Die Natur ganz nah: Aussicht im Gästehaus «The Truffle» (2010) von Ensamble Studio an der Costa da Morte in Spanien. Roland Halbe

Vom Haus im Grünen zum grünen Haus

Unsere Art zu wohnen trägt zur Klimaerwärmung bei. Die Architektur entwickelt nur langsam Antworten auf die Heraus­forderungen, die das mit sich bringt. Ein paar Beispiele, wie es gehen könnte – oder eben nicht.

Von Philip Ursprung, 28.11.2020

«Weniger Tesla, mehr Greta!» So lautete der Appell von An Fonteyne, Freek Persyn und Jan De Vylder anlässlich eines Professoren­treffens des Departements Architektur der ETH Zürich.

Wir trafen uns vor Beginn des Herbst­semesters, um über die Zukunft des Architekten­berufs zu diskutieren. In der Pause zwischen zwei Zoom-Semestern waren wir froh, uns für einmal wieder im realen Raum zu begegnen, wenn auch maskiert und mit Abstand. Die Krise hat allen vor Augen geführt, wie bedeutsam der Austausch unter­einander ist.

Und diese Krise hat auch den Blick geschärft für die Gefahr der viel grösseren Krise, den Klima­wandel und die globale Erwärmung. Also trafen wir uns, um darüber zu sprechen, wie die Architektur dieser Heraus­forderung begegnen sollte und wie wir unsere Studierenden darauf vorbereiten können.

Zum Autor

Philip Ursprung ist Professor für Kunst- und Architektur­geschichte am Institut für Geschichte und Architektur an der ETH Zürich.

«Weniger Tesla, mehr Greta!» legt den Finger auf ein Dilemma, das auch die heutige Architektur bestimmt. Die Idee der Nachhaltigkeit ist zwar durchaus mehrheits­fähig, aber nur so lange, wie wir unser Verhalten nicht grund­legend ändern müssen. Die meisten Menschen und auch die Mehrheit der Architektinnen folgen nach wie vor der Idee, dass die Probleme der Industrialisierung durch dieselben Mittel lösbar sind, die sie hervor­gebracht haben: durch Technik.

Der Tesla ist ein Symbol für den ungebrochenen Glauben an den Fortschritt bei gleich­zeitiger Verdrängung von dessen Kehrseiten. Wer einen Tesla fährt, redet sich ein, etwas für den Schutz der Umwelt zu tun und dabei auf Mobilität nicht verzichten zu müssen. Es gibt keinen Auspuff, der Dreck ausstossen könnte. Doch der Dreck wird bloss dahin ausgelagert, wo er für den Fahrer unsichtbar bleibt, in die Minen in Latein­amerika und in die Megafabriken in der Wüste oder den norddeutschen Wäldern.

Ein grünes Mäntelchen für Hochhäuser

Ein architektonisches Pendant zum Tesla ist der Bosco Verticale in Mailand. Der vom Architekten Stefano Boeri entworfene und 2014 fertig­gestellte «senkrechte Wald» besteht aus begrünten Zwillings­türmen mit exklusiven Eigentums­wohnungen im Norden des Stadt­zentrums. Die Balkons sind dicht mit unter­schiedlichen Bäumen bepflanzt, die angeblich die Biodiversität im Stadtgebiet verbessern sollen. Es mag zwar sein, dass sich Insekten in den Bäumen einnisten, die an einer traditionellen Glasfassade keinen Halt fänden, und dass sich mehr Bäume übereinander als nebeneinander platzieren lassen.

Aber der ökologische Fussabdruck des gesamten Komplexes, der durch die zusätzliche Infra­struktur, den Transport und die Pflege der Bäume entsteht, wird dadurch nicht verkleinert.

Dem am wenigsten nachhaltigen Bautyp, dem Hochhaus, das enorm viel Energie schon dafür benötigt, sein eigenes Gewicht zu halten, wird ein grünes Mäntelchen umgehängt. In Mailand musste ein dicht bebautes, zentral gelegenes und gut erschlossenes Arbeiter­viertel den Wohntürmen weichen. Deren Bewohnerinnen beanspruchen viel mehr Raum pro Kopf und haben die Illusion, mitten in der Stadt im Grünen zu wohnen und ein paar Insekten etwas Gutes zu tun.

