Briefe aus der Todeszelle
Zwei junge Männer werden in Thailand wegen Mordes zum Tode verurteilt. Eine Frau aus dem Wallis kämpft mit aller Macht um das Leben der beiden. Die Geschichte einer Freundschaft.
Von Bartholomäus von Laffert (Text) und Rafael Heygster (Bilder), 21.11.2020
Prolog
Liebe Jungs,
im Westen sagen wir, Marienkäfer bringen Glück. Deshalb schicke ich euch welche als Glücksbringer.
Es war einmal ein Mann, der fälschlicherweise eines Verbrechens verdächtigt und zum Tode verurteilt wurde. Er sollte geköpft werden, doch als der Mann seinen Kopf auf den Hauklotz legte, sah der Henker einen Marienkäfer im Nacken des Beschuldigten landen. Daraufhin verjagte er ihn, aber der Marienkäfer setzte sich ein zweites Mal auf den Nacken. Jedes Mal kam der Marienkäfer zurück, um den Henker davon abzuhalten, den Verurteilten zu köpfen. Für den Henker war der Marienkäfer ein göttliches Zeichen, das die Unschuld des Mannes bezeugte, und er bat den König, den Beschuldigten gehen zu lassen.
Am 7. August 2015 schreibt Evelyne Vannier, damals 46 Jahre alt, diese Zeilen auf Englisch und in Druckschrift auf liniertes Schulpapier. An die Seitenränder zeichnet sie rot gepunktete Käfer mit lachenden Gesichtern. Darunter schreibt sie: «Faszinierend! Ich denke, so ein Marienkäfer passt wirklich gut zu euch! 😉 Mit all meiner Liebe, Evelyne.» Dann schickt sie den Brief ab. Die Empfänger: zwei junge Männer, denen man im thailändischen Knast die Nummern 590018 und 590082 gegeben hat. Verurteilt wegen zweifachen Mordes und schwerer Vergewaltigung. «Meine kleinen Brüder» nennt Evelyne Vannier die beiden.
Teil 1. Koh Tao
Evelyne. Eine Geschichte, die im Wallis beginnt und über eine paradiesische Insel an den Ort des Grauens führt
Fünf Jahre später. Evelyne Vannier steht hinter der Anrichte in ihrer Wohnküche im Walliser Städtchen Monthey. 25 Minuten sind es mit dem Auto bis an den Genfersee, aus dem Fenster sieht man die Dents du Midi, auf deren Gipfeln auch im Sommer Schnee liegt. An den Wänden vier grossformatige Poster mit schwarz-weissen Fotodrucken. Das erste zeigt Vanniers Idol Marilyn Manson, das zweite Elvis Presley, das dritte Avicii und das letzte die Tanzszene zwischen Uma Thurman und John Travolta aus «Pulp Fiction».
Vannier trägt kurze, blond gesträhnte Haare, kleine Ringe um die Zehen. Auf das rechte Handgelenk ist ein Paradiesvogel tätowiert, auf das linke eine Lotusblume. Wenn sie lacht, bilden sich Grübchen auf ihren Wangen. Und Evelyne Vannier lacht viel, während sie eine Geschichte erzählt, die von Freundschaft handelt, von schneeweissen Sandstränden – und von einem grausamen Mord, der Thailand und die ganze Welt erschütterte.
Die Geschichte steht aufgeschrieben in Briefen, in Schuhkartons verpackt, die Vannier auf der Anrichte aufgebahrt hat. Eingeschlagen in pinke, grüne, blaue Couverts, zusammengehalten von dünnen Gummibändern. Die Briefmarken zieren ernst dreinblickende Generäle in zugeknöpfter Uniform und pausbäckig grinsende Comicfiguren auf Fahrradrikschas. Der letzte Brief datiert vom 29. August 2020, fast alle tragen als Absender: Nonthaburi Road 117, Bangkwang Prison. 6000 Schwerverbrecher sitzen in dem Gefängnis, das eigentlich für 3500 ausgelegt ist. Die Thailänderinnen nennen es scherzhaft «Bangkok Hilton», doch Bangkwang zählt zu den berüchtigtsten Haftanstalten der Welt.
2014 wandert Evelyne Vannier mit ihren Kindern und ihrem Mann, einem Yogalehrer, nach Thailand aus. Sie gibt ihren Job in der Radiologie eines kleinen Spitals auf, die Wohnung im Wallis übernehmen Untermieter. Erst zieht es die Vanniers auf die Party-Insel Koh Phangan im Golf von Thailand, später auf die grössere Nachbarinsel Koh Samui, eine Kolonie für Aussteiger aus dem Westen.
