Hellas Helvetia
Seit August ist der griechische Schriftsteller Christos Chryssopoulos als «Writer in Residence» in Zürich. Er liest Dürrenmatt und erkennt darin den heutigen Umgang mit Flüchtlingen. Und dann ist da noch die Pandemie.
Von Christos Chryssopoulos (Text), Daniel Graf (Übersetzung aus dem Englischen) und Tim Dinter (Illustrationen), 05.12.2020
Es sind nun einige Monate, dass ich in Zürich lebe, hoch oben an einer steil ansteigenden Strasse in Hottingen. Wenn ich am Tisch meines Eckbalkons sitze, sehe ich nur die Kirchturmspitzen der Stadt, weit unterhalb der Bäume. Ich verfolge die Nachrichten aus Athen. Hin und wieder spreche ich mit ein paar Freunden zu Hause. Ich mache lange Spaziergänge.
Lesen ist das tägliche Brot eines Autors. Und mein Lesetempo in Zürich ist genussvoll niedrig. Dürrenmatts Essays sowie seine Korrespondenz mit Max Frisch (die recht schmal ist, lediglich 33 Briefe zwischen 1947 und 1966). Beides las ich in englischer Übersetzung – Bücher, die ich im Regal meiner Stipendiatenwohnung fand. Ohne tieferen Hintergedanken beschloss ich, sie im Lauf meines Aufenthalts zu lesen: langsam und im Wechsel. Sie würden meine Schweizer «Kinderreime» sein.
Meine Wirklichkeit hier ähnelt einem Fotofilm, der versehentlich mehrfach belichtet wurde. Sich überlagernde Bilder verschmelzen miteinander, die einzelnen Bestandteile werden bis zur Unschärfe verwischt. Das entstehende Negativ ergibt dann weniger eine paradoxe neue Landschaft, sondern vielmehr eine Reihe unverbundener Objekte, von denen jedes einzelne daran scheitert, auf seinen Ursprungskontext zu verweisen.
So lebe ich seit ein paar Monaten. Zu meinem Leben im Unvertrauten – keineswegs im Unkomfortablen – gehört das Privileg des Reisens: der Reichtum, der darin besteht, eine Zeit lang an einem fremden Ort zu leben. Meine Gedanken und Impressionen schaffen unvorhergesehene Assoziationen. Weit Entferntes geht in meinem Kopf irritierend leicht eine Verbindung ein.
Und so stiess ich zufällig im Internet auf dieses Foto.
Ein Mann, der mein Alter haben könnte. Er trägt ein weisses Hemd und eine schwarze Hose, in seiner Brusttasche steckt, eng zusammengefaltet, ein Stoss Papier: einer der vielen Migranten, die derzeit unter freiem Himmel auf dem Viktoriaplatz leben, nur ein paar Blocks von meiner Athener Wohnung entfernt. Der Mann sitzt auf einem niedrigen Betonpfeiler, doch seine Hosenbeine hängen leer herab. Seine beiden künstlichen Gliedmassen liegen auf dem Asphalt, ordentlich in ein Paar schwarzer Socken und in glänzende schwarze Schuhe gekleidet. Sein Gesicht hat der Mann in den Händen vergraben. Nur sein Körper – ein halber Körper – scheint anwesend unter all den anderen Geflüchteten. Er selbst wirkt auf verstörende Weise abwesend.
Als mir das Foto das nächste Mal in den Sinn kam, hatte bereits ein Stück Text es überlagert. Dürrenmatt. In einem einzigen kurzen Abschnitt gelingt es ihm, mit scharfer Ironie den Finger auf die Wunde zu legen:
Wir liessen unsere Opfer nicht ins Land oder schoben sie wieder über die Grenze und damit aus unserem Bewusstsein. (…) Wir hielten an unseren Idealen fest, ohne sie unbedingt anzuwenden, wir schlossen die Augen, ohne gerade blind zu werden. Tell spannte zwar die Armbrust, doch grüsste er den Hut ein wenig – beinahe fast nicht –, und das Heldentum blieb uns erspart.
