«Es gibt zu wenig Religion»

Der IS gilt als besiegt, aber islamistische Anschläge häufen sich wieder. Stehen wir vor einer neuen Terrorwelle in Europa? Der französische Islamismus­experte Olivier Roy erklärt, wie sich die Täterprofile gewandelt haben, warum Religiosität wenig mit Terrorismus zu tun hat und wie Mohammed-Karikaturen für einen autoritären Übergriff des Staates missbraucht werden.

Ein Interview von Daniel Binswanger (Text) und Alexandra Compain-Tissier (Illustration), 17.11.2020

Der Islamwissenschaftler, Regierungs­berater und Terrorismus­experte Olivier Roy ist gerade ein sehr gefragter Mann. In seiner idyllischen Mönchs­zelle hoch über Florenz – Roy ist Professor am Europäischen Hochschul­institut, das in einem ehemaligen Dominikaner­kloster untergebracht ist – gibt er dieser Tage zahlreiche Interviews, corona­bedingt via Videotelefon.

Nach den kürzlich verübten Attentaten von Paris, Conflans, Nizza und Wien wird Europa von einer brutalen Realität eingeholt: Der IS mag im Irak und in Syrien militärisch besiegt worden sein, aber weder der islamistische Terror noch der religiöse Fundamentalismus sind verschwunden. Sind die Anschläge der letzten Woche der Beginn einer neuen Welle? Ist Europa zu nachlässig geworden gegenüber der Bedrohung, die weiterhin in seinen Vorstädten gärt? Die Republik hat mit Olivier Roy darüber gesprochen.

Olivier Roy, vor zwei Wochen wurde Wien von einem Terror­anschlag getroffen. Waren Sie überrascht, als es nun auch ausserhalb von Frankreich zu einem Anschlag gekommen ist?
Natürlich ist es in Frankreich häufiger zu Anschlägen gekommen als anderswo, aber in den letzten Jahren haben in vielen europäischen Ländern Attentate stattgefunden. Das ist kein Zufall, sondern hat strukturelle Gründe.

Welche?
Die Mehrheit der Terroristen gehört zur «zweiten Generation», das heisst, es handelt sich um die Kinder muslimischer Eltern, die als Arbeits­migranten nach Europa gekommen sind. Das begann 1995 mit dem Terroristen Khaled Kelkal, der in Lyon aufwuchs, und es reicht bis zur Attacke auf das Bataclan im Jahr 2015, die ebenfalls von Vertretern der zweiten Generation begangen worden ist – nebst ein paar Konvertiten. Eine Seltsamkeit fällt auf: Während 20 Jahren waren es immer Vertreter der zweiten Generation, die zur Tat schritten. Rein chronologisch betrachtet sollten wir jetzt bei den Terroristen der dritten Generation angekommen sein, aber die existieren nicht. In Frankreich und wahrscheinlich auch in England ist die Zeit der zweiten Generation jedoch abgelaufen – ausser für bestimmte ethnische Gruppen.

An welche Bevölkerungs­gruppen denken Sie?
In Europa sind das in erster Linie Tschetschenen und Muslime aus Balkanländern.

Das Phänomen des «Secondo», der in den Terrorismus abgleitet, betrifft heute also vornehmlich diese Herkunfts­länder, weil die Einwanderung später stattgefunden hat als bei Migranten aus dem arabischen Raum?
Nehmen Sie die aktuellen Ereignisse. Der Anschlag auf den französischen Lehrer Samuel Paty wurde von einem Tschetschenen ausgeführt, in Wien war es ein Albaner aus Nord­mazedonien. Das sind klassische Fälle von radikalisierten Secondos. Seit 2016 beobachten wir in Gross­britannien, Deutschland und Frankreich jedoch, dass die Täter­profile sehr viel heterogener werden. Was sie verbindet: Es sind Einzeltäter. Und Dilettanten.