Vannier verbringt ihre Tage in der Hängematte am Strand, abends kocht sie für ihren Mann und die Kinder. Doch aus der Entspannung wird bald Langeweile, aus der Langeweile wächst der Wunsch nach einer Aufgabe. Vannier sagt von sich: «Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, dann lässt mich das ein Leben lang nicht los.»
Ihren neuen Lebensinhalt findet sie auf Facebook: Samui Prisoners Support heisst die geschlossene Gruppe von Freiwilligen, die ausländische Häftlinge in thailändischen Gefängnissen besucht. Evelyne Vannier war selbst einmal im Gefängnis. In ihrer Jugend. 34 Tage. Alkohol am Steuer. «Nicht zu vergleichen», sagt Vannier, wenn man sie fragt, warum sie sich von all den Möglichkeiten ausgerechnet für karitative Knastbesuche entschieden hat, «aber eine gewisse Verbundenheit ist schon da.» 380’000 Menschen sitzen in Thailand im Gefängnis. 550 in der Todeszelle. Fast 15’000 der Häftlinge kommen aus dem Ausland.
Vannier besucht zwei Franzosen, einen australischen DJ, der eine jahrelange Haftstrafe wegen Drogenhandels absitzt, einen Koreaner und drei Männer aus Burma. Zwei von ihnen: Zaw Lin und Wai Phyo, beide heute 26 Jahre alt.
Am 6. Mai 2015, die beiden sitzen da schon fast acht Monate in Haft, treffen sie sich zum ersten Mal. Vannier erinnert sich noch genau: Wie sie zusammen mit einer Bekannten vor dem Gefängnis steht. Wie die thailändischen Wärter sie misstrauisch beäugen. «Unverständnis», sagt Vannier. «Was will diese weisse Frau bei den Burmesen?» Sie erinnert sich an den Metallstuhl. An den Telefonhörer, durch den sie die Stimmen der Gefangenen vernimmt. An die Glasscheibe, hinter der Wai Phyo und Zaw Lin dicht nebeneinandergedrängt auf sie warten. Die Gesichter scheinen von nahem noch viel jünger als auf den Fotos in den Zeitungen.
15 Minuten dürfen sie sprechen, in brüchigem Englisch versuchen die beiden ihre Unschuld zu beteuern. Obwohl Evelyne Vannier sie gar nicht danach fragt. Und auch später nie danach fragen wird. Vannier ist nicht da, um für Gerechtigkeit zu kämpfen, sagt sie. Ihr geht es um die Moral der beiden jungen Männer, «dass sie weiterkämpfen».
Fünf Tage nach dem ersten Treffen schreibt Vannier einen Brief: «Lieber Zaw, lieber Wai, mein Name ist Evelyne, es hat mich sehr gefreut, mit euch zu sprechen, auch wenn es nicht einfach war wegen der Sprache. Ihr fragtet mich, woher ich komme, und als ich Schweiz sagte, sah ich, dass ihr nicht wusstet, wo das ist. Es ist ein kleines Land in Europa, neben Frankreich, Italien und Deutschland».
Es ist der erste von mehr als 100 Briefen, die sie schreiben wird.
Zaw Lin und Wai Phyo. Die beiden jungen Männer aus Burma finden das Glück in der Fremde, freunden sich auf Koh Tao an und treffen sich an diesem verhängnisvollen Abend im September 2014 am Sairee Beach
«Hello Evelyne,
uns geht es gut. Ich mag den Schnee gerne. Aber ich habe noch nie so viel Schnee gesehen, wie es ihn in deinem Land gibt. In meinem Land gibt es selten Schnee, und es wird nur wenig kalt. Bitte, mach dir keine Sorgen wegen des Urteils. Das wird automatisch geschehen. Niemand kann es ändern. Wir werden das Gute wie das Schlechte akzeptieren. Vielleicht will ich bald mit dir durch den Schnee in deiner Stadt spazieren und auf den Schneebergen spielen. Kannst du mir mein Weihnachtsgeschenk geben? Ha… ha… ha 😊»
Zwei Wochen bevor an Heiligabend 2015 im Gerichtssaal auf Koh Samui das Urteil über sein Leben gesprochen wird, schreibt Wai Phyo am 10. Dezember 2015 einen Brief mit blauer Tinte und in holprigem Englisch. Noch sind die Buchstaben sorgfältig aneinandergereiht und stehen in Reih und Glied, noch sind sie nicht zu einem trostlosen Gekrakel verkommen. Noch hat Wai Phyo Hoffnung, dass der Albtraum genauso plötzlich endet, wie er eineinhalb Jahre zuvor begonnen hat.
