Noch eine einzige Mutation – und einer der tödlichsten Stämme der Vogel­grippe wird wohl pandemisch, sagt Mike Davis. Roger Ballen, «Five Hands», 2006, Serie «Asylum of the Birds»

«Covid-19 ist erst der Anfang»

Der Soziologe Mike Davis, aufgewachsen in einer Metzger­familie, hat vor fünfzehn Jahren vorhergesagt: Wegen der Massen­tierhaltung beschreiten wir ein globales Zeitalter der Pandemien. Die Republik hat ihn gefragt: Was tun? Die kurze Antwort: Auf die Weihnachtsgans verzichten reicht nicht.

Ein Interview von Marie-José Kolly und Daniel Ryser, 23.12.2020

Wie wir sehen werden, besteht die Bedrohung durch die Vogel­grippe im Folgenden: Eine mutierende, albtraumhaft ansteckende Influenza ist nur wenige Genmutationen davon entfernt, mit horrendem Tempo und auf dem ganzen Globus durch eine dicht urbanisierte und grösstenteils verarmte Menschheit zu rasen. Eine Influenza, entstanden und schlummernd in ökologischen Nischen, die durch den globalen Agrar-Kapitalismus geschaffen wurden.

Mike Davis, «The Monster at Our Door», 2005.

Chinesische Experten untersuchen einen Ausbruch von Atemwegs­erkrankungen in der Stadt Wuhan, der in Verbindung gebracht wird mit der Sars-Epidemie 2002–2003. Die städtische Gesundheits­kommission teilte am Dienstag mit, 27 Personen seien an einer viralen Lungen­entzündung erkrankt. Die meisten der Erkrankten hätten kurz davor einen lokalen Fisch­markt besucht, offenbar die mögliche Quelle des Ausbruchs. Die Gesundheits­kommission betonte, die Ursache der Erkrankung sei nach wie vor unklar, und rief die Bevölkerung auf, nicht in Panik zu verfallen.

Associated Press, 31. Dezember 2019.

Mike Davis, mit der Corona-Pandemie ist eine der Katastrophen, vor der uns 2005 Ihr Buch gewarnt hat, Realität geworden. Fühlt man da auch ein kleines bisschen Genugtuung, im Sinne von: «Ich habe es euch ja gesagt»?
Ganz im Gegenteil. Ich brüste mich nicht mit Katastrophen. Als Soziologe tendiere ich dazu, über Dinge zu schreiben, die mir Angst machen. Es ist meine Art, mit der Angst umzugehen. Schauen Sie, ich bin jetzt über siebzig Jahre alt. Die Pandemie hat in meinem unmittelbaren Freundes­kreis einen furchtbaren Tribut gefordert. Mein ältester Freund, den ich seit der zweiten Klasse kannte, ist daran gestorben. Und Michael Sorkin, ein lieber Freund von mir, den ich bewundert habe, Amerikas kreativster Architektur­kritiker und urbaner Denker, ist bereits im März daran gestorben.

Weil Sie ein Trio von Büchern zum Thema Globalisierung geschrieben haben, die sich mit der Geschichte der Auto­bombe, den globalen Hunger­katastrophen Ende des 19. Jahr­hunderts und der Bedrohung durch die Vogel­grippe befassen, nannte man Sie den «Propheten des Unter­gangs». Sehen Sie sich selber so?
Ich sehe mich als Werkzeug­macher. Ich versuche Analysen anzubieten, die nützlich sind. Dass ich jetzt recht bekomme, ist schmerzhaft.

Wie erleben Sie die Covid-Pandemie selber?
Meine Frau ist Mexikanerin. Wir leben in San Diego, 20 Kilo­meter von der Grenze entfernt. Von meiner Einfahrt aus kann ich Tijuana sehen. Obwohl meine Kinder in einem Mittel­klasse­haushalt leben, sind alle ihre Freunde mexikanische Immigranten, somalische Immigranten, Kinder aus schwarzen Familien aus der Arbeiter­klasse. Sie besuchen eine Highschool in einer bescheidenen Nachbarschaft, wo viele Familien wegen Covid ihre gesamte Existenz verloren haben. Und Mexiko, das wissen Sie wahrscheinlich, hat eine noch höhere Covid-Sterberate als die USA.