Wie zeigt sich das?
Es handelt sich in der Regel um Messer­attacken. Einzel­täter, die ihre Aktionen nicht sehr aufwendig vorbereiten, nehmen sich ein Küchen­messer und gehen auf ihre Opfer los. Sie verfügen über keine logistische Unter­stützung. Der Modus Operandi ist das Gegenteil des Anschlags auf das Bataclan: Dort waren Secondos am Werk, die in Syrien eine Kommando­struktur hatten und sich auf logistische Netzwerke stützen konnten. Sie verfügten über Kalaschnikows, Sprengstoff, das ganze Arsenal. Das hat sich in Frankreich seither nie mehr reproduziert.

Im Fall von Nizza stellt sich aber schon die Frage, ob ein organisiertes Netzwerk dahinter­steht. Der Attentäter stammt aus Tunis, kam über Lampedusa nach Europa und schritt sofort nach seiner Ankunft in Frankreich zur Tat.
Soweit wir heute wissen, war er dennoch ein Einzel­täter. Er hatte keine Verbindungen zu einer Terror­gruppe. Er besuchte regelmässig die Moschee, aber das ist weiss Gott nichts Ausser­gewöhnliches, schon gar nicht in Tunesien. Er hatte das typische Profil, das auch die europäischen Einzeltäter haben: ein verurteilter Klein­krimineller, der sich ganz plötzlich zum Rächer des Propheten empor­schwingt, ein Messer nimmt, Ungläubige tötet. Dabei ist das Messer für so eine Aktion offensichtlich ungeeignet: Es gelingt in der Regel nicht, viele Opfer zu machen.

Aber Messer sind verfügbar.
Ja, es gibt Fälle, wo es wohl einfach nicht gelang, eine Kalaschnikow zu organisieren. Aber es gibt auch die Fälle, wo es daran nicht gelegen haben kann. Der Tschetschene, der in Paris Samuel Paty umgebracht hat, hätte sich leicht eine Kalaschnikow beschaffen können. In der Pariser Banlieue kostet das 100 Euro. Es hat ihn wohl nicht interessiert, viele Opfer zu machen, er wollte nur den Lehrer töten. Es geht darum, zu töten – und sich dann töten zu lassen. Das ist der Kern der Sache: Attentäter, die wir heute beobachten, kommen bei ihren Aktionen selber ums Leben. Nizza ist die grosse Ausnahme, weil die Polizisten geistes­gegenwärtig genug waren, dem Täter in die Beine zu schiessen. Normaler­weise jedoch entkommt keiner. Das ist der Grund, weshalb ich mein letztes Buch «Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod» genannt habe. Der eigene Tod ist der Kern dieses Terrorismus.

Aber die Voraussetzung ist Fanatismus.
Sicher. Aber aufgepasst: Wir verbringen viel Zeit damit, Täter­profile von radikalisierten Fanatikern zu machen, ihr Denken und ihre Ideologie zu analysieren. Wir übersehen dabei ein Detail: Reden können wir nur mit denen, die nicht zur Tat geschritten sind. Es gibt zwar die Islamisten, die nach Syrien in den Jihad gezogen und zurück­gekommen sind, aber das ist nicht zu verwechseln mit den Terroristen in Europa. Die sind alle tot. Das ist aussergewöhnlich.

Gehört das nicht zum Wesen des Terrorismus?
Nein. Im palästinensischen, armenischen oder kurdischen Terrorismus gibt es kaum Selbstmord­attentate: Das Ziel ist, zuzuschlagen und weiterzukämpfen. Eine Terror­organisation wie das Palästinenser­kommando Abu Nidal in den Achtziger­jahren war darauf angewiesen, ihre Soldaten wieder­einzusetzen. Der Islamische Staat und al-Qaida hingegen haben alle ihre Terroristen in den Tod geschickt. Der eigene Tod ist ein fundamentaler Aspekt ihrer Terroraktionen.

