Festtage mit vollem Risiko!
Der Bund kündigt minimalistische Massnahmen gegen Covid an, die Skiorte bekommen ihr Weihnachtsgeschäft. Welche Werte sind für die Schweiz eigentlich noch unverhandelbar?
Von Daniel Binswanger, 05.12.2020
Jetzt kommt er also zum x-ten Mal, diesmal in der Adventsausgabe: der freundeidgenössische Corona-Kompromiss. Die aktuelle Situation ist, wie Bundesrat Alain Berset nicht zu betonen versäumte, äusserst bedrohlich. Die epidemiologische Lage steht von neuem kurz davor zu kippen. Natürlich gibt es trotzdem keine einschneidenden Massnahmen, sondern mühsam ausgefeilschte Halbheiten. Und selbstverständlich nicht zu vergessen: eine erneute föderale Vernehmlassung.
Was besagt das konkret? Keine obligatorische Zwei-Haushalte-Regel, wie sie der Gesundheitsminister wünschte, stattdessen eine Empfehlung. Keine Homeoffice-Pflicht, wie sie der Gesundheitsminister erneut gefordert hat, stattdessen eine nochmalige Empfehlung. Eine Erhöhung der vorgeschriebenen Grundfläche pro Kunde in grossen Geschäften. Keine konkreten Vorgaben an die Kantone, aber die Drohung, solche könnten nächste Woche gemacht werden – sollten die Kantone nicht autonom zur Tat schreiten. Schliesslich und endlich: keine Kapazitätsbeschränkungen für Skigebiete, aber Fahrgastbeschränkungen in Bahnen und Gondeln.
Erneut sind die Massnahmen so minimalistisch, wie grade noch irgend möglich. Erneut setzen wir alle unsere Chips auf das Prinzip Hoffnung. Fingers crossed! Es kann nicht sicher ausgeschlossen werden, dass die Rechnung sogar aufgeht.
Nein, es ist ja nichts Neues. Seit längerem gibt die Schweizer Covid-Politik eine Reihe nagender Rätsel auf: Was ist das für ein Land, in dem der Bund ständig darauf zu drängen scheint, dass die Kantone handeln, die Kantone aber immer wieder abwarten, bis die unverzichtbaren Massnahmen vom Bund diktiert werden? Und das in einer Situation, in der jeder verlorene Tag zahlreiche Menschenleben kostet?
Was ist das für ein Land, in dem unter Ökonominnen Konsens herrscht, dass der volkswirtschaftliche Schaden nur durch die entschlossene Eindämmung der Epidemie minimiert werden kann, in dem aber jede Anti-Covid-Massnahme vom lautstarken Gebrüll irgendwelcher Wirtschaftsverbände begleitet und häufig tatsächlich verhindert wird? Besteht die eigentliche Regierung der Eidgenossenschaft aus dem Hotellerie-Verband und Gastro Suisse? Ist «Seilbahnen Schweiz» die oberste Autorität für Entscheide über Leben und Tod?
Wir konnten uns lange an die Überzeugung klammern, Fragen dieser Art seien polemische Überspitzungen. Schliesslich schien in Granit gemeisselt: In der Schweiz pflegen die Dinge zwar immer quälend lange zu dauern, dafür triumphiert am Ende die Vernunft auch verlässlicher als andernorts. Im Land mit der besten Bunkerinfrastruktur der Welt und einem der teuersten Gesundheitssysteme wird man schutzbedürftige Mitbürger ganz gewiss nicht kaltschnäuzig ihrem Schicksal überlassen. Die Nation mit einem der höchsten Wohlstandsniveaus überhaupt und einem der niedrigsten Verschuldungsgrade in ganz Europa wird alles Menschenmögliche tun, um ihre Bürgerinnen an Leib und Leben zu schützen. Was könnte evidenter sein?
Es mag unangenehm sein, aber wir müssen diese Evidenzen von Grund auf revidieren: Dieses Land sind wir nicht. Auch weiterhin ist eine umsichtige, konsequente, langfristige Covid-Strategie nicht in Sicht. Weiterhin sterben jeden Tag über 80 Menschen, jede Woche deutlich über 500. Von kollektivem Entsetzen und der Forderung nach radikalen Gegenmassnahmen spürt man in der Politik weiterhin nur wenig. Im Gegenteil: Der grosse nationale Notstand sind nicht die Todesopfer, sondern der Skitourismus. Bis Ende Jahr werden wohl über 6000 Bürgerinnen und Bürger der Epidemie zum Opfer gefallen sein. Wir hätten es verhindern können, aber wir werden es nicht verhindern. Das ist nicht, wer wir sind. Wir haben anders entschieden.
Inzwischen stellt sich nun auch so etwas wie eine Frage der Zurechnungsfähigkeit. Am Montag gab es das Blasmusikständchen im Ständerat. Eine Blasmusikeinlage zu Ehren des neuen Ständeratspräsidenten – zu einem Zeitpunkt, wo an den Schulen des Landes ebensolche Konzerte aus Sicherheitsgründen verboten sind. Am Dienstag folgte dann die Geburtstagsfeier für Ueli Maurer im Nationalratssaal, vor laufenden Kameras, unter fröhlicher Rudelbildung und beherztem Absingen von «Happy Birthday».