Zur Person

Cassandra Davis

Mike Davis, Soziologe aus San Diego, Kalifornien, ist Autor zahlreicher Bücher über Stadt­entwicklung. Der Fokus des emeritierten Professors für Kreatives Schreiben an der Universität von Kalifornien liegt unter anderem auf dem Thema Überwachung oder der Frage, wie durch Städtebau in US-Metropolen soziale Ungleichheit oder Rassismus befördert wurden. In seinen neueren Werken beschäftigt er sich unter anderem mit der Entstehung von Slums, mit Hunger­katastrophen und Pandemien.

Der «New Yorker» schrieb im April dieses Jahres in einer Neubetrachtung Ihres Werks, Sie hätten mit der Vogel­grippe eine Zombie-Apokalypse erwartet. Und mit dem Corona­virus stattdessen einen Asteroiden erhalten, der auf die Erde einschlägt. Hatten wir trotz des Schreckens von Covid-19 Glück im Unglück?
Leider gibt es viele Monster, die vor unseren Türen lauern. Unter den bedrohlichsten ist tatsächlich die Vogel­grippe: Das sind Influenza-A-Viren, die in Wildvögeln hausen, welche Haustiere anstecken. Dort können sie sich zu Hybridviren verbinden und auf Menschen überspringen. Diese Bedrohung ist nicht kleiner geworden.

Können Sie uns genauer erklären, wie das geht – vom für den Wildvogel harmlosen Virus zur tödlichen Gefahr für den Menschen?
Wilde Vögel sind das natürliche Reservoir für Influenza­viren. Die Viren sind für diese Vögel nicht gefährlich – genau so, wie das Corona­virus für die Fleder­mäuse auch nicht gefährlich ist. Die Viren leben in den Därmen dieser Vögel sowie im Wasser der kanadischen und sibirischen Seen, zu denen sie jeden Sommer zurück­kehren. Nun migrieren die Wildvögel. Auch nach Südost­asien, wo eines der genialsten landwirtschaftlichen Systeme der Welt erfunden wurde, ein sehr produktives System: Man pflanzt am selben Ort Reis, wo man auch Hühner oder Enten sowie Schweine aufzieht. Die Enten oder Hühner picken Insekten und Unkraut aus den Feldern, und die Wildvögel gesellen sich dort zu ihnen – und übertragen ihre Viren auf die Hausvögel. Und diese stecken dann die Schweine an.

Wie kommen sie vom Schwein zum Menschen?
Schweine haben sehr ähnliche Immun­systeme wie Menschen. Ein Schwein kann sich sowohl bei einem Menschen als auch bei einer Ente mit Influenza anstecken. Diese verschiedenen Influenza­viren können nicht nur punktuell mutieren, sondern gleich ganze Stücke ihres genetischen Materials miteinander austauschen innerhalb des Schweins. Am Ende haben Sie also einen Hybriden mit menschlichen Virenstämmen sowie mit Stämmen von wilden Vögeln, die für den Menschen tödlich sind. Und diese Hybride können von den Schweinen auf den Menschen überspringen. So entstand die Spanische Grippe 1918.

Sie folgerten in Ihrem Buch: Die industrialisierte Massen­tierhaltung wird uns in die Katastrophe führen. Warum? Bisher sprachen Sie von Wildvögeln und Hausschweinen.
Die industrielle Viehzucht verschärft jeden Teil dieser Interaktionen. An der Stelle einiger Hühner haben Sie nun Hundert­tausende von Hühnern in Massen­mästereien, welche die Kleinbauern in Südost­asien systematisch verdrängt haben. Auch Schweine werden in krasser Konzentration gezüchtet, dort wie hier. Ein Beispiel aus meiner Umgebung: Ich kenne einen Betrieb in der Wüste von West-Utah. Sie riechen ihn, lange bevor Sie ihn sehen, schon aus 30 Kilometern Distanz. Da leben 250’000 Schweine unter Bedingungen, die man sich fast nicht vorstellen kann, wo immer wieder Arbeiter sterben, weil sie in diese riesigen Teiche mit Schweine­exkrementen fallen. Eine albtraum­haftere Szenerie könnten Sie sich nicht ausdenken.