2012 wandert Wai Phyo von Burma nach Thailand aus. Er ist gerade 18, als er beschliesst, die Mutter und den Bruder in einem bitterarmen Fischerdorf im Rakhaing-Staat an der Westküste Burmas zurückzulassen, sich illegal nach Thailand durchzuschlagen und dort als Gastarbeiter Geld zu verdienen. So wie es ein Grossteil der 2,3 Millionen Burmesen tut, die nach Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration in Thailand leben.
Er landet auf Koh Tao. Einer kleinen, schildkrötenförmigen Insel mit schneeweissen Stränden und palmengesäumten Hügeln, 45 Kilometer nördlich von Koh Phangan, jener Partyinsel, auf die Evelyne Vannier zwei Jahre später ziehen wird. 7000 Menschen leben hier. 1500 Thailänder, 1500 Expats, der Rest sind Gastarbeiter aus Burma. Knapp eine Million Touristen kommen jedes Jahr hierher, um zu feiern – und um in den Riffen nach Walhaien zu tauchen.
Wai Phyo findet Arbeit in einer Bar namens Safety Shop. In der Arbeitersiedlung, fernab der schicken Touri-Resorts, wo er sich mit fünf anderen Männern ein Zimmer teilt, lernt er einen anderen jungen Burmesen kennen: Zaw Lin. Wie Wai Phyo kommt er aus dem Rakhaing-Staat, wie er ist er 2012 im Alter von 18 Jahren nach Thailand ausgewandert, wie er hat er seine Familie zurückgelassen. Und wie Wai Phyo arbeitet Zaw Lin in einer Bar, im Brothers Restaurant, wo er den Tauchern abends Bier ausschenkt.
Fern von der Heimat treffen sich Zaw Lin und Wai Phyo nach Feierabend am Strand, um Erinnerungen auszutauschen. Auf Fotos von damals hängen Wai Phyo die langen, mit Henna gefärbten Haare strähnig in das jungenhafte Gesicht, dünner Flaum auf der Oberlippe. Zaw Lin wirkt älter, hat Pockennarben im Gesicht, er trägt Shirts von Manchester United und Bob Marley.
Die Nacht, die das Leben der beiden jungen Männer für immer verändern wird, ist wolkenbehangen. Am Abend des 14. September 2014 hat Zaw Lin seine Gitarre mitgebracht. Gemeinsam mit einem Freund namens Mau Mau sitzen sie unter einem Pinienbaum am Sairee Beach und singen Volkslieder in ihrer Muttersprache Arakanesisch. In Sichtweite, vor einem Club namens AC Bar, findet eine Feuershow statt. Eine Überwachungskamera zeichnet auf, wie die drei Freunde beim nahe gelegenen Seven-Eleven-Shop Zigaretten und Bier kaufen. Es ist kurz vor Mitternacht, als Mau Mau Zaw Lin bittet, ihm sein Motorrad zu leihen, Mau Mau will seine Freundin besuchen.
Als er nach zwei Stunden nicht zurückkommt, entscheiden sich Zaw Lin und Wai Phyo, ihn zu Hause aufzusuchen. Um sich abzukühlen, springen die beiden auf dem Rückweg kurz ins Meer. Als sie kurz danach bei Mau Maus Wohnung in der Nähe des Strandes anklopfen, öffnet niemand, doch die Tür ist unverschlossen. «Also sind Wai und ich hineingegangen, wir haben uns hingelegt und geschlafen. Das ist alles, was ich weiss», schreibt Zaw Lin später in einem Brief.
Hannah und David. Kurz nachdem sie auf der Insel gelandet sind, lernen sich die beiden Briten in einer Bar kennen. Wenige Stunden später sind sie tot
In jener Nacht, so werden die Medien am nächsten Tag berichten, sind auch zwei junge Briten am Sairee Beach unterwegs. Hannah Witheridge, hüftlange, wasserstoffblonde Haare, und David Miller, ein schlaksiger Mann von 1,93 Metern.
Zwei Tage zuvor waren die beiden auf Koh Tao gelandet. Später würden viele behaupten, die beiden seien ein Paar gewesen, doch sie lernten sich erst auf der Insel kennen.
Hannah Witheridge hat damals gerade das erste Jahr ihres Masterstudiums in Language and Speech abgeschlossen, in Essex, London, rund zwei Autostunden von ihrer Familie entfernt, die in Hemsby, Norfolk, an der englischen Ostküste lebt.