Wirken nachhaltiger, als sie sind: Die baumbewachsenen Zwillingstürme Bosco Verticale in Mailand. Miguel Medina/AFP/Getty Images

Bosco Verticale ist ein extremes Beispiel dafür, wie der ökologische Look als Marketing­instrument der Immobilien­industrie funktioniert. Es markiert den Endpunkt eines Trends, der in den 1970er-Jahren begann, vom Haus im Grünen zum grünen Haus. Mit anderen Worten: die Verschiebung von der Architektur als Zeichen des Triumphs über die Natur hin zum Haus, das – zumindest dem Anschein nach – im Einklang mit der Natur lebt.

Blick zurück auf die Schwerelosigkeit

Im Gegensatz zu «Tesla» steht «Greta» für eine Alternative zum Fortschritts­glauben. Es steht für einen ganzheitlichen, auf die Zukunft gerichteten Blick, für die Perspektive von Kindern und Jugendlichen. Auch in der Architektur gibt es Anzeichen für eine Veränderung. Die Impulse gehen vor allem von den Rändern aus, finden ihren Raum weitab von den Stadt­zentren. Vereinfacht gesagt, beginnt sich der Trend wieder umzukehren. Er geht vom grünen Haus wieder zum Haus im Grünen, nun allerdings unter anderen Vorzeichen.

Während der Blütezeit der industrialisierten Gesellschaften, als fossile Brennstoffe fast gratis waren und der in der Erde fixierte Kohlen­stoff gar nicht rasch genug in die Atmosphäre gepustet werden konnte, triumphierten die Gebäude über die Natur­gesetze. Architektur schien einer Kraft unterworfen zu sein, die die Bauten quasi von der Erde wegzog. Vorbilder für das moderne Haus im Grünen waren die Villa Savoye von Le Corbusier oder das Farnsworth House von Ludwig Mies van der Rohe – beide scheinen über dem Boden zu schweben.

Spätestens seit der Wirtschafts­krise von 2008 ist diese Zeit der Schwere­losigkeit vorbei. Zunehmend scheinen Gebäude von einer Schwere befallen zu sein, die sie gegen die Erde, ja, in den Boden hinein­zieht. Manche Projekte verschmelzen gleichsam mit dem Terrain, nehmen dessen Farbe und Textur an. Bosco Verticale, das zwar so tut, als ob es sich mit dem Wald­boden versöhnt, aber ein Hochhaus ist, das weit in den Himmel ragt, mutet in dieser Hinsicht wie ein Untoter an, ein zombiehaftes Zwitter­wesen aus einer anderen Zeit.

Als Häuser noch zu schweben schienen: Das Farnsworth House von Ludwig Mies van der Rohe bei Plano, Illinois, USA. Carol M. Highsmith/Buyenlarge/Getty Images
Die Villa Savoye von Le Corbusier in Poissy, Frankreich. Maurice Babey/akg images/Keystone

Worauf lässt sich der Trend zum Boden, zur Erde, zum Rückzug in die Tiefe der geologischen Schichten zurückführen?

Architektur im Anthropozän

Er hängt mit einem übergreifenden Phänomen zusammen, dem Anthropozän. Dahinter steht die Vorstellung, dass wir uns in einem geologischen Zeitalter befinden, das durch die Menschen, genauer gesagt durch diejenigen Menschen definiert wird, welche die Industrialisierung verursacht haben und von ihr am meisten profitierten. Das Anthropozän ist untrennbar verbunden mit dem Klima­wandel und der globalen Erwärmung.

Das Anthropozän rückt die dramatische Bedrohung des ökologischen Gleich­gewichts und damit der zentralen Grundlage für Leben ins Bewusstsein. Es konfrontiert die menschliche Zeit mit dem Erd­zeitalter. Aus dieser Perspektive lässt sich «Natur» nur in Anführungs­zeichen denken, als Konzept, nicht als endloses und zeitloses Reservoir von Rohstoffen. Das Anthropozän ist weniger eine Theorie als ein Horizont, innerhalb dessen sich die Politik, Teile der Natur­wissenschaften, der Künste und des kritischen Diskurses bewegen. Es ist Anlass, Begriffe neu zu definieren und Hierarchien kritisch infrage zu stellen.