Arbeiter, die in Schweine­exkrementen ertrinken? Wovon sprechen Sie?
Die Fleisch- und Geflügel­produktion ist in den USA eine Niedriglohn­industrie. Die Arbeits­kräfte sind mehrheitlich mexikanische Immigranten. Das Tiefpreis­poulet, das zu einem wichtigen Teil der weltweiten Ernährung geworden ist, entsteht in Fabriken mit Fliess­bändern und automatischen Fütterungs­anlagen. Der Preis dafür ist hoch: für die Arbeiterinnen. Für die öffentliche Gesundheit. Für die Umwelt. Fast Food beruht auf dem Raubbau von Umwelt­ressourcen, der Zerstörung von Familien­farmen und der traditionellen Ökologie der Nahrungsmittelproduktion.

Was meinen Sie mit der «Zerstörung der traditionellen Ökologie der Nahrungsmittelproduktion»?
Vor ein paar Jahren verbrachte ich einige Zeit in Neufundland. Es war furcht­erregend. Eine Gesellschaft, fast fünfhundert Jahre alt. Die Menschen – die meisten leben in kleinen Fischer­dörfern – waren alle arbeitslos. Das Meer leer gefischt. Der Kabeljau, eine der wichtigsten Protein­quellen der Welt: weg. Die Überfischung durch Konglomerate, die dazu geführt hat, verschmutzt gleichzeitig den Ozean. Hier steht uns eine Lebensmittel­katastrophe bevor. Wir sprechen von Hunderten gigantischen, global agierenden Unternehmen, die zu Widersachern der Zukunft wurden. Ein anderes Beispiel: Traditioneller­weise wurde das meiste US-Schweine­fleisch auf kleineren Farmen gezüchtet. Sie wurden verdrängt durch Massen­zucht­betriebe, durch gigantische Produktions­systeme, wo immense Mengen von Kunst­dünger in den Boden geschüttet werden, um Mais und Weizen zu produzieren. Das hat das gesamte Mississippi­tal mit Stickstoff übersättigt und tötet küstennahe Meerestiere.

Tyson Foods hat sieben Top-Manager seiner grössten Schweine­fabrik entlassen, nachdem eine unabhängige Untersuchung Anschuldigungen bestätigt hatte: Die Manager haben Wetten darüber abgeschlossen, wie viele Arbeiter positiv auf das Corona­virus getestet werden würden. […] Ein Ausbruch um die Fabrik herum hat mehr als tausend Angestellte infiziert, mindestens sechs von ihnen sind gestorben.

ABC News, 17. Dezember 2020.

Sprechen wir hier überhaupt noch von Land­wirtschaft im klassischen Sinn?
Dieses vielstufige und komplexe System schliesst Akteure mit ein, von denen Sie sich möglicher­weise gar nicht denken, dass sie mit Land­wirtschaft zu tun haben: Erdöl­produkte und ihre Derivate, etwa Kunst­dünger, stellen einen immer grösseren Teil der landwirtschaftlichen Wert­schöpfung. Diese Industrie wird kontrolliert von multinationalen Konzernen, die in fast allen Bereichen der Agrar­wirtschaft aktiv sind, von genetisch designtem Saatgut bis zu Düngern. Sie produzieren zum Beispiel das Maisöl, das in amerikanischem Fast Food verwendet wird. Im Fleisch­sektor haben Konzerne wie Tyson Foods einst mächtige Gewerkschaften zerstört, die Löhne um mindestens die Hälfte gekürzt; Arbeits­kräfte – zumeist immigrierte Arbeiter – arbeiten nun unter den gefährlichsten Umständen, die Sie ausserhalb von Kohleminen finden können. Diese Konzerne sind angebunden an globale Fast-Food-Ketten. In den Jahren vor der Vogel­grippe konnte man eine Kentucky-Fried-Chickenisierung Asiens erleben. Es geht hier wirklich um globale Verflechtungen und Verzahnungen.

«Viren – das ist Evolution auf Steroiden.» Roger Ballen, «You cannot come back», 2011, Serie «Asylum of the Birds»

Die Top 10 der Hühnerschlachter (2018)

– China: 10 Milliarden Hühner pro Jahr.

– USA: 9 Milliarden.

– Brasilien: 6 Milliarden.

– Indonesien, Russland, Indien: je 2 Milliarden.

– Iran, Mexiko, Burma, Thailand: je 1 Milliarde.