David Miller war nach seinem Abschluss als Bauingenieur mit zwei Kumpels durch Australien und Südostasien gereist. Auf Facebook lädt er Fotos hoch, die ihn Arm in Arm mit Kängurus und mit Gitarre am Strand zeigen. Wie Witheridge kommt er vom Meer. Von der britischen Insel Jersey im Ärmelkanal. Wie Witheridge übernachtet er im Ocean View Resort, von dessen Balkonen aus man den Sairee Beach überblicken kann. Von dort sind es nur wenige Meter bis zur AC Bar.
Am 15. September betritt Hannah Witheridge um 00.15 Uhr die AC Bar. Zwei Stunden später, um 02.08 Uhr, so belegen es die Aufnahmen einer Überwachungskamera, betritt auch David Miller die Bar. Ein Bild aus jener Nacht zeigt die beiden, wie sie zusammen mit Freunden an einem langen Tisch sitzen. Witheridge hält einen Longdrink umklammert, Miller ein Bier. Gemeinsam lächeln sie in die Kamera. Wenige Stunden später sind beide tot.
Vier Stunden nachdem sich Zaw Lin und Wai Phyo schlafen gelegt haben, treibt David Millers Körper leblos in der Bucht, wenige Meter von der AC Bar entfernt. Sein Körper ist bis auf eine schwarze Socke am linken Fuss entkleidet und mit Stichwunden übersät, so steht es im Autopsiebericht, der der Republik vorliegt. Die Leiche von Hannah Witheridge liegt am Strand. Das pinkfarbene Top ist bis zur Hüfte heruntergezogen, der Slip heruntergerissen, die Beine angewinkelt und auseinandergezogen. Ihr Gesicht ist nur mehr eine rote Masse aus Knochen, Haaren und Blut.
Vergeblich sucht die Polizei nach Zeugen für die Tat. Alles, was sie finden, sind einzelne Beweisstücke am Strand: drei Zigarettenstummel, zwei von L&M, einen von Marlboro, eine Plastiktüte, ein rechter Flipflop, schwarz, ein benutztes Kondom, eine blutige Gartenhacke. Die meisten Bänder der Überwachungskameras, die zu Dutzenden am Strand angebracht sind, fehlen. Sie hätten nichts aufgezeichnet, werden die Polizisten später sagen.
Es gibt aber doch eine Videosequenz, die die Ermittler auf eine Spur bringen: Sie zeigt einen jungen Mann, oben ohne, die schwarzen Haare fallen tief in die Stirn. Die Bilder zeigen ihn, wie er am Seven-Eleven-Shop in der Nähe des Sairee Beach vorbeiläuft, einmal um 3.44 Uhr, einmal um 4.49 Uhr. Die thailändischen Medien taufen das Phantom «Running Man». Bald berichten Zeitungen und Fernsehsender auf der ganzen Welt, darunter die britische «Sun», die BBC und der «Guardian», über den grausamen Doppelmord. Zwei Wochen später nehmen die Ermittler die ersten Verdächtigen fest.
Am Abend des 1. Oktober stürmen Polizisten das Zimmer eines jungen Burmesen namens Mau Mau. Seine Aussage bringt die Ermittler auf die Spur seiner Freunde. Den einen überraschen die Ermittler im Schlaf in der Arbeitersiedlung auf Koh Tao, den anderen nehmen sie bei der Ankunft der Nachtfähre aus Koh Tao auf dem Festland in Surat Thani fest. Die Namen der beiden: Zaw Lin und Wai Phyo.
Am nächsten Tag werden die beiden in Koh Tao der Weltöffentlichkeit vorgeführt. Stolz verkünden die Ermittler, die beiden Burmesen hätten die Tat bereits gestanden. In der Gerichtsakte, die der Republik vorliegt, heisst es, Mau Mau, Zaw Lin und Wai Phyo hätten sich am 14. September um 22 Uhr am Strand getroffen. Dort hätten sie getrunken und geraucht. Als sie sich zu zweit auf den Heimweg machten, hätten Zaw Lin und Wai Phyo am Strand die Touristen erblickt, die sich zwischen den Felsen auszogen.
Wai Phyo habe zu Protokoll gegeben, er sei erregt gewesen, und zusammen hätten sie den Mann erschlagen, mit der Hacke, die sie am Strand gefunden hatten. Anschliessend hätten sie die Leiche ins Meer geworfen, bevor sie sich über Hannah Witheridge hergemacht und sie dann ebenfalls erschlagen hätten. Und: «Running Man», das sei Wai Phyo.
