September.

Nochmals die Frage: Wie geht es ihm?
Assange hat ein diagnostiziertes Asperger-Syndrom, und das psychiatrische Beweis­mittel vor Gericht zeigte ein sehr hohes Selbstmord­risiko für den Fall, dass er an die USA ausgeliefert wird. Sie dürfen nicht unterschätzen, welche Auswirkungen der ganze Fall auf ihn gehabt hat. Die entsetzliche Erfahrung für ihn und seine Familie, seine Frau, seine Kinder, die Geheim­haltung, unter der seine Kinder lange leben mussten. Die Morddrohungen aus den USA, und dann der extreme Druck zu wissen, was ihm in den USA blüht: Dieser Mann wird nicht zwei, drei Jahre in einem normalen Vollzug sitzen. Dieser Mann soll, so haben wir vor Gericht gehört, 175 Jahre weggesperrt werden mit, wie es hiess, speziellen Verwaltungs­massnahmen: in Isolationshaft. Wir haben schon jetzt zahlreiche Belege für unmenschliche Haftbedingungen, und die Aussichten sind nicht besser. Man braucht kein Fachmann zu sein, um zu erkennen, dass diese Situation jemanden zu Tode betrüben kann.

In einem Artikel über Sie in «Elle» sagten Sie, dieser Fall lasse Sie grundsätzlich am Rechts­staat zweifeln. Können Sie das ausführen?
Ein Mann, der für seine Publikationen überall in der Welt Preise erhalten hat, sitzt wegen derselben Publikationen in einem Hochsicherheits­gefängnis – während die Kriegs­verbrechen, die er aufgedeckt hat, von den Regierungen, die sie begangen haben, gedeckt werden. Das, was hier in England passiert, passiert ja nicht einfach so: Es ist punishing by process. Diese Behandlung durch England wirft ernsthafte Fragen bezüglich Rechtsstaat auf, bezüglich unseres Bekenntnisses zu Demokratie, Menschen­rechten, Meinungsfreiheit. Das alles wird gerade im Kern bedroht.

Dies sagt auch Nils Melzer, der Uno-Sonderberichterstatter für Folter.
Leute wie Nils Melzer haben davor seit langem gewarnt: Eine Folge des Umgangs mit Julian Assange wird sein, dass dieser Umgang die moralische Autorität einiger der grössten Demokratien unterwandert, wenn es um Pressefreiheit geht. Und man hat es ja jetzt beim Konflikt in Aserbaidschan bereits sehen können. Die BBC versuchte, [den Präsidenten Aserbaidschans] Ilham Aliyev in einem Interview festzunageln wegen seiner Angriffe auf die Pressefreiheit. Er antwortete: «Darf ich eine Frage stellen? Sie sprechen über Pressefreiheit, während Ihr Land Assange wegen seiner Arbeit als Journalist als Geisel hält. Sie bringen den Journalisten Assange schleichend um. Sie haben kein moralisches Recht, mit mir über Pressefreiheit zu sprechen.»

Sie sagen, es zeigt sich schon jetzt, wovor Amnesty International, die Uno, Reporter ohne Grenzen, zahlreiche andere NGOs und Gruppen immer gewarnt haben: Es geht hier nicht um Assange. Es geht darum, ein Zeichen zu setzen: Das passiert mit euch, wenn ihr euch mit uns anlegt.
Natürlich geht es auch um die Person Julian Assange. Aber es geht in der Tat um mehr. Es geht um Demokratie, Transparenz, um die Frage der Haftbarkeit für den Missbrauch von Menschen­rechten. Das alles passiert ja auch vor dem Hinter­grund einer weltweiten Medien­krise: Es geht um die Möglichkeit, der Öffentlichkeit die Informationen zur Verfügung zu stellen, die sie benötigt, um ausreichend informiert zu sein und somit demokratische Entscheide treffen zu können. Aber es geht eben noch um viel mehr: Wenn so etwas in einer unserer ältesten Demokratien passieren kann, was bedeutet der Fall Assange dann für autoritäre Regimes? Was bedeutet dieses Signal, das gesendet wird, nach Russland, nach China, nach Saudiarabien? Das wurde alles vor Gericht verhandelt: Ist Assange der Präzedenz­fall, dass in Zukunft zum Beispiel eine britische Journalistin nach Saudiarabien ausgeliefert werden kann, wenn sie die Wahrheit publik macht über die Ermordung von Jamal Khashoggi? All diese Fragen haben dazu geführt, dass Menschen­rechts­gruppen, Journalisten­verbände, Journalistinnen und Redaktoren in der ganzen Welt diesen Prozess mit grosser Sorge betrachten.