Im Jahr 2018 wurden weltweit 69 Milliarden Hühner geschlachtet: 9 Poulets pro Mensch. 69 Milliarden: Das sind mehr Hühner, als zu einem gegebenen Zeitpunkt auf der Erde leben – nämlich rund 20 Milliarden –, weil sie, kaum aufgezogen, immer wieder weggeschlachtet werden.

In der Schweiz geschlachtet (2019): 72,5 Millionen Hühner.

Können wir noch einmal zurück­kommen auf die Super­mästereien, die Sekundentakt-Schlachtungen und ihre Rolle bei der Entstehung von Vogelgrippe, Schweine­grippe und Coronavirus?
Die Massentierhaltung ist eine Teilchen­beschleunigerin. Mehr Körper auf weniger Raum bedeuten mehr Chancen für die Entstehung von Mutationen oder Hybridviren und für ihre Verbreitung, egal bei welchem Virus. Jetzt versuchen wir gerade, dieses Corona­virus in den Griff zu bekommen. Das heisst aber nicht, dass die anderen Monster nicht weiter vor unseren Türen lauern. Die bedrohlichsten sind, wie gesagt: die Vogelgrippe­viren. Wir wissen heute, dass wir wohl nur eine einzige Mutation davon entfernt sind, dass einer der tödlichsten Stämme der Vogel­grippe pandemisch wird.

Pandemisch?
Dass sie auf den Menschen überspringt und sich erst von Mensch zu Mensch überträgt, dann von Land zu Land.

Wie kommt es so weit?
Viren, das ist Evolution auf Steroiden.

Wie bitte?
Die meisten Lebewesen reproduzieren sich langsam und sorgsam. Viren hingegen reproduzieren sich extrem schnell und ziemlich unsorgfältig. Sie sind wie ein Kopier­gerät: Sie dringen in ihre Wirte ein und kapern deren Zellen, um damit ihr eigenes Genmaterial zu kopieren, aber bei diesem schnellen Kopieren passieren ständig Fehler. Das nennt man Mutation. So entsteht eine unglaubliche Anzahl an Virus­variationen. Die meisten davon sind völlig bedeutungslos. Aber einige haben gefährliche Eigenschaften. Zum Beispiel Impfstoff­resistenz. Oder eine leichtere Übertragbarkeit, wie das im Februar mit einer Mutation des Corona­virus geschah. Das wurde erstmals in Italien offensichtlich und ist vermutlich einer der Gründe, warum Italien ein solches Epizentrum von Infektion und Tod wurde: Der dortige Ausbruch war dominiert von der neuen Mutation, die inzwischen überall zum üblichen Strang des Virus geworden ist.

Und deshalb sind auch die Influenza­viren so gefährlich?
Influenzaviren können zudem ganze Stücke ihres Erbguts austauschen. Im Schwein beispiels­weise kann sich ein relativ harmloses Grippe­virus, das unter Menschen seit langer Zeit zirkuliert hat, mit Genversatz­stücken einer Vogel­grippe neu kombinieren. Und dieser Hybrid kann dann vom Schwein auf den Menschen springen. So entsteht ein Monster. Darum ist diese Nähe der Massen­tierhaltung, wenn so viele Viren in so vielen Wirten auf so engem Raum leben, derart gefährlich.

Die Vogelgrippe­viren vor fünfzehn Jahren entstanden in Südost­asien. Sars tauchte erstmals in China auf. Das aktuelle Corona­virus auch. Warum eigentlich immer Asien?
Eine Vogelgrippe kann überall entstehen, sogar in subarktischen Regionen. Aber der Grund, weshalb Influenza-Ausbrüche in China gross werden, ist dieses hochproduktive landwirtschaftliche System, das domestizierte Vögel, Schweine sowie zwei Reis­ernten pro Jahr kombiniert und von dem Wildvögel ein natürlicher Teil geworden sind. Und die Massen­zucht von Geflügel erhöht diese Gefahr – egal wo auf der Welt. Auch die Zerstörung von Regenwald im Amazonas, mehrheitlich, um Rindfleisch für amerikanische Hamburger zu produzieren, birgt ähnliche virale Bedrohungen.

Warum?
Nehmen wir das Beispiel Westafrika. Die Geschichte des Kapitalismus ist auch eine Geschichte der Entstehung gefährlicher Viren, die er befördert. Wenn man Viren den Garaus machen will, muss man auch verstehen, wie sie zum Menschen kommen. Und da werden dann Fragen der politischen Ökologie oder der politischen Ökonomie zentral.