Es ist meisterhaft, wie der Autor die gängige Erzählung mit einem Störgeräusch versieht; aber Virtuosität ist hier nicht der Punkt. Wichtig ist vor allem, dass er die geschichtliche Anekdote in eine beissende Metapher verwandelt, die uns in die unbequeme Lage bringt, sie gemäss unserer Ideologie, unseren Überzeugungen und unserer Politik neu interpretieren zu müssen – was uns beständig der Gefahr offener Widersprüche aussetzt.
Dürrenmatts Worte kamen mir wieder in den Sinn – und verbanden sich mit der materiellen Realität vor meinen Augen –, als ich eines Abends einen langen Spaziergang über den Friedhof Sihlfeld machte, vorbei am alten Krematorium. Als ich die einzelnen Reihen entlangging, umgeben von Stille und Schweigen, bemerkte ich eine frappierende Abwesenheit … 1915–1994, 1930–2006, 1923–1995, 1906–1994 … keine Kriegsopfer!
Auf solche Weise schaffen Geschichten – schafft die Geschichte – Mehrfachbelichtungen. Ein Schweizer Autor kommentiert die Haltung seines Landes zur Unmenschlichkeit im Nachbarland – und ich erblicke darin aus der Ferne die gegenwärtige Inhumanität in meiner eigenen Heimat. Mit exakt denselben Worten, nur ins Präsens verschoben, denke ich an den versehrten Mann auf dem Betonpfeiler, auf dem Platz meines Heimatviertels: «Wir halten an unseren Idealen fest, ohne sie unbedingt anzuwenden, wir schliessen die Augen, ohne gerade blind zu werden …» Und das, wo wir uns doch so nach Helden sehnen.
Es hat sich einiges ereignet in meinem Land, seit vor einigen Wochen dieses Foto geschossen wurde. Migrantinnen und Migranten wurden von der Bereitschaftspolizei gewaltsam von dem Platz vertrieben. Das grösste Flüchtlingscamp Europas, in Moria auf der Insel Lesbos, wurde durch einen Brand zerstört. Die Geflüchteten wurden in ein neu errichtetes – aber genauso trostloses – Zeltlager auf der Insel gebracht. Spannungen mit der Türkei durchziehen die Ägäis. Ein starkes Erdbeben hat Opfer auf beiden Seiten des Meeres gefordert. Und natürlich hat die herbstliche Covid-Welle mehrere Städte in den Shutdown befördert, einschliesslich Athen.
In meinen Augen verlief das Leben in Zürich weniger katastrophisch. Natürlich, die Pandemie ist der gemeinsame dramatische Nenner. Und dennoch: all die verschiedenen Schichten, die übereinanderliegend das fragmentarische Bild meiner Wirklichkeit formen, während ich schreibe: die Geflüchteten, der leere Platz, meine Hottinger Wohnung, meine Tramfahrten, die Pandemie, meine Chats im Internet … sie alle tragen zu einem beklemmenden Gefühl der Unsicherheit und des Ausgesetztseins bei. Ein verbreitetes Gefühl, in Athen ebenso wie in Zürich.
Seit September fliege ich alle paar Wochen für ein paar Tage zurück nach Athen, um Zeit mit meiner dreijährigen Tochter zu verbringen, die bei ihrer Mutter lebt und die Realität unserer räumlichen Entfernung nicht immer begreifen kann. Oft glaubt sie, den Videochat mit ihr führte ich von meiner Athener Wohnung aus. Dann sage ich ihr, dass ich in der Schweiz bin, zeige ihr die Bäume vor dem Fenster, und sie ist verwirrt. Ihre Wirklichkeit besteht aus ganz anderen Mehrfachbelichtungen.
Bei einem meiner Rückflüge von Athen nach Zürich war im Flugzeug auch eine Familie, die Asyl suchte. Sie kamen spät an Bord. Sie wurden zu ihren Sitzen eskortiert und sassen alle zusammen im hinteren Teil des Flugzeugs; sie waren ungefähr zu zehnt, Erwachsene und Kinder.
Ich steige immer gern als Letzter aus dem Flugzeug, und als wir landeten, stand ich gemeinsam mit den Geflüchteten auf. Am Ausgang gab es stichprobenartig Ausweiskontrollen. Die ihre war schnell erledigt. Sie wurden bereits von Polizisten in Zivil erwartet. Und gingen schliesslich wortlos dorthin, wo immer ihr neues Leben beginnen würde.