Sie sagen, wir hätten es heute vor allem mit Einzel­tätern zu tun, die Messer­attacken ausführen. Das gilt nicht für den Attentäter von Wien: Er hatte Verbindungen zum Islamischen Staat und war gut bewaffnet.
Ja, er war noch ein Repräsentant des Terrorismus der «zweiten Generation». Verbindungen zum Islamischen Staat existieren, aber ihre Natur ist unklar. Was wir sicher wissen, ist, dass er 2018 nach Syrien in den Jihad fahren wollte, aber in der Türkei abgefangen wurde.

Ist seine Aktion ein Zeichen dafür, dass der Islamische Staat in Europa wieder aktiv wird?
Der IS ist extrem geschwächt. Es gibt keine neue Bedrohung. Schauen Sie sich das aktuelle Attentat an: Der Täter versuchte in der Slowakei eine Waffe und Munition zu kaufen. In den IS-Kommandos besorgen nicht die Personen, die das Attentat ausüben, die Waffen. Das ist das Einmaleins des Operierens im Unter­grund. Wenn Sie eine Aktion planen, werden Sie nicht mit Ihrer Kredit­karte und dem Wagen der Mutter eines Komplizen auf Shoppingtour gehen. Der Attentäter von Wien war ein Dilettant.

Sie betrachten das Attentat von Wien also nicht als die Ankündigung der Wiederkehr des Terrors.
Nein, das ist ein isolierter Vorfall. Allerdings: Wir sind in einer Situation, in der ein beliebiger Einzel­täter sich mit dem grossen Narrativ des IS oder von al-Qaida identifizieren und einen Terrorakt begehen kann. Das ist die grosse Kraft dieser beiden Terror­organisationen: Sie haben weniger eine kohärente Ideologie als eine grosse Erzählung im Angebot. Die Erzählung vom Loser, der sich in einen Helden verwandelt, den Propheten rächt und ins Paradies eingeht durch einen Akt der Selbstaufopferung.

Vor fünf Jahren, als der IS auf dem Höhepunkt seiner Macht stand, war es einfacher nachzu­vollziehen, weshalb er für junge Männer und Frauen Verführungs­kraft entfalten konnte. Heute gibt es den IS als Staats­gebilde gar nicht mehr. Weshalb kann er immer noch faszinieren?
Auf dem Markt der radikalen Ideologien gibt es heute eben nur den Islam. Wenn Sie wollen, dass man über Sie auf der Titelseite spricht, müssen sie «Allahu akbar» brüllen.

Es fehlt gewisser­massen an Alternativen?
Terrorbewegungen kommen in Wellen. Der Links­terrorismus in den Siebziger- und Achtziger­jahren beispiels­weise hat sich nach der Niederlage der Roten Brigaden in Italien quasi in Luft aufgelöst. Man könnte auch andere Beispiele zitieren, etwa die kurdische Widerstands­bewegung. Phasenweise gab es zahlreiche Attentate in der Türkei. Heute ist das vorüber. Auffällig im Fall des islamistischen Terrors ist, dass die Täter sich heute viel weniger auf den IS oder al-Qaida beziehen. Der Tschetschene bekannte sich nicht zum IS. Er nahm in Anspruch, den Propheten zu rächen. Diese Selbst­legitimierung ist im Moment sehr wichtig, auch für den Terrorismus in muslimischen Ländern wie Pakistan. Es ist eine individuelle Mobilisierung, bei der es um den Widerstand gegen die Blasphemie geht. Das erklärt auch, weshalb es in Frankreich jetzt zu mehreren Vorfällen gekommen ist: Die Frage der Karikaturen hat Öl ins Feuer gegossen.