Zwischen Oktober 1980 und Mai 1981 wurden fünf junge Männer, alle sexuell aktive Homosexuelle, wegen Pneumocystis-carinii-Pneumonie in drei verschiedenen Spitälern in Los Angeles behandelt. Zwei der Patienten starben. Alle fünf hatten eine labor­bestätigte Infektion mit Cytomegalo­virus und infizierte Schleim­häute. Fallberichte dieser Patienten folgen.

Artikel vom 5. Juni 1981 des Forschers Dr. Michael Gottlieb. Es ist der erste publizierte Bericht über Symptome eines damals noch unbekannten Krankheits­verlaufs. Nach dieser Publikation meldeten sich Ärzte aus der ganzen Welt, die bei Patienten ähnliche Symptome entdeckt hatten. Man realisierte, dass man es mit einem neuen, tödlichen Virus zu tun hatte; mit dem, was kurz darauf als HIV/Aids-Epidemie bekannt werden sollte.

Was geschah in Westafrika?
Nirgendwo auf der Welt schreitet die Urbanisierung so schnell voran wie in Westafrika. Städter haben dort traditioneller­weise Proteine durch Fische aufgenommen, die lokale Fischer entlang der Küste fingen. Aber dann kamen Flotten aus Spanien, Russland, China, Japan. Wissenschaftler schätzen, dass sie die Hälfte der Fisch­biomasse im Golf von Guinea buchstäblich aufgesaugt haben. Das Resultat war, dass der Preis von Fisch und generell von Proteinen in Westafrika hochschoss und für die ärmsten Menschen unbezahlbar wurde. Gleichzeitig haben multinationale Holzfällerei­unternehmen die grossen tropischen Hartholz­wälder in Ländern wie Gabun, Kamerun, Kongo abgeholzt. Um ihre Kosten niedrig zu halten – sie mussten ihre Arbeiter ja ernähren –, haben sie Jäger angestellt, die alles geschossen haben, was ihnen vor die Flinte kam. Sechzig bis siebzig verschiedene Spezies wurden als Nahrungs­mittel verwendet, von Schlangen bis zu Schimpansen.

Und was ist dann passiert?
Als die Verfügbarkeit von Protein zur Krise wurde, wurde dieses bushmeat zur alternativen Protein­quelle. So ist Fleisch von Wildtieren zu einem wichtigen Teil der Ernährung westafrikanischer Städter geworden. Und das ist die Geschichte von HIV. Und Ebola. Diese Geschichte illustriert, wie zwei Arten von multinationalen Rohstoff­industrien für Virus­ausbrüche eine Mitverantwortung tragen: weil sie die lokalen Lebens­mittel­bedürfnisse völlig missachtet haben. Und missachten, wie wichtig es ist, Barrieren zwischen Menschen und natürlichen Viren­reservoiren, den Wildtieren, aufrechtzuerhalten.

Heisst das, wenn wir aufhören, Fleisch und Fisch zu essen, oder wenn wir zumindest anfangen, viel bewusster oder lokaler zu konsumieren, dass dann das Pandemie­problem verschwindet?
Nein. Fast jede Epidemiologin würde wohl dem folgenden Satz zustimmen: Covid-19 ist nur der Anfang und das erste Kapitel einer neuen Ära von Pandemien. Es sei denn, wir können die Grenzen zwischen solchen natürlichen Viren­reservoiren und Menschen kontrollieren und beibehalten.

«Die Lösungen gegen die Gefährlichkeit von Pandemien müssen Sie in den Slums suchen.» Roger Ballen, «Blinded», 2005, Serie «Asylum of the Birds»

Aber aufhören, Fleisch zu essen, sich bewusster ernähren – bringt das denn gar nichts?
Es wäre sicherlich ein wichtiger Teil einer Lösung, ja. Aber schauen Sie, wir sprechen hier über einen unglaublich gewaltigen Vorgang, über den viel zu wenig gesprochen wird: Der Kollaps kleiner Land­wirtschafts­betriebe und die Verlagerung hin zu Grossmärkten ist eine der grössten Veränderungen des letzten Jahr­hunderts. Noch 1965 gab es in den USA 53 Millionen Schweine in mehr als einer Million Farmen. 2009 waren es schon 65 Millionen Schweine in nur noch 65’000 Farmen. Es gibt eine extreme Konzentration von immer mehr Tieren auf immer weniger Raum.