Als die Reihe an mir war, kam mir die Idee, das Schweizer Ausweisdokument zu zeigen, das mir ausgestellt worden war, als ich im August zum ersten Mal hier eintraf. Die Polizistin warf einen ungläubigen Blick darauf und fragte dann, ob ich auch einen griechischen Pass bei mir hätte. Ich zeigte ihn vor und witzelte: «Es ist dieselbe Person auf den Fotos.» Ohne ein Lächeln liess sie mich passieren.
Einmal mehr hatte ich verstanden, dass sich verschiedene Schichten übereinanderlegen müssen, um ein vollständiges Bild zu ergeben – in diesem Fall von meiner Person. Auch wenn mein Gesicht wirklichkeitsgetreu und klar erkennbar auf die offiziellen Dokumente gedruckt war.
Als ich an diesem Abend zu meiner gemächlichen Dürrenmatt-Lektüre zurückkehrte, war mein Ausgangspunkt der folgende:
Was einmal vernünftig war, kann paradox werden. (…) [König Lears] politischer Irrtum besteht darin, dass er glaubt, eine geordnete Welt errichtet zu haben. (…) Lear ist ein König, der sich in einer Welt zur Ruhe setzen will, die er für geordnet hält, die in Wahrheit ungeordnet ist. Lear ist einem Atlas zu vergleichen, der sich ausruhen will: Die Welt, die er fallen lässt, begräbt ihn.
Hier nun erinnere ich mich sehr genau an den Moment, in dem sich diese Schicht ganz oben auf den Stapel meiner verzerrten Wahrnehmung legte. Ich fuhr mit dem 8er-Tram. Wir nahmen die Abwärtskurve Richtung Kreuzplatz. Als ich aus dem Tramfenster schaute, wurde mein Blick vom Geräusch und von der Wärme meines Atems durch die Maske begleitet. Ich bemerkte, wie vertraut mir das Gefühl des bedeckten Mundes inzwischen war. Und ich dachte: Das gilt auch für unsere neue Vertrautheit mit dem Gefühl der Zusammengehörigkeit – und zugleich der «Un-Zusammengehörigkeit» – während dieser Pandemie.
Ganz unerwartet wurde die geordnete Welt, in der wir zu residieren glaubten, zu einer ungeordneten. Die Schichten im Stapel wurden neu kombiniert. Als wären wir König Lear, wurde unsere Vorstellung von einem geordneten Erbe und Vermächtnis urplötzlich über den Haufen geworfen. Unsere halb versteckten Gesichter kamen zum Vorschein. Unsere Hände: berührungsscheu. Unsere Stimmen: immer ein wenig erhoben, damit sie die Distanz zwischen zwei bedeckten Mündern überwinden.
Nun sind zwischen uns die Grenzen unserer ganz persönlichen Biopolitik errichtet. Unsere Körper geben uns die Beschränkungen vor. Der Radius der epidemiologisch verordneten zwei Meter. Unsere Maske. Unsere Handschuhe. Unser Desinfektionsmittel. Das Taschentuch, das unser Handy reinigt …
Und so treten, durch unser eigenes biopolitisches Beispiel, unsere moralischen Massstäbe zutage: das Vergehen dessen, der auf der alten Etikette besteht, die Rücksichtslosigkeit der Jungen, der antisoziale Eifer der Reaktionäre, die Naivität des Gläubigen, die Sorgfalt der peinlich Genauen. Individuelles Verhalten und seine Wirkung im Körper der Gesellschaft bringen die ephemere Ethik unseres gegenwärtigen Lebens hervor. Ein Leben, von dem unklar ist, ob es jemals wieder ganz zu seinen vormals vertrauten Normen zurückkehren wird.
Ich gehe häufig spazieren. Das ist für mich eine Gewohnheit und eine Methode gleichermassen. Vor einigen Tagen ging ich im nächtlichen Zürich die zwölf Kilometer, die meine Wohnung im Zentrum von Athen von dem Haus in den Nordathener Vororten trennen, wo die, die ich am meisten liebe, mit ihrer Mutter lebt. Langsam und wachsam durchquerte ich die Strassen, die Brücken, die Passagen und schritt mit meinem inneren Navigationsgerät in einer Schweizer Stadt die griechische Strecke ab.