Eineinviertel Jahre später, am 15. Dezember 2015, neun Tage bevor im Gerichtssaal von Koh Samui das Urteil gesprochen wird, schreibt die Schweizerin Evelyne Vannier, die selbst viele Tage dem Prozess beigewohnt hat, den beiden einen Brief:
«Hey Jungs,
das ist der letzte Brief vor dem 24. Dezember, und ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass ihr bald frei sein werdet und ich in eurem Dorf sein werde und scharfes Curry esse, das eure Mütter gekocht haben. […] Ich bete für eure Freiheit und hoffe, das wird das Ende dieses Albtraums sein. Ich liebe euch beide, Evelyne»
Teil 2. Bangkwang Prison
«Dear Sweet Sister Evelyne,
DANKE FÜR ALLES. Jedes Foto habe ich immer noch im Kopf … Mir fehlen wirklich die Worte. Ich kann nur sagen DANKE Gott, dass er mir so eine Wonder Woman wie dich geschickt hat, um uns zu helfen und uns zu retten! Ich habe wirklich Lust, laut zu weinen … Unschuldig zu sein und für eine so schreckliche Sache bestraft zu werden, ist ausserhalb meiner Vorstellung. […] Es fühlt sich an, als würden wir dir unser Leben schulden. Du bist unsere Retterin! […] Deine Briefe und Fotos bringen Tränen von Freude und Hoffnung … DANKE! Zaw Lin»
Als Zaw Lin am 6. Juni 2016 in der Gefängniszelle in Bangkok sitzt, die er sich mit 14 anderen Häftlingen teilt, und diesen Brief verfasst, da haben ihm die Wachen die Bilder schon wieder abgenommen. Evelyne Vannier hat sie auf ihrem Laptop in Monthey archiviert.
Eines Tages, sagt sie stockend, als glaube sie selbst nicht mehr daran, eines Tages werde sie den beiden die Fotos noch einmal ausdrucken. Das Foto, auf dem sie mit Wai Phyos Mutter in einer Gondel auf dem trüben Thanzit-Fluss in der Regionalhauptstadt Kyaukphyu treibt. Grinsend, mit traditionellen Flechthüten auf dem Kopf. Das Foto, auf dem sie gemeinsam mit Zaw Lins Mutter unter einem dreckigen, gelben Sonnenschirm neben einer ungeteerten Strasse sitzt und mit einem Strohhalm Milch aus einer Kokosnuss saugt. Das mit den Männern, die sich mit freiem Oberkörper um zwei ausgemergelte Hähne scharen, die mit ihren grauen Schnäbeln aufeinander einhacken. Die Fotos mit den Kindern, die Evelyne auf die Wange küssen, als wäre sie nicht irgendeine Fremde aus einem anderen Teil der Welt, sondern ein hoher Besuch.
«Eure Leute waren so lieb zu mir, jeder hat sich so um mich gesorgt. Ich habe mich gefühlt wie eine Prinzessin … Es war wie ein Traum. Ich habe so fest an euch gedacht die ganze Zeit, manchmal konnte ich es gar nicht glauben, essen, schlafen … in eurem Zuhause mit euren Familien … Es war unglaublich. Eure Dörfer sind so schön, eure Leute so freundlich, ich vermisse sie jetzt schon.»
Für die Behörden ist der Fall klar, doch es gibt rasch Gerüchte über einen anderen Verdächtigen. Der hat aber gute Verbindungen nach oben
Einige Monate zuvor, Heiligabend 2015. Evelyne Vannier hält im Gerichtssaal von Koh Samui die Hände der Mütter von Zaw Lin und Wai Phyo, als das Urteil fällt: schuldig des zweifachen Mordes und der schweren Vergewaltigung. Die Strafe: Tod durch die Giftspritze.
Die Urteilsbegründung stützt sich auf das Geständnis der beiden. Und auf die beiden verschiedenen Spermaspuren an Witheridges Leiche, die laut dem thailändischen DNA-Gutachten mit den Spuren auf den Zigarettenstummeln und dem Speichel von Zaw Lin und Wai Phyo übereinstimmen.
Der Bruder des ermordeten David Miller stellt sich am Tag des Urteils mit seinen Eltern vor die Kameras der anwesenden Journalisten aus aller Welt und sagt: «Die Beweise sind überwältigend, wir sind überzeugt davon, dass hier Recht gesprochen wurde!» Für einen Moment wirkt es, als würden sich die Hoffnungen der thailändischen Behörden erfüllen: dass ein für allemal Klarheit geschaffen wird, in einem Fall, der die Weltöffentlichkeit über ein Jahr in Atem gehalten hat. Dass mit dem Urteil die Diskussionen um den Fall endlich zum Erliegen kommen. Und dass die Touristen zurückkehren nach Koh Tao, die als «Todesinsel» in Verruf geraten war.