Mit noch anderen Folgen, als dass diese Konzentration Viren befeuert?
Nehmen Sie China: Die rasende Urbanisierung hatte die Beschlagnahmung Hundert­tausender Bauern­höfe zur Folge. Und die Stilllegung von lebens­notwendigem Ackerland. Durch die Verdrängung der Land­wirtschaft geht uns das Essen aus: In der Mitte dieses Jahr­hunderts wird sich die Zahl unserer Erdbevölkerung laut Uno-Berechnungen auf dem Höhepunkt befinden. Bis dahin müssen wir unsere Getreide­produktion um 50 Prozent erhöht haben, wenn wir die Menschen versorgen wollen. Um dieses riesige landwirtschaftliche Wachstum erreichen zu können, ist es zwingend, dass die Zerstörung von kleinen Höfen gestoppt wird, die Zerstörung funktionierender Agrar­ökosysteme und ihre Ablösung durch das Agrar­business. Es reicht nicht, zu sagen: Wir in den reicheren Ländern ändern jetzt unser Konsum­verhalten. Die Sache ist viel komplizierter und vielschichtiger.


Die Konzentration und die Explosion der Geflügel­produktion in Asien nach US-amerikanischem Vorbild: In seinem Buch «The Monster at Our Door» über die gesellschaftliche Produktion von Pandemien beschreibt Mike Davis, wie eine Firma namens Charoen Pokphand (CP) mit Sitz in Bangkok in den Siebzigern inspiriert vom US-Konzern Tyson Foods ein industrielles Zucht-, Schlacht- und Vertriebs­imperium für Geflügel aufgebaut hat. Und somit die Hühner­produktion in Asien umgebaut hat von traditioneller Land­wirtschaft hin zu einem hochmodernen industriellen, «stromlinien­förmigen Prozess».

CP wurde zu einem Milliarden­unternehmen mit riesigen Fabriken ausserhalb Bangkoks: einem Imperium, das durch Verträge heute die meisten kleinen Geflügel­farmen im Land entweder verdrängt hat oder sie besitzt und steuert. Die Bauern wurden zu Fabrik­arbeitern auf ihrem eigenen Land. Ein Milliarden­imperium auch, das Geflügel nicht nur im Eiltempo züchtet, sondern auch selbst im grossen Stil an Konsumenten verkauft, und zwar mit der offiziellen Lizenz für Filialen von Kentucky Fried Chicken in ganz China, jenem US-Fast-Food-Unternehmen mit weltweit über 20’000 Restaurants. Der Slogan von CP lautet: «Die Küche der Welt».


Wenn Nahrungsmittel­produktion und Boden durch Reformen zurück in die Hände von kleinen Produzenten gelangen – stoppen wir so das anbrechende Zeitalter der Pandemien?
Die Macht dieser Konzerne müsste in der Tat zwingend reduziert werden. Und die industrielle Fleisch­produktion ist, wie ich bereits sagte, die Teilchen­beschleunigerin. Sie verstärkt die Möglichkeiten für genetische Veränderungen in Viren. Aber es gibt verschiedenste Schmelz­tiegel, in denen neue Viren­varianten auftauchen und auf den Menschen übertragen werden können.

Zum Beispiel?
Sars-CoV-2 hat man unter Fleder­mäusen gefunden. Es wurde vermutlich über einen Intermediär auf den Menschen übertragen. In der traditionellen chinesischen Medizin beispiels­weise ist der Verzehr verschiedener Arten von Tieren ein integraler Bestandteil der Behandlung – für Potenz­steigerung oder die Heilung von Krankheiten. In China wurde der Konsum von Wildtieren jetzt verboten und damit stark reduziert. Auch das ist ein wichtiger Schritt, um Krankheiten kontrollieren zu können. Wenn das Virus aber mal im Umlauf ist, kommt der Tourismus ins Spiel. Als Sars 2003 ausbrach, verbreitete es sich innerhalb von wenigen Stunden in sieben Ländern. Es trat in einem Hotel in Hongkong auf, voll mit Flug­passagieren. Sie haben die Infektion umgehend weiter­verbreitet. Und so etwas geschieht vor dem Hinter­grund einer steigenden Anfälligkeit für tödliche Krankheiten.