Erstaunlicherweise hat die Diskussion des Anthropozäns die Architektur bisher nur wenig berührt. Stärker als die Kunst hält die Architektur an traditionellen, binären Vorstellungen von «Natur» versus «Kultur», «Stadt» versus «Land» und «Zentrum» versus «Peripherie» fest. Sie bleibt fixiert auf die Vorstellungen des urbanen Wachstums und der Globalisierung.

Das Anthropozän ist besser geeignet, sich den drängendsten Fragen der Gegenwart zu nähern, als der Begriff der Globalisierung. Globalisierung handelt von der Ökonomie, Anthropozän von der Ökologie. Während der Begriff der Globalisierung von den Zentren der kapitalistischen Welt getrieben wird, bringt der Begriff des Anthropozäns auch die Perspektive der Machtlosen, der Kolonisierten, derer, die unter der dunklen Seite der Industrialisierung leiden, ans Licht.

Die hierarchische Unter­scheidung zwischen dem Menschlichen und dem Nicht­menschlichen, zwischen dem, was lebt, und dem, was nicht lebt, wird neu verhandelt. Im Anthropozän-Diskurs spielen auch Bakterien, Viren, Mineralien, die Wolken und die Gewässer eine Rolle.

Auch in der Architektur steigt nun die Sensibilität für die Dringlichkeit dieser Fragestellungen.

Das Trüffelhaus

Das zeigt zum Beispiel die Architektur von Ensamble Studio, einem in Madrid und Boston ansässigen Büro, geleitet von Antón García-Abril und Débora Mesa. Ihr kleines, aber spektakuläres Projekt «The Truffle» (2010), ein Gästehaus an der Costa da Morte in Spanien, hilft, den aktuellen Paradigmen­wechsel besser zu verstehen. Ein kurzes Video mit dem Titel «Paulina and the Truffle» veranschaulicht, worum es geht.

Der Film beginnt mit der Aufnahme eines vom Himmel herab­sinkenden Beton­schlauchs. Der Schlauch nähert sich der Kamera, und wir sehen den Bauprozess quasi aus der Perspektive des Bodens, der darauf wartet, dass der Beton sich über ihn ergiesst.

Dann wechselt die Kamera den Standpunkt und zeichnet den Bau­prozess im Zeitraffer auf. Arbeiter giessen Schicht um Schicht des Betons in einen Erdhügel. Heuballen werden als Kern aufgeschüttet. Ein Bulldozer schüttet weiteres Erdreich als Schalung auf. Die letzte Schicht wird mit Erde bedeckt. Sobald der Beton ausgehärtet ist, wird die Erde entfernt.

Das Ergebnis ist ein künstlicher Felsbrocken. Seine unregelmässige Oberfläche ist ein Abdruck des Erdhügels. Er ähnelt einem Findling, einem Meteoriten oder eben einem gigantischen Trüffel, den jemand aus dem Boden geholt hat.

Die Arbeiter zerschneiden den Beton­klumpen mit einer Beton­säge. Der weiche Kern, der aus Heu besteht, wird sichtbar wie die Füllung eines Schokoladen­trüffels. Danach taucht der Kopf eines Kalbes vor der Kamera auf. Wir sehen das Heu aus der Perspektive des Tieres. Es frisst sich durch das Heu. Am Ende des Sommers ist das Heu verzehrt, das Kalb zu einer Kuh heran­gewachsen. Es hat einen Innen­raum geschaffen.

Heuballen sind ein elementarer Herstellungsstoff von «The Truffle». Ensamble Studio
Innenansicht, nachdem das Kalb das Heu gefressen hat. Roland Halbe
Eine Delle im Boden, Heu, Beton und ein Kalb: So entstand das Gästehaus «The Truffle». Ensamble Studio
Ein Bett am Fenster und eine mobile Nasszelle: Komfortabel im Innern … Roland Halbe
… archaisch von aussen betrachtet: Das fertiggestellte Gästehaus «The Truffle». Roland Halbe

Die Arbeiter kommen zurück, um eine Tür, ein Fenster und einen Schorn­stein an der Aussen­seite anzubringen. Ein Bett, eine Toilette und ein Kamin werden im Inneren installiert. Jetzt steht der Bau den Menschen zur Verfügung.