Als ich nachts allein diesem stillen Vektor folgte, ging es mir, in einem sehr wörtlichen Sinn, einzig um Atem und Distanz. Ich vermisste meine Tochter. Meine Wirklichkeit bestand wieder aus einer Mehrfachbelichtung. Die Städte und Strassen schoben sich übereinander. In dieser Nacht überreichte ich ihr schon all die Geschenke, die ich so erwartungsvoll für sie gekauft hatte.
Jetzt schreibe ich diese Schlusszeilen am Flughafen von Athen, an diesem Nicht-Ort zwischen Abflug und Ankunft. Die Geschenke wurden ordnungsgemäss übergeben. Bald werde ich ein weiteres Mal nach Zürich zurückkehren, nach einem erneuten – und dann letzten – Besuch in Athen. Und wie ich da, bildlich gesprochen, zwischen Griechenland und der Schweiz hocke, versuche ich meinen eigenen «unbequemen Einblick» zu finden, wie ihn Dürrenmatt von einem Schriftsteller verlangt:
Ob ich ein guter Schriftsteller bin, weiss ich nicht, und ich kümmere mich nicht sehr um diese müssige Frage; aber ich hoffe, dass man von mir sagen wird, ich sei ein unbequemer Schriftsteller gewesen.
Und einmal mehr ordnen Schichten sich neu …
Ich verlasse Griechenland enttäuscht und wütend, weil es durch strukturelles Unvermögen und politisches Spekulantentum auf so eklatante Weise in einen repressiven Staat verwandelt worden ist.
Eine Regierung, die sich nichts leisten kann ausser die eigene Grobheit, reagiert auf die gegenwärtige Notlage mit schamloser politischer Arroganz, gewaltsamer Repression und der Manipulation der Medien durch öffentliche Gelder. Als Reaktion auf die Pandemie kennt die regierende Rechte einzig und allein die unverhältnismässige und pauschale Verschärfung der Restriktionen. Unter dem Vorwand der Pandemiebekämpfung bedient sie ihre Klientel, die seit langem die Wiederherstellung von «Recht und Ordnung» im Land fordert, und verwöhnt sie die grossen, mit ihr verpartnerten Unternehmen: Vorschläge zur Abschaffung des Achtstundentages, zusätzliche Einschränkungen im Streikrecht, Leistungskürzungen für Arbeitslose und so weiter.
All das lasse ich hinter mir, als sich mein Status wieder von dem des Einwohners zu dem des Gastes ändert. Es fällt mir leichter, mich in der Schweiz einer selbstzufriedenen Bequemlichkeit hinzugeben, genauso wie ich mich bestimmt auch leichter täusche, wenn ich glaube, hier gehe immer alles so glatt wie mein abendlicher Spaziergang den Hügel hinab. Ich weiss von diesen Dingen sehr wenig, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass es sich die Politik an Orten, denen es an Ressourcen nicht mangelt, immer ein wenig länger erlauben kann, sich in einer bequemen Unentschlossenheit einzurichten – mit dem üblichen Argument, dass man besser an der bewährten Prioritätensetzung festhalte, als sie ganz neu zu definieren. Was politisch am dringlichsten ist, sollte allerdings immer neu zur Diskussion stehen …
Während ich darauf warte, die Decke zu überfliegen, unter der diese Pandemie herrscht, beende ich diesen Text in verhaltener Erwartung. Ich hoffe auf ein baldiges Ende der Pandemie. Ich hoffe, das Leben nach Covid wird sich zum Positiven ändern. Und habe meine Zweifel. Ich hoffe auf freudvollere Zeiten. Ich rechne mit der nächsten unerwarteten Wendung. Ich freue mich darauf, mich gegen mein Hottinger Fenster zu lehnen.
Christos Chryssopoulos, 1968 geboren in Athen, wo er auch heute überwiegend lebt, ist Schriftsteller und Übersetzer. Seine Bücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Mit «Parthenon» erschien 2018 sein erster Roman auf Deutsch. Chryssopoulos ist Mitglied des Europäischen Kulturparlaments, hat das internationale Literaturfestival «Dasein» in Athen gegründet und schreibt regelmässig für griechische und internationale Medien. Auf Einladung des Literaturhauses Zürich und der Stiftung PWG ist er von August bis Dezember 2020 als «Writer in Residence» in der Stadt.