Wie meinen Sie das: eine steigende Anfälligkeit?
Als ich vor fünfzehn Jahren mein Buch über die Vogel­grippe schrieb, lebten eine Milliarde Menschen in Slums. Heute sind es 1,8 Milliarden. Das ist eine erhebliche Minderheit der Bevölkerung dieses Planeten. In diesen urbanen Elends­vierteln leben, sehr konzentriert, Menschen mit geschwächten Immun­systemen – wegen Hunger und weil Kanalisationen fehlen, Toiletten fehlen, sauberes Trinkwasser fehlt. Städtische Armut ist das beunruhigendste all dieser Ketten­glieder, die Pandemien fördern. Sie ermöglicht den perfekten viralen Sturm.

«Katastrophen kann man nur abwenden, wenn man ökonomische Macht demokratisiert.» Roger Ballen, «Encaged», 1996, Serie «Asylum of the Birds»

Mangelnde Hygiene, kaum Essen, dreckiges Wasser, keine sanitären Anlagen, Menschen und Tiere, die auf extrem engem Raum zusammen­leben: Sie nennen das den «perfekten viralen Sturm» …
Wenn Sie Lösungen wollen, um die Gefährlichkeit solcher Pandemien in Zukunft zu verringern, dann müssen Sie Lösungen für die Slums finden. Die sanitären Anlagen verbessern, die Einkommen der Menschen, die Hygiene. Die Kontrolle über die Urbanisierung der Welt ist ein wesentlicher Teil der Lösung, über die wir hier sprechen. Es braucht eine Macht­verschiebung hin zu den kleinen Produzenten und den Arbeitern in der Landwirtschaft.


Eine Frage der Macht­verhältnisse: Mike Davis hat in «The Monster at Our Door» minutiös dokumentiert, wie die politische Macht des Unter­nehmens CP schliesslich dazu geführt hat, dass der Ausbruch der Vogel­grippe H5N1 2002 fast ein halbes Jahr lang unerkannt blieb, obwohl die Welt­gesundheits­organisation WHO längt grosse Besorgnis geäussert hatte und schon zahlreiche Menschen gestorben waren, darunter viele Kinder.

Er zeigt auch auf, wie die Frühwarn­systeme von Demokratien funktionierten, während sie in autoritären Regimen oder konstitutionellen Monarchien versagten: Das demokratische Taiwan etwa hatte bereits früh gemeldet, dass in beschlagnahmten geschmuggelten Wildenten aus China H5N1 nachgewiesen worden sei – was die chinesische Regierung als «Propaganda» abtat. Als dann im November 2003 in Thailand, wo der CP-Konzern 80 Prozent der Geflügel­produktion kontrolliert und enge Verbindungen zur Regierung pflegt, plötzlich massenhaft Hühner auf Farmen starben, brachte die Regierung durch Drohungen die Wissenschaftlerinnen zum Schweigen, die in Kadavern das Vogelgrippe­virus entdeckt hatten. Während gleichzeitig auf Hühner­farmen Überstunden geleistet wurden, um Hundert­tausende Hühner zu schlachten. «Wir wussten nicht, was es für eine Krankheit war», zitiert Davis einen Arbeiter. «Aber wir realisierten, dass wir die Hühner beseitigen mussten, bevor die Inspektion kam.»

Erst als in Südkorea Menschen an H5N1 erkrankten, schlug die dortige Regierung Alarm. Die WHO realisierte, dass in Thailand, China und Vietnam sowohl Regierungs­stellen als auch Sprecher des Agrar­business und der Landwirtschafts­ministerien den Ausbruch des Virus geleugnet hatten, um das Geflügel­geschäft nicht zu gefährden. Die EU, die damals massen­weise – vermutlich mit H5N1 infizierte – Hühner importiert hatte, verhängte umgehend Embargos.

Nicht so die USA. Der ehemalige US-Präsident George H. W. Bush hatte von CP einst 250’000 US-Dollar erhalten, um für den Konzern zu lobbyieren. Auch der damalige US-Verteidigungs­minister Donald Rumsfeld verdiente mindestens eine Million US-Dollar am Ausbruch der Vogel­grippe. Rumsfeld war der ehemalige Aufsichts­rats­vorsitzende des börsen­notierten Unter­nehmens Gilead, welches das Grippe­mittel Tamiflu entwickelt hatte, das später von Roche vertrieben wurde. Trotz eines möglichen Interessen­konflikts hatte er nach der Ernennung zum Verteidigungs­minister seine Anteils­scheine an Gilead nicht abgestossen.

