Gib niemals auf, verdammt!
Ältere Menschen, die nicht ins binäre Geschlechterkonzept passen, sind öffentlich fast unsichtbar. Jess T. Dugan und Vanessa Fabbre zeigen solche Menschen so, wie sie gesehen werden wollen.
Von Nadine Wietlisbach (Text) und Jess T. Dugan (Bilder), 26.12.2020
An die erste Begegnung mit Jess T. Dugans Fotografien erinnere ich mich gut. Bis dahin war ich weder in meinem von Bildern geprägten Alltag noch in der Kunst mit Porträts älterer Trans- und gender-nonkonformer Menschen konfrontiert, also Menschen, die sich weder der Kategorie «weiblich» noch der Kategorie «männlich» zugehörig fühlen. Die bekannteste Transfrau der Schweiz, Eve-Claudine Lorétan, Coco, nahm sich vor ihrem 30. Geburtstag das Leben – Fotografien zeigen ein junges Model, das noch viel vor sich hat.
Das Gemeinschaftsprojekt von Jess T. Dugan und Vanessa Fabbre ermöglicht Begegnungen über analog gefertigte Fotografien, die ganz ohne inszenatorische Eingriffe auskommen. Die Porträtierten blicken meist direkt in die Kamera, sie zeigen sich so, wie sie wahrgenommen werden wollen; und Dugan erfasst fotografisch mehr als nur Gesichtszüge, Körper, Kleidung – es wirkt, als würde Dugan, selbst queer, die Menschen nicht nur sehen, sondern erkennen.
Über die zugehörigen Texte lernen wir die unterschiedlichen Lebensgeschichten von Menschen kennen, die von Leid und zugleich von grossen Errungenschaften geprägt sind. Die in der Publikation «To Survive on This Shore» gesammelten Porträts und Interviews spiegeln Lebensgeschichten, die einen Zeitraum von neunzig Jahren umfassen – und gleichsam die Geschichte der USA sowie die aktivistischen Aktivitäten der LGBTQI-Gemeinschaften.
Die porträtierten Menschen sind oder waren Bodybuilderinnen und Bodybuilder, Armeeangehörige, Eltern. Ihre Biografien entfalteten sich unter unterschiedlichen sozioökonomischen Bedingungen, teilweise vor dem Hintergrund starker religiöser Prägung, sowie in diversen geografischen Settings: Für das Projekt reisten Dugan und Fabbre, die auch privat ein Paar sind, über den Zeitraum von rund fünf Jahren von Küste zu Küste. Das erklärte Ziel war, diesen medial marginalisierten Menschen über Bild und Text starke Präsenz zu verleihen.
Unvorstellbare Herausforderungen sowie Gefühle der gesellschaftlichen Ablehnung prägen die Geschichten der Porträtierten. Und doch haben sie alle ihren Weg gefunden – nicht zuletzt aufgrund der Zuneigung und der Zuversicht ihrer (Wahl-)Familien.
Die Geschichten bewegen, sie zeugen von systematischer Diskriminierung, von Liebe und dem Bewusstsein, wie zentral die gegenseitige Unterstützung ist. So erzählt Dee Dee Ngozi, 55, von ihrem spirituellen Weg und wie das Vertrauen in Gott sie dazu bewog, das erste transgeschlechtliche geistliche Amt in ihrer Kirche zu gründen.
Preston, 52, beschreibt, wie er immer schon einen Jungen sah, wenn er, damals noch für ein Mädchen gehalten, in den Spiegel blickte.
Hank, 76, und Samm, 67, verbindet eine Liebesgeschichte, die vor 45 Jahren begann. Hank war jahrelang im Militär und beendete schliesslich diese Karriere aufgrund des Drucks, den die ständigen psychiatrischen Untersuchungen bedeuteten. Die beiden lernten sich im Anschluss an eine Party im Westen von Michigan kennen – und wussten schnell, dass ihre Verbindung von langer Dauer sein würde.
Sie hätte sich nie vorstellen können, dass die Person, die sie als ihren Mann wahrnahm, eigentlich ihre Frau war, erzählt Cheryl, 55, im Interview. Eine geschlechtsangleichende Operation kann je nach Gesundheitszustand ein grosses Risiko darstellen: SuZie, 51, konnte sich erst 2009 den medizinischen Eingriffen unterziehen.
Debbie, 61, wiederum ist und bleibt Aktivistin: Mit 5 Jahren vom eigenen Vater vergewaltigt, versuchte sie sich mit 15 das Leben zu nehmen; nach mehreren Herzinfarkten wurde sie im Spital schlecht versorgt. Jüngeren Transmenschen gibt sie folgenden Ratschlag: «Habe Mut. Halte durch und gib niemals auf. Du darfst dich nicht umbringen, verdammt, denn du musst herausfinden, was als Nächstes passiert.»
Zu Jess T. Dugan und Vanessa Fabbre
Jess T. Dugan setzt sich künstlerisch und fotografisch mit Fragen zu Identität, Geschlecht, Sexualität und Gemeinschaft auseinander. Vanessa Fabbre hat eine Assistenzprofessur an der Washington University in St. Louis und unterrichtet dort an der angegliederten Fakultät für Frauen, Geschlecht und Sexualität. Ihre Publikation «To Survive on This Shore: Photographs and Interviews with Transgender and Gender Nonconforming Older Adults» erschien 2018 im Kehrer-Verlag und wurde soeben in zweiter Auflage veröffentlicht.