Doch ist diesem Urteil zu trauen? Waren die beiden Burmesen wirklich die Täter – oder Sündenböcke für das Verbrechen eines anderen? Schon kurz nach der Verhaftung der beiden Männer wurden in thailändischen wie in internationalen Medien Zweifel laut: Am 21. Oktober 2014, drei Wochen nach ihrer Verhaftung, widerrufen die beiden Männer ihr Geständnis. Zaw Lin schreibt später in einem Brief an eine Journalistin:
«Die Polizei hat mein Zimmer gestürmt um 6 Uhr früh. Mit dem Auto haben sie mich zu einem Bungalow gefahren, von dem ich wusste, dass er keine Polizeistation war, und da haben sie mich gefragt, ob ich am 15. September zwei Menschen ermordet habe. […] Als ich gesagt habe, dass ich nichts weiss über den Mord, da haben der Übersetzer und die Polizisten begonnen, mich zu schlagen und zu treten, ins Gesicht und gegen die Brust, dann haben sie mir eine Plastiktüte über den Kopf gezogen, sodass ich nicht mehr atmen konnte. Ungefähr fünf von ihnen waren in dem Raum. Und jedes Mal, wenn ich gesagt habe, ich wisse nichts, haben sie mich mehr gefoltert. Aber sie haben gesagt, wenn ich nicht gestehe und das Dokument unterschreibe, dann werden sie mich erschiessen. Und niemand wird je davon erfahren. Und während sie das sagten, hielt einer eine Pistole an meinen Kopf. […] Also habe ich beschlossen, zu unterschreiben, und sie waren glücklich!»
Schreibt Zaw Lin in seinem Brief die Wahrheit? Oder hatten ihm seine Anwälte geraten, eine Lüge zu erzählen und die Aussage zurückzunehmen? Waren die DNA-Spuren nicht Beweis genug, dass die beiden das schwere Verbrechen begangen hatten?
Internationale Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch und die Prozessbeobachter der Londoner NGO «Solicitors International Human Rights Group» zweifeln an der Rechtmässigkeit des Prozesses. Ihre Vorwürfe: Die Polizei, die die Spuren nahm, war auch jene, die die DNA auswertete. Ein externes Kontrollgremium, wie es in Grossbritannien oder den USA vorgesehen ist, gab es nicht. Die Ergebnisse kamen von einem nicht akkreditierten Labor, und niemand – weder die Polizei noch ein Forensiker – hat den Bericht unterschrieben. Die Verteidigung forderte während des Prozesses, die DNA erneut zu testen. Die Antwort der Polizei: Die Spuren seien bedauerlicherweise nicht mehr verwertbar.
Und es gab viele offene Fragen: Warum fand sich keine DNA der beiden an der Tatwaffe, der Gartenhacke? Wo waren die restlichen Videos der am Strand angebrachten Überwachungskameras aus jener Nacht? Warum flohen Wai Phyo und Zaw Lin nicht, sondern gingen in den Tagen nach dem Mord weiter seelenruhig ihrer Arbeit nach in Bars, nur wenige hundert Meter entfernt vom Tatort?
Gleichzeitig kursieren zum Zeitpunkt des Urteils seit Monaten Gerüchte, dass die wahren Mörder noch immer auf der Insel lebten. So berichten damals thailändische Medien, so schildern es Inselbewohner in Gesprächen mit der Republik. Die Geschichte, die Zaw Lin und Wai Phyo entlasten könnte, aber bis heute nicht mehr ist als eine Legende, lautet wie folgt:
Verdächtigt wird der Sohn eines reichen Unternehmers, dessen Onkel die AC Bar betreibt. Er soll der Mann sein, der auf dem Überwachungskameravideo als «Running Man» in Erscheinung tritt. Wie Wai Phyo trägt er die Haare lang. Er soll Hannah Witheridge in der AC Bar kennengelernt haben.
Als sie nicht auf seine Flirtversuche ansprach, soll er sie erst mit einem Drink betäubt und später zusammen mit seinen Freunden überwältigt haben. Miller habe versucht, dazwischenzugehen. Woraufhin sie erst ihn erschlagen, anschliessend die junge Frau vergewaltigt und sie dann ebenfalls ermordet hätten. Noch am selben Morgen soll der Unternehmersohn auf einem Schnellboot von der Insel nach Bangkok geflohen sein.