Geldsegen bei der Familie Bush, Elend bei den Hühnern: Um eine globale Vogelgrippe­pandemie zu verhindern, wurden damals auf der ganzen Welt 120 Millionen Tiere lebendig begraben, verbrannt, durch Stromschläge getötet, vergast.


Mike Davis, Sie sagen, wir könnten zwar weniger Fleisch essen, aber letztlich genüge das nicht. Sie sagen: Alles ist verbunden. Die Slums, unser Luxus, die Viren in zusammen­gepferchten Tier­körpern, die industrialisierten Fleisch­produktions­stätten, die wie Chemie­fabriken funktionieren. Können Sie nicht nachvollziehen, dass man Sie in Ihrer Heimat «den Meister der Katastrophen-Prosa» nennt?
Schauen Sie, ich bin wie eine alte Schallplatte. Ich bin ein Sozialist alter Schule, und ich bin davon überzeugt, dass man Gesellschaften nur grund­sätzlich verändern und Katastrophen nur abwenden kann, wenn man ökonomische Macht demokratisiert. Für mich ist die entscheidende Frage, wie man Macht kontrolliert, die es etwa einer Handvoll Leuten erlaubt, eine lebenslange Industrie einer Stadt zu schliessen und sie nach Übersee zu verlagern, wie wir es in den USA wieder und wieder gesehen haben. Es geht darum, demokratische Eigentümerschaft zu vergrössern, was überhaupt nicht dasselbe ist wie staatliche Eigentümerschaft. Und das wiederum beginnt damit, dass man wichtige öffentliche Institutionen bewahrt.

Zum Beispiel?
Um ganz konkret bei der Pandemie zu bleiben: China und die USA hatten 2009 in Ostasien ein Pandemien­frühwarn­system errichtet, mit dem in den vergangenen Jahren über hundert möglicher­weise gefährliche Corona­viren entdeckt wurden. Im September 2019 dann, drei Monate vor dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie, hat Donald Trump dem Frühwarn­system die Mittel gestrichen und es eingestellt.

Sie arbeiteten als junger Mann als Arbeiter in einer Fleisch­fabrik. Hat Ihr Blick auf die Fleisch­industrie Ihre Arbeit als Wissenschaftler, gerade in Bezug auf die Pandemie, beeinflusst?
Auf dem ersten Sticker, der hinten an meinem Auto klebte, stand American Beef, «amerikanisches Fleisch». Mein Vater arbeitete in der Fleisch­industrie, ebenso mein Onkel, meine Cousins. Ich entstamme einer Familie von Metzgern. In der dritten Klasse war es üblich, dass der Vater vorbeikam, um zu zeigen, womit er sein Geld verdient. Die Mütter nicht. Die waren daheim. Es war eine patriarchale Gesellschaft. Mein Vater also tauchte in seiner weissen Schürze auf und zerhackte vor der ganzen Klasse Schweine­rippen. Das war er, mein Vater. Lebens­langes Mitglied der Gewerkschaft, die dann kurz vor seiner Pensionierung pleiteging, und somit stand der alte Mann ohne Gesundheits­vorsorge da und verlor das gesamte finanzielle Netz der Familie. Der Kollaps der Gewerkschaft und der Absturz meiner Eltern in die Alters­armut waren eine Folge des Aufstiegs riesiger Fleisch­produktions­konglomerate, die plötzlich die lokalen Märkte belieferten, hier in San Diego etwa, wo ich aufgewachsen bin, und die kleinen Firmen und Metzger verdrängten.

Zu den Bildern

Die Bilder stammen alle aus der Serie «Asylum of the Birds» des amerikanischen Fotografen Roger Ballen. Aufgenommen hat er sie in einem Vorort von Johannes­burg, Südafrika, zusammen mit lokalen Bewohnern. Ballen gilt als einer der originellsten Bilder­macher des 21. Jahrhunderts. Seine Bilder sind reich mit Graffiti, Zeichnungen, Tieren und gefundenen Gegen­ständen überlagert und liegen irgendwo zwischen Stillleben und Porträt.