Es wäre leicht, «The Truffle» als unnötigen Luxus, manierierte Spielerei abzutun. Es ist an den aktuellen Normen gemessen nicht nachhaltig, ein Gästehaus aus Beton zu giessen. Die Wirkungs­macht des Projekts beruht allerdings gerade nicht darauf, dass es das, was als nachhaltig gilt, erfüllt.

Es handelt sich vielmehr um ein architektonisches folly, also eine alte Gattung des baulichen Experiments, das neue Entwurfs­sprachen testet und spielerisch umsetzt. Es ist ein Manifest für die Verbindung von Baukunst und Erd­geschichte – ein Statement, das uns erlaubt, vorüber­gehend auch die Perspektive von Materialien, Pflanzen und Tiefen einzunehmen. «The Truffle» exemplifiziert, wie eine Ästhetik des Anthropozäns aussehen könnte.

Ein Organismus, der auf die Umwelt reagiert

Aus demselben Grund ist das Werk des katalonischen Büros Harquitectes interessant, das von David Lorente, Josep Ricart, Xavier Ros and Roger Tudó geführt wird. Das zur Zeit der Finanz­krise 2008 gegründete Büro hat sich auf Low-Budget-Projekte spezialisiert, die möglichst wenig Aufwand für Kühlung und Heizung benötigen und behutsam mit den bestehenden Ressourcen umgehen. Harquitectes sehen die Anforderungen der Energie­effizienz nicht nur als Problem, das gelöst werden muss, sondern als ein fundamentales Thema, dem sie mit ihren Entwürfen ein Gesicht verleihen.

Ihr bisher ambitioniertestes Projekt ist das ICTA-ICP-Forschungs­zentrum auf dem Campus der Universitat Autònoma Barcelona in Cerdanyola del Vallès. Das fünf­stöckige Gebäude beherbergt je ein Forschungs­zentrum für Paläontologie und für Umwelt­wissenschaften. Es vermittelt, wenn man so will, zwischen geologischen Epochen, vom Kambrium bis zum Anthropozän.

Unter einem Dach untersuchen Forscherinnen Fossilien von ausgestorbenen Arten, die Millionen Jahre alt sind, während nebenan ihre Kollegen Computer­modelle für die Zukunft des Klimas im kommenden Jahrtausend entwickeln.

Ein massives Beton­skelett stützt das Gebäude. Innerhalb dieses Skeletts werden die Räume durch Holzwände und Glasfenster definiert. Die bioklimatische Aussen­membran besteht aus Materialien, die für landwirtschaftliche Gewächs­häuser verwendet werden. Sie öffnet und schliesst sich je nach Temperatur. Der Bau ist so konzipiert, dass er im Winter Wärme speichern und im Sommer Wärme abgeben kann.

Trotz der Kubusform ähnelt das Gebäude einem Organismus, der auf die Umwelt reagiert. Im Gegensatz zu so vielen hermetisch verschlossenen Gebäuden, die das Innere von der Umgebung trennen und wissenschaftliche Einrichtungen als autoritär und distanziert darstellen, schafft dieses Gebäude eine Verbindung mit der Öffentlichkeit.

Durch vier Innenhöfe flutet Tages­licht herein. Es besteht kaum Bedarf an künstlichem Licht. Pflanzen wachsen und erhöhen die Luft­feuchtigkeit. Die obere Ebene wird von einem beweglichen Gewächshaus­dach aus Polycarbonat überdacht. Es dient als Testgelände für den Pflanzenanbau.

Innerhalb des Forschungs­zentrums koexistieren drei Arten von Klima: In den Zwischen­räumen kommen passive und bioklimatische Systeme zum Einsatz, in den Büro­räumen werden natürliche Belüftung und semipassive Heizungs­systeme kombiniert, und in den Hörsälen und Labors werden konventionelle Klima­anlagen verwendet. Für den Lehr- und Forschungs­betrieb ist eine konstante Temperatur zwar notwendig, in anderen Gebäude­bereichen darf sie hingegen variieren. Auf den Fluren und Treppen, in den Pausen­räumen, dort, wo man sich trifft oder ausruht, schadet es niemandem, im Sommer zu schwitzen und im Winter den Mantel anzubehalten.