Würden Sie sagen, der Prozess war ein Erfolg?
Der Prozess war in dem Sinne wichtig, dass man gewisse Dinge geraderücken konnte. Und zwar die Falsch­darstellungen der USA über Wikileaks, die von Anfang an verbreitet worden waren, um der Glaubwürdigkeit von Wikileaks zu schaden. Die Falsch­darstellung etwa, durch die Publikationen seien Menschen zu Schaden gekommen. Die USA haben es damit zeitweise geschafft, dass vor allem über diese Spekulationen gesprochen wurde statt über die nieder­gemetzelten Kinder, die Folterungen, die Entführungen. Es zeigte sich, dass es keinen einzigen Beweis für diese Behauptung der US-Regierung gibt. Oder die Behauptung, Wikileaks und Assange im Speziellen hätten rück­sichtslos gehandelt. Dieses Bild, das von ihm gezeichnet wurde: Es wurde vor Gericht bewiesen, dass Wikileaks erhebliche Massnahmen getroffen hatte, um die Informationen zu schützen und zu redigieren, zu schwärzen, bevor sie publiziert wurden. Dass unbearbeitetes Material publiziert wurde, war das Resultat eines Sicherheits­lecks bei der britischen Zeitung «Guardian», nicht bei Wikileaks. Das wurde vor Gericht dargelegt.

«Was ich in den letzten zehn Jahren wirklich gelernt habe: Information ist Macht.»

Diese Behauptungen waren ja zentral für die USA, um quasi eine Linie zu ziehen zwischen Wikileaks und den «anderen» Journalisten, um Assange als Spion ausgeliefert zu bekommen. Ist die Wider­legung dieser Behauptungen der Grund, warum die USA mitten im Verfahren neue Anschuldigungen vorbrachten und plötzlich von Hacking sprachen?
Wir Anwältinnen und Anwälte lesen das so. Denn nachdem man mit all dem durch war, achtzehn Monate nach Eröffnung des Falls, mitten im laufenden Prozess, behaupten die USA plötzlich, es gehe ihnen vor allem um Hacking. Dass Assange Chelsea Manning angestiftet habe, Informationen zu stehlen. Und das steht im Kontext eines Falls, in dem wichtige Zeugen vor Gericht gehört wurden, die darlegten, wie einzigartig und gefährlich dieser Fall ist. Dass man juristisch völlig neues Territorium beschreitet. Dass man einen Präzedenz­fall schafft, der das Ende des national security journalism bedeuten würde.

«Ende des National Security Journalism» – können Sie das präzisieren?
Wir hörten vor Gericht von wichtigen Zeugen, die darlegten, wie Wikileaks-Publikationen in zahlreichen Fällen als Beweis­material benutzt wurden, um Verletzungen von Menschen­rechten haftbar zu machen. Zum Beispiel im Fall des deutschen Staatsbürgers Khaled el-Masri, der von der CIA entführt und gefoltert worden war: Wikileaks-Enthüllungen wurden vor dem Euro­päischen Gerichtshof verwendet. Oder in verschiedenen Fällen von Folter in Guantánamo und einer ganzen weiteren Reihe von Post-9/11-Missbräuchen, Entführungen, Folter, Morden und Drohnen­angriffen in Pakistan. Letztlich spielte die Arbeit von Wikileaks sogar eine wichtige Rolle beim Ende der US-Intervention im Irak, weil die von ihnen publizierten Beweis­mittel über Kriegs­verbrechen und Menschen­rechts­missbräuche dazu führten, dass das irakische Parlament die Immunität der US-Streitkräfte aufhob. Ein wichtiger Punkt im folgenden Abzug der Truppen.

