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Jetzt wirds parteiisch

24.11.2020

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Liebe Leserinnen und Leser

Wir zoomen heute mal heraus und malen mit den grossen politischen Pinselstrichen. Es verschiebt sich nämlich grade etwas in der Schweiz.

Was? Nun, grob gesagt: Im Frühjahr hatte der Bundesrat das Sagen darüber, mit welchen Ge- und Verboten wir der Pandemie begegnen sollen. Mit den Öffnungen nach der ersten Welle – als die Kompetenzen wieder an die Kantone gingen – waren die Wirtschaftsverbände mit ihren Anliegen sehr präsent.

Aus den politischen Parteien kam lange Zeit: nichts. Oder zumindest nichts Grundlegendes.

Nun scheint sich das zu ändern, wenn auch nur zögerlich. Vergangene Woche hatten sich bereits FDP und SVP mit der Corona-Taskforce des Bundes angelegt. Diese umfasst Expertinnen aus verschiedenen Bereichen der Wissenschaft wie Public Health, Epidemiologie, Immunologie, Ethik und Recht – und auch aus den Wirtschaftswissenschaften.

An einer Sitzung der nationalrätlichen Wirtschaftskommission forderte die FDP-Nationalrätin Regine Sauter die Aufnahme von Unternehmensvertretern in die streng wissenschaftliche Taskforce. In der Kommission hatte das Anliegen keine Chance. Die St. Galler SVP-Nationalrätin Esther Friedli verlangte gar die Auflösung der wissenschaftlichen Taskforce. Auch dieses Anliegen hatte keinen Stich.

Als erste Partei hat heute die SP konkrete strategische Forderungen an Bund und Kantone vorgestellt. Sie verlangt mehr Geld für die Angestellten im Gesundheitsbereich. Und wirtschaftliche Massnahmen in der Gesundheits- und Wirtschaftsfinanzierung. Sowie eine gesamtschweizerische Strategie dafür, wann welche Einschränkungen gelten sollen, ein Ampel-Frühwarnsystem also, ähnlich wie es unsere Nachbarn in Österreich haben.

Wie stehen verschiedene Expertinnen in der Schweiz zu einem solchen Ampelsystem? An der heutigen Medienkonferenz der Fachbehörden und der Taskforce (die ist immer dienstagnachmittags in Bern) hielten sich die Experten mit Einschätzungen zu den SP-Forderungen zurück. (Das ist auch nicht ihre Aufgabe.) Dennoch sagte Rudolf Hauri, der Präsident der Vereinigung der Kantonsärztinnen: «Grundsätzlich sind solche Ampelsysteme natürlich nützlich, weil sie einem Informationen geben, wo man steht.» Aber auch: Starre Systeme seien zwar einfach anzuwenden, geben aber weniger Flexibilität in der Entscheidung. Und Martin Ackermann, Leiter der Taskforce, antwortete auf die Frage, ob dies eine Erleichterung wäre: «Ein Vorteil wäre, dass man schneller reagieren kann.» Wenn beispielsweise das Wetter wechsle und es lokal plötzlich mehr Fälle gebe. «Wie das dann organisiert wird, ist eine Frage der Umsetzung.»

Die Forderungen der SP sollen eine schnellere und gemeinsam abgestützte Reaktion ermöglichen. «Diese unsolidarische, vermeintlich auf Kostenvermeidung ausgerichtete ‹Hü-und-hott-Politik› muss endlich ein Ende haben», sagte SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer.

Wir haben die SP gefragt, ob die Partei jetzt nicht ein bisschen spät komme mit solchen Forderungen (mitten in der zweiten Welle). Ihr Mediensprecher, Nicolas Haesler, hat uns gesagt: «Auch wir lernen in der Krise dazu. Vielleicht hätten wir uns bereits früher äussern sollen, aber das Versagen wurde erst in den letzten Wochen so offensichtlich.» Man habe der Krisenbewältigung der Behörden stets vertraut, «die erste Welle, die der Bundesrat umsichtig gemanagt hat, hat dieses Vertrauen gerechtfertigt». Man habe sich nicht einmischen wollen, um die Verwirrung nicht zu vergrössern.

Es hat sich also etwas verschoben in Bern. Ob zum Guten, werden wir sehen.

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

In der Schweiz wird trotz mittlerweile genügend Kapazitäten zu wenig getestet. Dies sagte der oberste Kantonsarzt Rudolf Hauri an der Pressekonferenz des Bundes heute in Bern. Im Moment würden längst nicht alle Infektionsherde registriert. Es sei wichtig, dass auch bei sehr leichten Symptomen getestet würde – auch wenn einen die Aussicht auf eine mögliche Quarantäne nicht gerade freut.

