Liebe Leserinnen und Leser
Erinnern Sie sich noch an Peter Bichsels Kindergeschichte aus dem Frühjahrs-Lockdown? Genau genommen wars eine Kindergeschichte über Kindergeschichten, eine coronafreie Fabel, und die Message lautete (wenn wir das mal etwas grob-bichselig zusammenfassen dürfen): Der Mensch braucht Geschichten! Lesestoff. Coronafreie Zonen.
Weil wir danach wieder gestärkt dem Virus und den Widrigkeiten trotzen können.
Deshalb hat Republik-Literaturexperte Daniel Graf noch ein paar Last-Minute-Empfehlungen für Ihren Wunschzettel gesammelt.
Zum Beispiel das prächtigste Buch des Jahres: «Welt der Renaissance». Ein grossformatiges Wimmelbild der italienischen Epoche, intellektuell funkelnd, voller Witz und gestalterisch, bis hinein in winzige Details, eine Verneigung vor der Kunst des Büchermachens. Ach so … fast hätten wir verschwiegen, dass es in dem Band natürlich auch um die Pest von 1348 geht. Die folgenden Lektüretipps sind aber vollständig pandemiefrei, versprochen!
Ein dicker Band zur Renaissance ist Ihnen ohnehin zu opulent?
Dann nehmen Sie einfach «Das Gramm». So heisst das Magazin für Kurzgeschichten, das der Zürcher Lektor Patrick Sielemann soeben gegründet hat. Die Idee: alle zwei Monate eine Ausgabe – bestehend aus einer einzigen Short Story. Den Start macht der Erzählvirtuose Clemens J. Setz.
Ebenfalls ideal für die Kurzstrecke: das Erzähldebüt von Anaïs Meier. «Über Berge, Menschen und insbesondere Bergschnecken» ist im Berliner Verlag Mikrotext erschienen – und wie liesse sich dem Verlagsnamen schöner die Reverenz erweisen als mit Meiers grossartig-skurrilen Erzählminiaturen aus den Untiefen der Schweizer Lebenswelt. «Die Berge», schreibt Meier, «sind hoch und fies.» Wir sind also gewarnt. Dann gehts zum Yodli, nach Hindelbank, in den Coop Wiedikon oder ins Emmental, wo auf allen Bauernhöfen Schildkröten gehalten werden, der älteste Schildkröt einen Ehrentitel trägt und die Dorfgemeinschaft sich auch gegen die Einführung des Frauenstimmrechts bestens gepanzert hat.
Womit wir schon beim Sachbuch-Part wären.
In gut sechs Wochen wirds nämlich historisch in Helvetia. Am 7. Februar 2021 jährt sich zum 50. Mal der Tag, seit dem es hierzulande ein allgemeines Stimm- und Wahlrecht für Frauen gibt. 50 Jahre Frauenstimmrecht! Man könnte auch sagen: 50 Jahre Demokratie in der Schweiz. Also … weitgehend zumindest. (Grüsse Richtung Ost- und Innerschweiz!)
Das Jubiläum jedenfalls – Appenzell Innerrhoden variiert halt auf 30-Jahr-Feier – ist Anlass genug, in die Geschichtsbücher zu schauen. Und zu fragen, wie es um Fragen der Gleichberechtigung heute bestellt ist.
Dazu gibt es gleich mehrere empfehlenswerte Neuerscheinungen: Isabel Rohner und Irène Schäppi haben Porträts, Essays und Gespräche von 25 Frauen zum Thema versammelt. Der Hier-und-jetzt-Verlag dokumentiert unter der Herausgeberschaft von Denise Schmid die vergangenen 50 Jahre Schweizer Frauengeschichte. Und der Rotpunktverlag schickt, ebenfalls vielstimmig, einen ironischen «Gruss aus der Küche».
Nahegelegt sei die Lektüre auch jenem Viertel der hier lebenden Bevölkerung ohne Schweizer Pass, der – geschlechterübergreifend – noch immer keine politischen Mitbestimmungsrechte hat. Die Geschichte zeigt: Kann noch werden. Aber kommt nicht von allein.
Übrigens: Vor kurzem hat in Italien ein Buch von 2019 noch einmal für Aufsehen gesorgt. Es trägt den Titel «Warum Salvini Vertrauen, Respekt und Bewunderung verdient» – und besteht ausschliesslich aus leeren Seiten. 110 Seiten an der Zahl. Das sind ein paar mehr als bei einem Vorläuferbuch aus Deutschland.
Und damit zu anderen Zahlen und Themen.
Die wichtigsten Nachrichten des Tages
Die Romandie verschärft ihre Massnahmen wieder. Ab Samstagabend bleiben die Restaurants in den Kantonen Fribourg, Waadt, Neuenburg und Wallis geschlossen. Das gilt mit Ausnahme der Waadt auch für die Skipisten. Damit verzichten diese Kantonsregierungen auf die bundesrechtlich noch zulässigen Ausnahmemöglichkeiten. Sie wollen ihre Regeln mit den Nachbarkantonen Genf, Bern und Jura koordinieren.