Was ist Ihre Position zu den Mohammed-Karikaturen? Muss man die Meinungs­freiheit affirmieren oder Rücksicht nehmen auf religiöse Tabus?
In der Theorie ist die Antwort sehr einfach: Wir müssen die Meinungs­freiheit durch alle Böden verteidigen. Ergo hat «Charlie Hebdo» jedes Recht, die Karikaturen zu veröffentlichen. De facto ist die Sache komplizierter.

Weshalb?
Macron hat erklärt: Wir werden bei den Karikaturen nicht zurück­weichen. Das heisst, ein Teil der Staats­gewalt und der öffentlichen Meinung stellt sich hinter die Karikaturen. Mehrere Bürger­meister haben die Karikaturen auf öffentliche Gebäude projizieren lassen. Es gibt den Vorschlag, Broschüren mit den Karikaturen zu drucken und in den Schulen zu verteilen. Es setzt sich die Ansicht durch, man müsse die Muslime dazu zwingen, sich die Karikaturen anzuschauen. Als ob man sie dazu zwingen wollte, Schweine­fleisch zu essen. Das hat nichts mehr mit Meinungs­freiheit zu tun. Das ist ein autoritärer Übergriff. Die Botschaft lautet: Wenn ihr die Karikaturen nicht akzeptiert, seid ihr nicht Teil der französischen Nation. Und dieser aggressive Laizismus entspricht leider auch einer französischen Tradition.

Hat militante Prinzipien­festigkeit nicht auch ihr Gutes?
Hier richtet sie Schaden an. Am vorletzten Freitag ist etwas Bemerkenswertes geschehen: Der Bischof von Toulouse, Monseigneur Le Gall, hat öffentlich erklärt, dass er als Bischof das Recht auf Blasphemie nicht gutheissen könne. Die französische Regierung scheint die Muslime dazu zwingen zu wollen, Blasphemie zu akzeptieren. Und jetzt bekennt ein Kirchen­vertreter: Auch der Katholizismus kann Blasphemie nicht akzeptieren. Es ist widersprüchlich, wenn eine laizistische Republik die Blasphemie als Recht festschreiben will.

Weshalb?
In einem laizistischen Universum existiert Blasphemie gar nicht, da es sich um ein theologisches Konzept handelt. Alles, was die Republik verteidigen kann, ist die Meinungs­freiheit, nicht das Recht auf Blasphemie. Wenn der Staat das Recht auf Blasphemie einfordert, mischt er sich in die Theologie ein, und dafür ist er nicht zuständig. Man kann deshalb von den Muslimen nicht verlangen, ein Recht auf Blasphemie zu akzeptieren. Man kann einfordern, dass sie die Meinungs­freiheit akzeptieren. Wenn «Charlie Hebdo» die Karikaturen veröffentlichen will – wunderbar. Aber niemand soll gezwungen sein, «Charlie Hebdo» zu kaufen.

Und wenn die Karikaturen in der Schule gezeigt werden?
Ich befürworte das nicht. Man kann natürlich über die Karikaturen sprechen. Aber sie zeigen? Jules Ferry, die historische Gründer­figur der laizistischen Volksschule in Frankreich, schrieb in seinem berühmten Brief an die Volksschul­lehrer: «Wenn Sie etwas sagen müssen, was auch nur einen Familien­vater schockiert, sagen Sie es nicht!» Die Vorstellung von republikanischen Werten, die wir aggressiv affirmieren sollten, ist etwas Neues. Ferry sagte: Es gibt keine Werte der Republik. Es gibt nur Werte an sich, die immer hochgehalten werden müssen.

Sie betrachten die Haltung der Macron-Regierung also als Überreaktion?
Die offizielle heutige Haltung ist: Man muss die Karikaturen zeigen. Die vernünftige Position wäre: Man kann die Karikaturen zeigen. Das ist ein Unterschied. Die Position der katholischen Kirche erscheint mir realistischer. Sie weist Gewalt natürlich in aller Form zurück, aber sie hat sich gegen aus ihrer Sicht blasphemische Karikaturen auch schon mit Klagen gewehrt. Sie wehrt sich gegen die Banalisierung der Blasphemie. Das ist auch gar nicht anders zu erwarten.