Die thailändischen Behörden versuchen von Beginn an, diese Version zu entkräften. Im Beisein Dutzender Medienvertreter entnehmen Polizisten dem jungen Mann Speichel für eine DNA-Probe – die sich schnell als negativ herausstellt. Ein hochrangiger Offizier, der den Verdacht auf den Unternehmersohn lenkt, wird vom Fall abgezogen. Die thailändische Online-Zeitung «Khaosod English», die darüber berichtet, wird verklagt.
Das Urteil beschäftigt die Weltpresse, es gibt Demonstrationen, Unterstützung. Dann kehren die Touristen zurück auf die Insel. Und die Todgeweihten gehen vergessen
Der Fall spaltet alle, die den Prozess beobachten: Die einen glauben den thailändischen Behörden, die anderen misstrauen ihnen. Die einen glauben, wie die Familie von David Miller, dass es sich bei Wai Phyo und Zaw Lin um die Mörder handelt. Die anderen, wie Evelyne Vannier oder auch die Angehörigen von Hannah Witheridge, setzen sich für ihre Freilassung ein.
Zaw Lin und Wai Phyo bekommen davon wenig mit. Sie werden vom Gefängnis in Koh Samui in den Todestrakt des Bangkwang Prison in Bangkok verlegt. Sie kämpfen nicht mehr nur um Gerechtigkeit, sondern um ihr Leben.
In den ersten Monaten ist die Unterstützung gross. Medien auf der ganzen Welt berichten über das umstrittene Urteil. Die britische BBC bezeichnet die beiden in einem Artikel als «Sündenböcke». Auf den Strassen der thailändischen Hauptstadt Bangkok gehen Tausende Burmesen auf die Strasse, um für die Freilassung der beiden zu demonstrieren. Irgendwann schalten sich burmesische Diplomaten ein.
Zaw Lin und Wai Phyo erhalten viele Zuschriften von Unterstützern. Evelyne Vannier schickt den beiden einen Packen krakeliger Kinderbilder und schreibt dazu: «Hier sind Zeichnungen von vier Jahre alten Kindern für euch. Die Lehrerin hat nicht gesagt, dass ihr im Gefängnis seid (sie sind zu jung, um zu verstehen, warum Leute im Gefängnis sein könnten). Sie hat gesagt, es ist für zwei Jungs im Spital.»
Besorgte Aktivisten besuchen die beiden im Gefängnis. Einige von ihnen stellen Fragen nach Schuld und Unschuld. Nach Beweisen für die Tat, die es nebst den DNA-Spuren nicht zu geben scheint. Nach Beweisen für ein wasserdichtes Alibi, die ebenso fehlen. Evelyne Vannier stellt sich vor allem eine Frage: Werden die beiden das alles ertragen, ohne daran kaputtzugehen, ohne aufzugeben?
Je mehr Tage, Monate und Jahre ins Land ziehen, desto kleiner wird das öffentliche Interesse an der Geschichte der Jungen und desto grösser wird die Resignation der Unterstützer. Niemand geht mehr auf die Strasse. Keine Menschenrechtsorganisationen mehr, deren Sonderermittler Berichte abfassen und Petitionen starten. Keine Hobbyermittler im Internet, die nach den wahren Schuldigen für das Verbrechen suchen. Und die Touristen kehren zurück nach Koh Tao, als hätte es den Mord nie gegeben.
Evelyne Vannier vergisst nicht. Und sie lässt sich tätowieren, damit sie auch in Zukunft nicht vergisst. Eine Lotusblume für den schüchternen Wai Phyo, von dem sie sagt, dass er sich dem Urteil fügt, weil er denke, es sei die Strafe für Taten, die er in vergangenen Leben begangen hat. Einen Paradiesvogel für Zaw Lin, ein Rebell wie Evelyne Vannier selbst eine ist, er will sich mit der Ungerechtigkeit nicht abfinden und schreibt ihr immer wieder: «One day we will be free like a bird.»
Evelyne verlässt Thailand, aber sie gibt die beiden Männer nicht auf, sie wird für Zaw Lin und Wai Phyo zur Super Woman. Mit übernatürlichen Kräften?
Vannier schreibt immer weiter Briefe. Jeden Monat, manchmal jede Woche. Alle paar Monate reist sie von Koh Samui nach Bangkok, um die beiden im Gefängnis zu besuchen. Sie bastelt Collagen und postet sie auf Facebook: ihre Jungs hinter Gittern, mit Friedenstauben, die ihnen Olivenzweige bringen. Doch auch die Likes werden weniger, und mit ihnen die Spenden für die Familien der beiden. Vanniers Mann ist bald genervt von ihrer Besessenheit von den Jungs. Bevor die Vanniers im Jahr 2018 aus Thailand fortziehen – erst nach Spanien, dann zurück in die Schweiz – schreibt sie:
«Seid nicht traurig, ich verlasse Asien, aber das heisst nicht, dass ich euch verlasse. Wo immer ich sein werde, ich werde euch nie im Stich lassen. Ihr seid für immer in meinem Herzen und in meinen Gedanken, ganz gleich, wie weit weg wir voneinander sind.»