Das Forschungszentrum in Barcelona ist sozusagen das Gegenteil des Bosco Verticale in Mailand. Während die Zwillings­türme viel Energie für den Bau der Trag­konstruktion, die Pflanzung und die Pflege der Bäume verbrauchen, minimiert das Forschungs­zentrum den Energieverlust. Und während der Bosco Verticale das binäre Verständnis des Gebauten gegenüber der Landschaft fortsetzt und damit an einem anachronistischen Verständnis der Natur festhält, leistet das Forschungs­zentrum einen Beitrag an die aktuelle wissenschaftliche und kulturelle Diskussion über die Wechsel­beziehung zwischen Mensch und Pflanze.

Klimawandel in den eigenen vier Wänden

Ein weiteres Beispiel für die veränderte Haltung sah ich vor kurzem in Graubünden. Gion Caminada führte uns durch sein fast fertig­gestelltes Mehrfamilien­haus in Valendas. Er hat sich seit langem einen Namen gemacht durch die Reaktivierung des Dorfes Vrin am Ende der Val Lumnezia. Inzwischen baut er an verschiedenen Orten in der Schweiz und in verschiedenen Massstäben.

Anstatt eine Fülle von kleinen Häusern zu bauen, wurden die Wohnungen in Valendas in einem Hofbau zusammen­gefasst, der den Austausch der Bewohnerinnen unter­einander erleichtert und zugleich allen ihren Privat­raum lässt. Die grösste Neuerung findet in der Organisation der Wohnungs­temperaturen statt. Die Wohnungen sind um ihre Küchen herum organisiert, die den zentralen, warmen Raum bilden. Wohn- und Schlaf­zimmer sind beheizt, ein weiterer Teil der Wohnung, der flexibel genutzt werden kann, bleibt hingegen unbeheizt. Je nach Sonnen­stand beziehungs­weise je nach Jahreszeit ändert sich hier die Temperatur. Im Sommer kann sich der Raum stark aufheizen, im Winter kann es gegen den Gefrier­punkt gehen.

Das Gebäude ist eine Antwort auf den Klima­wandel. Es verschliesst sich nicht hermetisch gegen aussen, ist nicht von Dämm­stoffen ummantelt. Alle Fenster lassen sich öffnen, um Durchzug zu erzeugen. Als Folge der globalen Erwärmung ist es auch in der Schweiz inzwischen häufiger zu warm als zu kalt, das heisst, auch die Wärme muss entweichen können. Zentral ist aber die Entscheidung, dass die Temperatur in der Wohnung nicht überall und jederzeit gleich bleiben muss, sondern dass die Wohn­qualität gerade durch die Differenz erhöht wird.

Architektur ist in der Regel sehr langsam. Manchmal liegt mehr als ein Jahrzehnt zwischen der Idee und der Ausführung. Wirtschaftliche Trends schlagen sich mit Verzögerung nieder.

Architektur kann aber auch schnell sein.

Die gegenwärtige Krise zeigt, wie wichtig kleine bauliche Details – Balkons, Treppen­absätze, ein Platz unter Bäumen – sind. Allein die Tatsache, dass die Restaurants ihre Tische in den Aussen­raum stellen konnten, hat die Form des öffentlichen Lebens weltweit verändert.

Auch die Hierarchien zwischen Zentrum und Peripherie haben sich in kürzester Zeit gewandelt. Die Architektur hat daran Anteil, ja, sie kann durch das Schaffen von Räumen und Atmosphären neue Sensibilitäten und Sicht­weisen schaffen. Von der Auto­industrie ist das eher nicht zu erwarten, sie kann höchstens durch Innovation auf neue Erfordernisse reagieren.

Architektur aber kann mehr als nur Normen erfüllen. Sie trägt dazu bei, dass wir uns in andere hinein­versetzen und neue Perspektiven einnehmen können. Sie ist der Ort, wo Konflikte räumlich verhandelt werden und das Neue erst ein Gesicht erhält. Deshalb ist es höchste Zeit, dass sie sich in den Diskussionen des Anthropozäns Gehör verschafft.