Viel Feinstaub in der Luft erhöht die Sterblichkeit von Coronavirus-Erkrankten. Dies zeigt eine Studie der Universität Genf und des ETH-Spin-offs Meteodat. Die Infektion und die Schwere der Krankheit hingen mit der Feinstaubbelastung zusammen. Ein hoher Anstieg der Hospitalisationen im Tessin im Februar hänge auch mit der Luftbelastung in der Magadino-Ebene zusammen. Dennoch seien Superspreader-Events ebenso ausschlaggebend, sagte Klimatologe Mario Rohrer gegenüber SRF. Auch eine italienische Studie habe gezeigt, dass Feinstaubpartikel die Viren transportieren können – selbst wenn nicht klar sei, wie infektiös diese seien.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt vor Lockerungen über die Feiertage, wenn Behörden das Infektionsgeschehen nicht voll unter Kontrolle haben. Regierungen müssten realisieren, dass sie nur Risiken abwägen könnten, sagte WHO-Nothilfekoordinator Mike Ryan gestern Abend in Genf. Es gebe keine wissenschaftliche Formel, welche Lockerungen vertretbar seien.

Auch in Polen wurde ein Sars-CoV-2-Ausbruch auf einer Nerzfarm festgestellt. Von 91 Tieren auf einem Zuchtbetrieb in Pommern seien 8 Tiere infiziert gewesen, teilte die Medizinische Universität in Danzig mit.

Im ehemaligen Hotspot Victoria in Australien gibt es erstmals seit neun Monaten keinen bekannten Infektionsfall. Im Bundesstaat mit der Hauptstadt Melbourne wurde seit 25 Tagen kein neuer Fall mehr registriert. Es hatte nach der zweiten Welle einen sehr strikten Lockdown für mehrere Monate verhängt – inklusive nächtlicher Ausgangssperre und eines erlaubten Bewegungsradius der Bürgerinnen von fünf Kilometern. In Australien leben 25 Millionen Menschen, das Land hatte nur gegen 28’000 Fälle verzeichnet.

Und zum Schluss: Sverige Situation, zum Zweiten

Wir kommen nicht drum rum: Wir müssen mal wieder über Schweden reden. Sie erinnern sich: Das Land hatte im Frühling vergleichsweise wenig Verbote und eher milde Einschränkungen. Stattdessen setzte die Regierung stark auf die Eigenverantwortung. Der Staat im Norden Europas wurde zum leuchtenden Beispiel für alle, die einen Lockdown ablehnten – trotz im Vergleich mit seinen Nachbarländern vielen Infizierten und Toten. Wie geht Schweden mit der zweiten Welle um? Nun, der schwedische «Sonderweg» (der so absolut anders dann auch nicht war: Zeitweise waren die Regeln in Schweden deutlich strenger als hier in der Schweiz) ist seit spätestens heute vorbei. Jetzt sind Versammlungen von mehr als acht Personen verboten. Je nach Region sind die Regeln noch strenger. Es ist in Schweden sehr selten, dass sich der Präsident mit einer Ansprache an die Bevölkerung wendet. Am Sonntag tat er es zum zweiten Mal dieses Jahr. Er sagte: «Wenn diese Krise hinter uns ist, dann soll sich jeder daran erinnern können, wie wir einander geholfen haben.» Er appellierte an Einigkeit und Solidarität. Und schloss mit: «Gemeinsam, für Schweden.»

Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.

Oliver Fuchs und Marguerite Meyer

PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.

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PPPS: Kann man dem sinkenden R-Wert trauen? Warum ist das, was wir gerade sehen, nicht zwingend eine Trendwende? Weil wir nicht genug testen. Das verzerre das Bild, sagte die Epidemiologin Emma Hodcroft zum «Tages-Anzeiger». Hodcroft ist für Republik-Verlegerinnen keine Unbekannte. Auch in diesem Newsletter hatten wir bereits mehrmals mit ihr gesprochen. Nun finden wir: Das spannende und gut verständliche Interview mit dem Tagi-Kollegen ist lesenswert!

PPPPS: Im März haben ganze Firmen in vielen Branchen in einer Hauruck-Aktion auf Homeoffice umgestellt. Für viele Arbeitnehmer ist es seither im besten Fall alltagstauglicher oder zumindest alltäglicher geworden. Während einer Pandemie zu Hause arbeiten zu können, ist ein Privileg, es bringt auch Herausforderungen mit sich. Umso mehr überrascht der Blick in die Archivkiste von SRF. In diesem kurzen Dokumentarfilm von 1986 werden erstaunlich aktuelle Themen wie Vereinsamung oder Rollenverteilung besprochen. Spannend und witzig ist der Blick zurück: nicht nur wegen der riesigen Schulterpolster, sondern auch weil eine junge Ruth Dreifuss – spätere Bundesrätin – sehr ernst guckt.