Der Kommentar des Bischofs von Toulouse löste keine Kontroversen aus?
Der Präsident des Conseil général der Region Toulouse hat auf interessante Weise reagiert: In einer erbosten Stellung­nahme warf er dem Bischof vor, er widersetze sich der Säkularisierung des Katholizismus. Das ist absurd: Natürlich widersetzt sich die katholische Kirche ihrer eigenen Säkularisierung. Der Katholizismus ist eine Religion – und will eine Religion bleiben.

Sie halten den französischen Laizismus für zu wenig tolerant?
Es gibt in Frankreich ein Problem mit der Religion im öffentlichen Raum. In Deutschland, England oder in der Schweiz ist die Lage wesentlich entspannter. Die Rolle der Religion in der Öffentlichkeit ist weniger umkämpft.

Sie stehen dem französischen Laizismus mit einem grundsätzlichen Vorbehalt gegenüber.
Die verkrampfte Haltung gegenüber dem Islam als Religion ist eine paradoxe Konsequenz der Entchristianisierung und der Säkularisierung. Unsere Gesellschaften verlieren das Verständnis für das Wesen von Religiosität. Und weil man Religiosität als solche nicht mehr versteht, wird sie als bedrohlich empfunden. Die angestrebte Lösung soll darin liegen, Religion zu einer reinen Privat­sache zu machen. Das zeigt sich zum Beispiel am jetzt wieder so viel diskutierten Kampf gegen den Separatismus, gegen die Selbst­absonderung religiöser Minder­heiten oder bestimmter Bevölkerungs­gruppen.

Inwiefern?
Es wird nur über religiös motivierten Separatismus geredet. Der politische Separatismus wird vollkommen ignoriert. Die für Integration zuständige Ministerin Marlène Schiappa antwortete auf die Frage, wie denn die Mobilisierung gegen den Separatismus nun mit der Korsika-Frage umgehe, Korsika sei gar nicht das Problem. Die einzige echte Separatismus­bewegung, die es heute gibt in Frankreich, ist der korsische Separatismus. Die Regierung aber sagt: Im Kampf gegen Separatismus können wir das ignorieren. Weshalb? Weil das Problem gar nicht der Separatismus ist. Die Debatte kreist letztlich nur um einen blinden Fleck: die Religion.

Der französische Staat hat doch lange Erfahrungen mit dem Katholizismus.
Die katholische Kirche hält sich bedeckt und will sich nicht exponieren. Sie sagt der Regierung: Macht mit den Moscheen, was ihr wollt, aber die Kirchen wollen wir offen halten während des Lockdowns. Für ein Offenbleiben anderer Gebets­stätten setzt sie sich nicht ein, weder für die Synagogen noch für die Moscheen. Die heutige Kirche verhält sich ein bisschen wie eine Gewerkschaft: Für bestimmte Branchen ist sie zuständig, für andere nicht. Die einzigen Bischöfe, die einen Diskurs über die Rolle der Religion in der Gesellschaft führen wollen, sind die Traditionalisten, die als erzreaktionär gelten.

Wie würden Sie denn den Platz der Religion in einem säkularisierten Staat umreissen?
Diesen Platz gibt es. Aber es gibt keine säkularisierte Theologie. Für die heutige Regierung ist die Wunsch­definition eines gemässigten Gläubigen jemand, der nur mässig glaubt. Wer wirklich gläubig ist, wird verdächtig. Deshalb macht man sich auf die Jagd nach Zeichen strenger Observanz. Ein Muslim, der nur einmal pro Tag betet, ist okay, wenn er fünfmal pro Tag betet, wird es anrüchig. Die französische Regierung hat offen deklariert, dass sie sich einen gemässigten Islam wünscht. Aber was ist auf einer theologischen Ebene eine gemässigte Religion? Das ergibt keinen Sinn.