Im März 2019, ein Jahr nach der Rückkehr, der Schock. Evelyne Vannier wird schwer krank. Sie schreibt: «Ich bin in der Schweiz. […] Ich habe schlechte Nachrichten über meinen Gesundheitszustand. Ich habe Brustkrebs. Es ist eine ernste Krankheit, aber macht euch keine Sorgen, viele gute Ärzte kümmern sich um mich. Macht euch keine Sorgen, ich bin stark und bleibe gut gelaunt!»
Wai Phyo antwortet kurz darauf: «Was für schockierende Nachrichten. Ich kann es noch immer nicht glauben, dass dich die Krankheit heimgesucht hat. Ich bin sprachlos, kann nicht denken. Wie geht es dir jetzt? […] Ich bin sicher, du wirst gewinnen. : ) Gott liebt dich. Wir alle lieben dich. […] Ich bete für deine Gesundheit Tag und Nacht. Sie so stark wie du bist, weil du bist unsere Super Woman!»
An ihrem Geburtstag schickt ihr Zaw Lin eine Karte, auf die er mit Buntstiften eine dreistöckige Torte mit 20 Kerzen gemalt hat. «Happy birthday to you 1st july 1969.»
Und Vannier antwortet: «Hallo lieber kleiner Bruder, danke für die Karte mit dem netten Kuchen! An meinem Geburtstag haben wir ein ‹Escape Game› gespielt, wisst ihr, was das ist? Da bist du in einem Raum eingesperrt, und du musst Hinweise finden, die es dir ermöglichen, aus dem Raum zu fliehen. Wir hatten viel Spass, und wir haben es geschafft, in 58 Minuten aus dem Raum zu entkommen!»
Gerade als Evelyne Vannier von ihrem Brustkrebs genesen ist, droht die Welt von Zaw Lin und Wai Phyo endgültig zusammenzubrechen. Am 18. Juni 2018 wird in Thailand das erste Mal seit neun Jahren wieder ein Gefangener hingerichtet. Am 29. August 2019 wird im Fall Witheridge und Miller der letzte Einspruch der verurteilten jungen Männer abgelehnt. Evelyne Vannier, die Frau, bei der das Glas immer halb voll ist, sagt, dass sie ans Aufgeben gedacht hat, als sie Zaw Lins Worte gelesen habe. Eine Art Abschiedsbrief, nur wenige Zeilen in krakeliger Schrift.
«Geliebte Schwester Evelyne,
gestern, am 29. August, bin ich zum Gericht gegangen, und sie haben mir wieder ein Todesurteil gegeben. […] Ich bin sehr enttäuscht. Nichts wendet sich zum Guten.
Dein Bruder, Zaw Lin»
Epilog
Oktober 2020. Es ist kalt geworden im Wallis, als der Fotograf Rafael Heygster Evelyne Vannier zu Hause besucht. Vor wenigen Wochen wurde Zaw Lin von Wai Phyo getrennt und in einen anderen Gefängnistrakt verlegt, erzählt sie. Und dann: dass sich vielleicht doch noch alles zum Guten wenden wird.
Im August hat sie erfahren, dass der thailändische König anlässlich seines 68. Geburtstags Begnadigungen erlassen hat und die Todesstrafe der beiden jungen Männer in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt wird. «Das ist ein kleiner Schritt. Aber es ermöglicht, dass sie irgendwann Amnestie bekommen. Und immerhin müssen sie nicht mehr jeden Tag aufwachen und Angst haben, dass sie heute umgebracht werden», sagt Evelyne Vannier.
Vielleicht sind gerade zum ersten Mal Marienkäfer in die Zellen von Zaw Lin und Wai Phyo geschwirrt.
Bartholomäus von Laffert ist freier Journalist, lebt in Wien und ist Teil des «Selbstlaut Kollektivs». Er arbeitet unter anderem für den «Spiegel», den «Deutschlandfunk», «Surprise» und das «Dummy Magazin». Für die Republik schrieb er über Abdelsalam Kesha, eine Ikone des sudanesischen Widerstands.
Wir haben in einer ersten Version die Muttersprache von Zaw Lin als «Arkanesisch» bezeichnet – richtig ist Arakanesisch. Wir bedanken uns für den Hinweis!