Was geht in diesen Köpfen vor? Ist es Idiotie? Ist es Verachtung? Es dürfte einmalig sein in der jüngeren Geschichte der Eidgenossenschaft, dass sich gewählte Volksvertreterinnen auf diese Weise verhalten. Der Bund ringt verzweifelt um die richtige Kommunikationsstrategie, um die Bevölkerung zu verantwortungsvollem Handeln zu bewegen. Die disziplinierte Umsetzung der Massnahmen beginnt zu bröckeln, obwohl sie matchentscheidend wäre. Und die Parlamentarier geben dieses Beispiel?
Natürlich kann es auch mal zu einem irrationalen Aussetzer kommen, vielleicht ja auch zu einem kollektiven Aussetzer, vielleicht selbst in einem Ratssaal mit zweihundert Leuten, vielleicht sogar an zwei aufeinanderfolgenden Tagen und in beiden Kammern des Parlaments. Das sind ziemlich viele «vielleicht», aber seien wir mal grosszügig. Das Problem mit dieser Interpretation liegt jedoch darin, dass wir die Zeichen gar nicht mehr zu deuten brauchen. Alles wird offen ausgesprochen. Obszönität definiert sich durch die völlige Abwesenheit von Scham. Es ist eine Machttechnik, die Donald Trump zu neuer Perfektion gebracht hat. Auch die Schweizer Covid-Politik ist in die obszöne Phase getreten.
Finanzminister Ueli Maurer hat es in der Samstagsrundschau vor zwei Wochen folgendermassen formuliert: «In der Güterabwägung, wenn man nicht nur die Gesundheit im Auge hat, geht man ein gewisses Risiko ein. Für mich ist das bewusst geschehen. Was geschehen ist in den letzten Wochen, war für mich so zu erwarten und ist durchaus okay.» Keine Homeoffice-Pflicht, keine Restaurantschliessungen, aber explodierende Todeszahlen: Das ist okay. Mit dem dummen Geschwätz über die Unvorhersehbarkeit der Epidemie können wir in der Schweiz inzwischen gnädigerweise aufhören: Wir haben es vorhergesehen. Wir haben es so gewollt. Es ist okay.
Auch die politischen Parteien beginnen den neuen Königsweg der Covid-Obszönität zu entdecken. Unter Anführung von FDP-Präsidentin Petra Gössi und SVP-Nationalrat Franz Grüter haben sich zwanzig bürgerliche Parlamentarierinnen mit einem offenen Brief an Wirtschaftsminister Guy Parmelin gewandt und ihn dringend aufgefordert, dafür zu sorgen, dass das WEF im Mai auf dem Bürgenstock stattfindet und nicht wie angedroht nach Singapur umzieht. Zu den Todeszahlen wird geschwiegen. Schärfere Eindämmungsmassnahmen werden entschlossen bekämpft (im Fall von Petra Gössi sogar am selben Tag mit einer Pressekonferenz gegen bessere Schutzkonzepte in den Skigebieten). Beim WEF aber muss man handeln. Das ist der Ernstfall.
Glauben Petra Gössi und ihre Mitstreiter tatsächlich, die globale Wirtschaftselite lasse sich von Nonsens-Argumenten und «Schutzkonzepten» beeindrucken, wenn die grossartigen Schweizer Hygienemassnahmen eine Explosion der Fallzahlen ganz offensichtlich nicht verhindern konnten? So viel Naivität wollen wir den bürgerlichen Wirtschaftsfreunden nicht unterstellen. Es geht um etwas anderes: die Kommunikation einer Prioritätenordnung. Das WEF ist wichtig, der Skitourismus ist wichtig – und alles andere sehr viel weniger. Keine falschen Rücksichten! Das ist die politische Botschaft solcher Gestikulationen.
Die Sozialdemokratinnen tun gut daran, eine entschiedene Gegenposition zu beziehen. Lange war die Covid-Strategie nicht parteipolitisch aufgeladen, was an sich zu begrüssen ist. Je flagranter das Regierungsversagen jedoch wird, desto wichtiger ist es, dass sich politische Gegenkräfte manifestieren. Es geht nicht an, dass wir die Arme verschränken und dabei zusehen, wie über Wochen hinweg jeden Tag über 80 Menschen an Covid sterben. Wenn das kein überparteilicher Konsens mehr ist, wenn SVP, FDP und Mitte tatsächlich zu einer anderen «Güterabwägung» kommen, müssen andere Parteien vorangehen.
Es sind traurige Festtage, auf die wir uns zubewegen. Festtage der viel zu hohen Todeszahlen. Wer sind wir eigentlich? Welche Werte sind für unser Land unverhandelbar? Wir werden um eine sehr grundsätzliche Debatte nicht herumkommen.
Oder wie man neuerdings sagt: Zeit für eine Güterabwägung.
Illustration: Alex Solman