Aber man muss das Zusammen­leben auf der Basis rechts­staatlicher Prinzipien organisieren.
Natürlich, man muss darüber reden, welchen Platz eine Religion in der Gesellschaft und im öffentlichen Raum einnehmen kann. Das Christentum hat dieses Problem gelöst über die 2-Reiche-Lehre, die Unter­scheidung von irdischem Staat und Gottesstaat. Wir sollten aber nicht vergessen, dass es Zeit brauchte, um diese Unter­scheidung durchzusetzen. Die katholische Kirche hat den Laizismus in Frankreich erst 1929 mit den Lateran­verträgen akzeptiert. In Italien hat es noch viel länger gedauert, letztlich bis zum Konkordat von 1984. Der Katholizismus hat gelernt, den Laizismus zu akzeptieren – aber nicht, indem er ihn als Relativierung des Glaubens auffasste. Selbstverständlich steht für einen katholischen Gläubigen der Gottesstaat über dem irdischen Staat. Es scheint heute die Auffassung zu bestehen, dass ein Gläubiger, der Gott über die Menschen stellt, religiösen Separatismus betreibt. Wenn dem so ist, sind aber alle Religionen separatistisch, ausser vielleicht der Buddhismus.

Frankreich tut sich also schwer mit der Integration des Islam, weil es sich generell schwertut damit, der Religiosität einen Platz zuzuweisen?
Die heutige Idealvorstellung von Religion ist Yoga. Das kann man in seiner Küche auf einer Matte machen, und man geht damit niemandem auf die Nerven. Diese Haltung nimmt sowohl die öffentliche Meinung als auch die Regierung ein. Allerdings funktioniert das nur in einer vollständig säkularisierten Gesellschaft. Für Frankreich wird das nicht nur mit Bezug auf den Islam zum Problem. Den Katholizismus kann man zwar ignorieren, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Die extrem heftige Mobilisierung gegen die Ehe für alle, die dazu führte, dass 300’000 Katholiken auf die Strasse gingen, ist ein deutliches Zeichen, dass etwas aus dem Gleich­gewicht geraten ist. Das gab es in keinem anderen Land in Westeuropa. Es zeigt, dass wir nicht nur mit dem Islam ein Problem haben.

Und dieses Problem ist grösser als anderswo?
Es gibt bei uns den Willen, die Religiosität nicht einfach nur in die Gesellschaft und die öffentliche Sphäre zu integrieren, sondern sie zu organisieren, mit einer säkularisierten Welt kompatibel zu machen.

Und jetzt, im Kampf gegen den Terrorismus, bekommt dieser Wille gewaltigen Auftrieb?
Das Problem ist, dass Religiosität und Terrorismus sehr wenig miteinander zu tun haben. Der Terrorismus findet keine Anhänger in den Milieus der traditionalistischen, konservativen Gläubigen. Es gibt zwar wilde Theorien über die Rolle des Salafismus bei der islamistischen Radikalisierung, aber wir sind an einem Punkt, an dem beinahe jeder praktizierende Muslim als Salafist betrachtet wird. Sehr beliebt sind auch die Erklärungen über den Krypto-Salafismus: Man bedient sich des Konzepts der taqīya, das heisst der im Islam in Notlagen gestatteten Lüge. Ein Terrorist, der kein offener Salafist ist, kann demgemäss nur ein heimlicher Salafist sein, der die taqīya praktiziert. Das Problem ist: Diese vermeintliche Eindämmung des Terrors wird zu nichts führen. Weil sie das Phänomen nicht versteht.