Was bedeutet das?
Das alles sind bedeutende Punkte, die das öffentliche Interesse der Wikileaks-Publikationen unterstreichen, den hohen journalistischen Gehalt im öffentlichen Interesse. Man könnte Dutzende weitere Beispiele anführen, aber am Ende bleibt die Frage, ob dem Gericht all das ausreicht, um zur Überzeugung zu gelangen, sich gegen eine Auslieferung zu entscheiden.

Begnadigungen für Kriegs­verbrecher – aber kein Pardon für Julian Assange. War das je ein Thema?
Es gab eine Zeit, in der ein präsidiales Pardon im Raum stand. Das zeigt, wie politisch motiviert dieser Fall ist als Teil des Krieges der Trump-Regierung gegen Whistleblower und Journalistinnen. Ich selbst war an einem Treffen in London – ich gab dazu vor Gericht eine Zeugenaussage ab – mit dem US-Republikaner Dana Rohrabacher, der einen Begnadigungs­deal vorlegte.

Wie meinen Sie das?
Als Donald Trump Ziel der sogenannten Mueller-Untersuchung wurde, der Sonder­ermittlung zur Beeinflussung des Wahl­kampfs in den Vereinigten Staaten 2016, kam Rohrabacher nach London und schlug in meiner und Julians Anwesenheit eine Begnadigung vor. Obwohl es damals offiziell noch gar keine Anklage gab.

Und was sollte Assange dafür tun?
Es ging um die sogenannten Clinton-Mails, die Wikileaks im Vorfeld der Wahlen publiziert hatte, die Clinton politisch geschadet und Trump genutzt hatten. Offiziell war die Rede davon, Wikileaks seien die Mails von Russland zugespielt worden. Im Trump-Lager war man hingegen offenbar der Ansicht, es würde Trump politisch helfen, wenn Assange die Quelle offenlege.

Und was hat Assange getan?
Er hat die Quelle nicht offengelegt. Aber das Treffen zeigt, dass dieser Fall mit normaler Strafjustiz nichts zu tun hat, sondern ein politischer Fall ist. Ein Fall, den die US-Regierung zu lösen bereit gewesen wäre, wenn es ihr genutzt hätte.

Das haben Sie alles so vor Gericht ausgesagt?
Ja. Rohrabacher bestreitet das Treffen auch nicht. Er behauptet bloss, er habe nicht in Trumps Auftrag gehandelt. Alles gut bei Ihnen?

Was meinen Sie?
Sie schauen so traurig aus.

Nein, nein. Das ist mein Gesicht. Es ist nur, dieser Fall, es ist alles so wahnsinnig verrückt. Zehn Jahre öffentliche Demontage eines Menschen, nirgendwo Gerechtigkeit.
Was ich in den letzten zehn Jahren wirklich gelernt habe: Information ist Macht. Das meine ich wirklich nicht als Schlagwort.

Wie meinen Sie es?
Als ich Julian Assange das erste Mal getroffen habe im Jahr 2010, war er ein junger Mann mit einem Rucksack voller Informationen. Und bald war er einer der gefährlichsten und mächtigsten Männer der Welt, beziehungsweise: So wurde er betrachtet. Weil er Informationen hatte. Und er hatte es angekündigt: Wenn ich diese Informationen publiziere, werden mich die USA bis ans Ende der Welt jagen. Er sollte recht behalten. Aber er war so überzeugt vom öffentlichen Interesse, dass er vielleicht selbst unterschätzte, was er auslöste – er wurde zur zentralen Bedrohung von Macht. Regierungen kontrollieren Information, weil Information Macht ist. Assange hat dieses System mit Wikileaks infrage gestellt, er hat diesem System die Kontrolle entzogen. Das ist letztlich der Kern, worüber wir hier reden: keine Geheim­haltung mehr.