Der Kanton Solothurn schliesst seine Einkaufsläden und Märkte ab dem 27. Dezember. Der Regierungsrat spricht von einer bedrohlichen Situation in den Spitälern. Damit folgt Solothurn dem Nachbarkanton Aargau, der seine Einkaufsläden bereits geschlossen hat. Nebst Lebensmittelläden gibt es Ausnahmen für Apotheken und Drogerien und andere Läden. Die Solothurner Skigebiete Balmberg, Grenchenberg, Hohe Winde und Holderbank dürfen ihren Betrieb nicht aufnehmen.
Die EU-Kommission ist trotz neuer Corona-Mutation in Grossbritannien gegen pauschale Flug- und Zugverbote. Das empfiehlt die Kommission den EU-Staaten heute. Die Möglichkeit für unverzichtbare Reisen soll sichergestellt und Unterbrechungen von Lieferketten vermieden werden.
Und zum Schluss: Erste Impfos
Womöglich sind der Co-Autorin dieses Newsletters im ewigen Loop zwischen Pressekonferenzen und Schreibarbeit ein bisschen die Wortspiel-Pferdchen durchgegangen – Spass beiseite: Das Motto der Schweizer Impfkampagne des Bundes lautet «Informieren Sie sich». Gemeint ist: Der Entscheid zum Impfen soll von der Bevölkerung freiwillig und gut informiert getroffen werden, so die heutige Mitteilung der Behörden.
Denn sie ist endlich da, die Impfung.
Wann wird gestartet?
Heute Morgen ist die erste Lieferung des Impfstoffs von Pfizer/Biontech in der Schweiz eingetroffen. 107’000 Dosen wurden laut Armee geliefert.
Diese Woche sollen die ersten Personen in der Schweiz geimpft werden können.
Wann geht es in meinem Kanton los?
Einige Kantone beginnen bereits vor Weihnachten – die meisten peilen die ersten beiden Januarwochen für den Start an. Eine Übersicht mit Informationsseiten und Hotlines der Kantone finden Sie hier.
Wer wird zuerst geimpft?
Da am Anfang nur wenige Impfdosen erhältlich sind, priorisiert der Bund zunächst gemäss seiner Impfstrategie. Diese ist vergleichbar mit anderen europäischen Ländern. Priorität haben:
Besonders gefährdete Personen.
Gesundheitspersonal sowie Betreuer von besonders gefährdeten Personen.
Enge Kontakte von besonders gefährdeten Personen (z. B. im gleichen Haushalt).
Menschen in Gemeinschaftseinrichtungen mit erhöhtem Infektions- und Ausbruchsrisiko.
Bei Impfstoffknappheit (was sicher am Anfang der Lieferungen der Fall ist) werden zunächst Menschen über 75 Jahre sowie solche mit chronischen Krankheiten priorisiert.
Wann sollte ich mich nicht impfen lassen?
Während einer akuten Covid-19-Erkrankung sollte nicht geimpft werden, sagte heute Christoph Berger, Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen. Drei Monate nach einer Erkrankung könne geimpft werden. Nur bei einer schweren Allergie gegen Bestandteile des Impfstoffes sollte nicht geimpft werden.
Wie läuft so eine Impfung ab?
Republik-Autor Haluka Maier-Borst ist Wissenschafts- und Datenjournalist – hat seinen Pikser bereits erhalten: Er stellte sich für eine Studie zur Verfügung. Was das Impfen mit ihm (und seinem Umfeld) machte, hat er aufgeschrieben: «Während die einen sich für meine Heldentat für die Menschheit bedanken, fragen die anderen, ob sie mich noch treffen dürfen. Und ich? Ich führe Tagebuch über meine Wehwehchen. Es ist, wenn überhaupt, die langweiligste aller Heldentaten.» Das Wehwehchen-Tagebuch ist für Verlegerinnen der Republik zugänglich.
Noch was:
Wir haben bereits in zwei anderen Newsletter-Ausgaben aufgeschrieben, warum diese Impfung schneller entwickelt wurde als sonst. Und was es mit mRNA auf sich hat.
Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.
Daniel Graf und Marguerite Meyer
PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.
PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.
PPPS: Nun sind wir schon am Ende dieses Newsletters und haben noch nicht erwähnt, dass Sie unbedingt auch zu Ben Lerners spektakulärem Amerika-Roman «Die Topeka Schule» und zu Maren Kames’ somnambul flackerndem Gedichtband «Luna Luna» greifen sollten.
PPPPS: Heute haben wir in der Republik ein Buch zur «weiblichen Revolution» in Belarus vorgestellt. Und erklärt, warum sich dessen Lektüre unbedingt lohnt.
PPPPPS: Stöbern Sie getrost auch in den Empfehlungen hier, hier oder hier – gute Bücher veralten nicht so schnell.
PPPPPPS: Unser Literaturredaktor meint, wir können auf keinen Fall aus diesem Newsletter raus, ohne folgende Namen unterstrichen zu haben: Clarice Lispector! Christine Wunnicke! Zora Neale Hurston! Elke Erb! (Kurzgeschichte von Wolfgang Herrndorf aufgetaucht! Also wirklich kurz.) Adieu!