Sie sagen also, der islamistische Terrorismus habe wenig mit Religion und viel mit einem Todeskult, eigentlich einem Nihilismus, zu tun. Sie sagen auch, dass es immer um einen Generationen­konflikt geht.
Der Generationenkonflikt ist zentral, denn er geht zusammen mit der «Dekulturierung», dem Verlust der eigenen Herkunfts­kultur. Das ist der Kern meiner These: Die Gewalt entspringt der Dekulturierung der Religion. Das lässt sich überall beobachten. Der neue Born-again-Evangelikalismus in den USA hat zwar nicht zu Terrorismus geführt, aber zu einer extremen Brutalisierung der Umgangs­formen und der Politik. Oder schauen Sie nach Indien: Die Gewalt­tätigkeit des radikalisierten hinduistischen Nationalismus hat nichts zu tun mit dem traditionellen Hinduismus, im Gegenteil. Weil die Traditions­kontinuitäten abrissen, wurde ein neuer, künstlicher Hinduismus erfunden, eine Art New-Age-Hinduismus. Dieser pseudo­traditionelle Hinduismus ist extrem gewalttätig. Schliesslich erklärt die Dekulturierung auch, weshalb vorwiegend Secondos anfällig sein können für Terrorismus.

Weshalb?
Weil es für ihre Eltern schwierig werden kann, ein kulturelles Erbe weiterzugeben. Das ist besonders ausgeprägt bei Immigranten der zweiten Generation aus dem Maghreb, weil sehr häufig die Herkunfts­sprache, das Arabische, verloren gegangen ist. Es erklärt auch, weshalb es sehr wenig türkisch­stämmige Terroristen in Europa gibt, trotz der starken türkischen Immigration. In den türkischen Communitys geht die Sprache nicht verloren. Zudem stellt die türkische Schrift­sprache – sehr im Gegensatz zum schriftlichen Arabisch – für die in Europa aufgewachsenen Secondos keine Hürde dar: Sie können türkische Zeitungen lesen. Der Schlüssel zum Terrorismus ist die Dekulturierung. Viel stärker als die Migration.

Aber die Migration kann zu Dekulturierung führen?
Natürlich. Aber es gibt auch die Dekulturierung in situ, die stattfindet ohne Migrations­bewegung. Betrachten wir Tunesien: Es gibt eine massive Auflösung des sozialen Gefüges, einen starken Verlust tradierter Verhaltens­muster und Bindungen. In Europa sind wir unfähig, das wahrzunehmen: Wir gehen davon aus, dass die maghrebinischen Gesellschaften traditionalistisch sind, mit traditionalistischen Familien­strukturen, und dass diese Traditionen in Konflikt treten mit westlichen Werten. Die Realität ist aber, dass man in Tunesien, Marokko oder Algerien einen rapiden sozialen Wandel und eine starke Dekulturierung beobachtet. Die Mutter des tunesischen Terroristen, der das Attentat von Nizza ausübte, reagierte genau gleich wie die Mutter des Mazedoniers, der in Wien zuschlug: Ich verstehe nicht! Wir haben alles getan! Er war drogensüchtig, aber er hat sich gebessert, wurde ein guter Junge. Sie ist aus allen Wolken gefallen. Es sind da genau dieselben Generationen­konflikte am Werk wie in den europäischen Vorstädten.

Man müsste also bei der Dekulturierung ansetzen?
Ohne Zweifel. Aber was bieten wir an? Einen Zwang zur Akkulturierung. Wir sagen: Ihr müsst euch gemäss den okzidentalen Werten verhalten. Das ist nur schon deshalb schwierig, weil wir ein Glaubwürdigkeits­problem haben. Die französische Regierung hat offiziell erklärt, der Islam sei nicht feministisch: völlig richtig. Aber ist der Katholizismus feministisch? Ist das französische Bildungs­system feministisch? Die Armee? Der französische Erziehungs­minister hat gleichzeitig denunziert, dass junge Mädchen bauchnabelfrei in die Schule kommen – es errege die männlichen Mitschüler zu sehr –, und sich gegen das Kopftuch ausgesprochen. Das kann man an Wider­sprüchlichkeit nicht mehr überbieten. Und wieder einmal wird der Streit um sogenannt religiöse Symbole ausschliesslich auf dem Kampffeld des weiblichen Körpers ausgetragen. Das ist Antifeminismus in Reinkultur.