Wie kamen Sie zu Ihrem Klienten Assange?
Geoffrey Robertson, ein bekannter australischer Menschen­rechts­anwalt in London, und ich, wir hatten Wikileaks schon eine Weile aus der Ferne beobachtet, als die Plattform noch keine so grosse Sache war. Aber aus der Perspektive von Menschen­rechts­anwältinnen war das Projekt beachtlich und interessant: Es gab beispielsweise eine super­provisorische Verfügung eine Geschichte betreffend, in der es um Giftmüll ging, der vor der Küste Afrikas im Meer trieb. Niemand wollte die Story anfassen, weil es eben diese super­provisorische Verfügung gab. Wikileaks hat das einfach unterwandert und damit ermöglicht, dass die Story publik wurde. Das war für uns als Anwältinnen natürlich schon ein ziemliches Ding: Ein Medien­unternehmen mit einem Hunger, Geschichten zu publizieren, die sonst niemand anrühren wollte. Geschichten, bei denen das öffentliche Interesse eindeutig gegeben war. Es war klar, dass Julian Assange Hilfe brauchen würde. So kam das.

Und hätten Sie erwartet, dass das Ihr Leben verändern würde?
Niemand konnte voraussehen, was passierte. Es war ja quasi die grösste Story der Welt. Die grösste Publikation vertraulicher Information in der Geschichte. Jedes Land auf der Welt war 2010 durch die Veröffentlichung der Depeschen der US-Botschaften betroffen. Wikileaks war in jedem Land auf der Frontseite der Zeitungen. Das war einzigartig. Und einzigartig war dann auch die Reaktion: eine sogenannte red notice von Interpol, ihn also sofort zu verhaften, wo immer auf der Welt er sich befindet. Die Unter­suchung in Schweden. Die finanzielle Blockade. Seine eigene Regierung, Australien, auch meine Regierung, die damit drohte, seinen Pass zu stornieren.

Die Untersuchung in Schweden: Sie sind eine ausgesprochene Verfechterin von #MeToo. Sie haben kürzlich Amber Heard erfolgreich vor Gericht vertreten gegen Johnny Depp. Es ging um häusliche Gewalt.
Wie lautet Ihre Frage?

Und Sie vertreten Assange.
Ich möchte hier schon in aller Deutlichkeit sagen: Der Fall in Schweden wurde eingestellt. Wir sprechen hier und heute davon, dass es darum geht, einen Journalisten an die USA auszuliefern wegen seiner Publikationen. Und ich kann als seine Anwältin, als die Frau, die ich bin, nicht genug heraus­streichen, dass es bei der Flucht in die Botschaft immer nur um die Flucht vor den USA, nicht die Flucht vor den schwedischen Behörden ging. Niemals. Aber selbst­verständlich war Schweden immer eine grosse Diskussion.

Was war Ihr Argument in der Diskussion?
Ich möchte nicht weiter auf Schweden eingehen, da diese Geschichte immer eine Geschichte voller Fragen und Widersprüche war und es nie die Möglichkeit gab, vor einem Gericht die Wahrheit heraus­zufinden. Die Sache ist abgeschlossen. Niemandem ist gedient, weiter darüber zu sprechen. Helena Kennedy ist eine grosse Feministin, eine wichtige feministische Anwältin und Kämpferin in England und Mentorin von mir, sie sagte zu dieser Sache, zur Sache Assange: Wir erreichen keine Gerechtigkeit für Frauen, indem wir Männern Gerechtigkeit verweigern. Und dass es deswegen extrem wichtig sei, sagte Helena, dass in der Sache Assange ein ordentliches Verfahren stattfinde. Aber es ist offensichtlich, dass das bei Julian nicht der Fall war und verunmöglicht wurde, und damit hat man weder ihm Gerechtigkeit verschafft noch den involvierten beiden Frauen in Schweden. Aber Gerechtigkeit war nie der Punkt in diesem Fall.