Sie betonen, dass der Kern des islamistischen Terrorismus eine Art Todeskult ist, dass er ideologisch atemberaubend armselig sei. Er erscheint in Ihrer Analyse mindestens so sehr als psycho­pathologisches wie als politisches Phänomen. Gibt es überhaupt eine politische Antwort?
Bis zu einem gewissen Grad werden wir akzeptieren müssen, dass der islamistische Terror zu den pathologischen Gewalt­phänomenen gehört, mit denen unsere Gesellschaften geschlagen sind und gegen die wir keine verlässlichen Mittel haben. Niemandem würde es einfallen zu fragen: Was ist die politische Antwort auf Serien­mörder? Es gibt sie nicht.

Aber es gibt effizientere und weniger effiziente Eindämmungsstrategien.
Sicher. Am wichtigsten ist die Entzauberung des islamistischen Helden-Narrativs. Wir dürfen nicht vergessen: Es ist eine Erzählung, die auf gescheiterte Existenzen eine grosse Anziehungs­kraft ausübt. Die gilt es zu brechen. Das militärische Nieder­walzen des Islamischen Staats in Syrien und im Irak war dafür sehr hilfreich. Zweitens muss man aufzeigen, dass die Terroristen keine Helden, sondern jämmerliche Figuren sind. Leider machen wir das exakte Gegenteil.

Nämlich?
Vier unabhängig voneinander handelnde Freaks töten ein Dutzend Menschen, und der französische Staat sagt: Frankreich ist im Krieg. Man könnte glauben, wir befänden uns im August 1914. Es hört gar nicht mehr auf mit den Trikoloren auf den Titelseiten, den Schweige­minuten, den Staats­begräbnissen, den Fahnen auf halbmast. Für verwirrte Geister ist das ein extrem verlockendes Angebot, auf die Titel­seite zu kommen. Drittens müssen wir der Religiosität einen Platz lassen in der Öffentlichkeit, damit junge Männer, die mystische Krisen haben, diese in einem Milieu ausleben können, welches sie auffängt, und damit es nicht mit Gewalt­akten endet. Das bedeutet, dass man auch Formen des Islam akzeptieren muss, die der Staatsmacht nicht gefallen. Aber Frankreich arrangiert sich auch mit dem katholischen, dem protestantischen und dem jüdischen Integrismus. Niemand liebt den Integrismus. Aber wir haben vernünftige Wege aushandeln können, um mit ihm zu koexistieren.

Sie glauben also, man muss der Religiosität – ganz besonders der islamischen – mehr Raum geben.
Die Reaktion des französischen Staats auf den Terrorismus besteht darin, zu sagen: Es gibt zu viel Religion. Das ist ein schwerer Fehler. Die Wahrheit ist: Es gibt zu wenig Religion, zu wenig Raum für Religiosität in unseren Gesellschaften. Das fördert die Gewalt.

In einer früheren Version schrieben wir beim Kampf gegen den Terrorismus von «Aufschub», richtig muss es «Auftrieb» heissen. Wir entschuldigen uns für den Fehler.

Zur Person

B. Cannarsa/Opale/Leemage/laif

Der Orientalist und Politologe Olivier Roy zählt zu den führenden französischen Experten für politischen Islam. Er war langjähriger Berater der französischen Regierung, übernahm diplomatische Missionen für die Uno und die OSZE in Afghanistan und Zentral­asien und ist heute Professor am Europäischen Hochschul­institut in Florenz. Roy hat in zahlreichen Publikationen die heutige islamische Welt analysiert. In seinem jüngsten Buch, «Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod», analysiert er den islamistischen Terror als eigentlichen Todeskult.