Wir sind überlastet
Noch halten die Spitäler der zweiten Welle stand. Aber unsere Gesellschaft hat irreparable Schäden erlitten.
Von Daniel Binswanger, 14.11.2020
Werden wir die Intensivbettenkapazität überschreiten? Werden wir darunterbleiben? Es ist die neue Schicksalsfrage, die das Land seit mehreren Wochen in Atem hält, spätestens seit Martin Ackermann, der Leiter der wissenschaftlichen Covid-Taskforce, am 27. Oktober an der Medienkonferenz des Bundesamts für Gesundheit vor der bevorstehenden Überlastung des Gesundheitssystems warnte und die sofortige Senkung der Reproduktionszahl anmahnte. Intensivkapazitäten-Überschreitung: ja oder nein? Das erscheint als die neue Benchmark der Schweizer Covid-Strategie.
Es ist völlig richtig, dass die Taskforce ihre Autorität in die Waagschale geworfen hat, um vor der sich abzeichnenden dramatischen Entwicklung zu warnen. Unbestreitbar muss angesichts der angespannten Lage die oberste Priorität darin liegen, die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems zu erhalten. Dennoch nimmt die öffentliche Debatte in der Schweiz eine seltsame Wendung. Die grundsätzlichste Frage ist nicht die nach den medizinischen Kapazitäten. Es ist die nach der Zahl der Todesopfer.
Das Behördenversagen – die ungenügende Ausweitung von Testkapazitäten und Contact-Tracing, die Föderalismus-Blockaden, der tiefenentspannte Umgang mit ansteigenden Fallzahlen im Sommer, die Zeitlupenreaktion, als im Oktober eine explosive Infektionsentwicklung einsetzte – kostet Menschenleben. Hunderte, Tausende Menschenleben. Haben wir das gewollt? Haben wir eine öffentliche Auseinandersetzung darüber geführt, ob wir diese Toten in Kauf nehmen? Ist in einem politischen Prozess entschieden worden, dass schutzbedürftige Mitmenschen jetzt leider Gottes selber schauen müssen, ob sie diesen Winter überleben? Dass überall im Land, in Alters- und in Pflegeheimen, sich nun stille und endgültige Dramen abspielen – praktischerweise in rund 50 Prozent der Fälle, ganz ohne dass Spitalkapazitäten belastet würden?
Als Gemeinschaft und als Staatswesen tragen wir die Verantwortung für vulnerable Bürgerinnen. Die Frage, weshalb wir sie nicht wahrgenommen haben, wird dieses Land noch beschäftigen. Auch wenn die Pandemie schon lange vorüber gewesen sein wird.
Wir wollen nicht schwarzmalen, aber die Daten sprechen eine deutliche Sprache. «Auch wenn wir die Zahlen wieder herunterbringen, also wenn wir die Reproduktionszahl in den Bereich von 0,8 senken können, müssen wir für diese zweite Welle bis Ende Jahr wohl doch mit mindestens 3000 Todesfällen rechnen», sagt der Berner Epidemiologe Christian Althaus auf Anfrage der Republik. Bis zum 31. Dezember wird uns Covid demgemäss 4800 Leben gekostet haben, optimistisch geschätzt. Und dann steht immer noch ein Winterquartal bevor, das seinerseits noch einmal schwierig werden könnte. Sicherlich, es gibt Länder, die bei den Todesfällen deutlich schlechter abschneiden. Aber es gibt auch Länder, die viel besser dastehen. Wir hätten es in der Hand gehabt.
Heute haben wir es in der Hand, die Ansteckungen, Hospitalisierungen und Todesfälle wenigstens möglichst schnell und entschlossen wieder zu senken. Dass die Spitalkapazitäten nicht mehr ausreichen könnten, hat nun doch noch den Mobilisierungseffekt gehabt, den ansteigende Todeszahlen als solche nicht auslösen konnten. Offenbar ist es okay, vulnerable Mitbürger sterben zu lassen, solange dies mindestens theoretisch in einem Intensivbett geschehen kann. Das Infektionsgeschehen scheint vorderhand seinen Peak überschritten zu haben. Nach Aussage von Martin Ackermann lag die messbare – und mit Vorsicht zu geniessende – Reproduktionszahl am Donnerstag bei 0,86. Die Zahl der Intensivpatientinnen und der Todesfälle geht allerdings weiter nach oben.
Dass die Schweiz so kopflos in die zweite Welle hineinstolpert, ist aus mehreren Gründen fahrlässig.
Wir wissen inzwischen, dass Durchseuchung keine Option ist. Schweden hat das Experiment gemacht, hohe Opferzahlen zu beklagen gehabt – und ist von Herdenimmunität weit entfernt. Zudem hat sich in Schweden eine Erfahrung bestätigt, die auch in der Schweiz während der ersten Welle gemacht wurde und die uns jetzt wieder schwer zu schaffen macht: Wenn die Ansteckungszahlen zu hoch sind, lassen sich vulnerable Mitbürgerinnen – insbesondere Insassen von Alters- und Pflegeheimen – nicht wirkungsvoll schützen. Warum wird dieses Faktum nicht anerkannt?
Unnötige Tote werden immer unnötiger. Bis anhin wird das Argument vorgebracht, dass Covid ohnehin nicht zu stoppen sei, dass es früher oder später vermutlich jeden erwische und dass die Eindämmung der Seuche nicht mehr wollen sollte, als zu verhindern, dass zu viele Menschen gleichzeitig erkranken und das Gesundheitssystem zusammenbricht. Will sagen: Wir haben diesen Winter viele Tote, die sterben dann nächsten Winter nicht? Je konkreter jedoch die Aussicht wird, dass schon nächsten Herbst ein brauchbarer Impfstoff verfügbar sein wird, um vulnerable Bevölkerungsgruppen zu schützen, desto unzulässiger wird dieses Argument. Viele Fragen sind noch offen. Aber wer sich diesen Winter nicht ansteckt, hat eine realistischer werdende Chance, Covid dauerhaft zu entgehen.
Hohe Fallzahlen beschädigen die Wirtschaft stärker als die Kosten von Präventionsmassnahmen. Es reiht sich nun seit Monaten Studie an Studie, Länderbeispiel an Länderbeispiel, die diese Tatsache bestätigen. Nur Economiesuisse und unser Finanzminister haben es immer noch nicht begriffen. Ob noch Hoffnung besteht?
Die politische Schweiz hat schwere Fehler gemacht und uns in eine prekäre Lage manövriert, aus der wir nun mit allen Kräften wieder herauszukommen versuchen müssen. Wie reagiert der öffentliche Diskurs auf diese ernüchternde Situation? Indem er einprügelt auf die Instanz, welche die Dinge von Anbeginn an richtig beurteilt hat. Wo könnte schliesslich das Problem der Schweizer Covid-Politik liegen, wenn nicht bei der wissenschaftlichen Taskforce?
Die wirren Facebook-Ausfälligkeiten von Ueli Maurer wollen wir einfach mal beiseitelassen. Unser Finanzminister ist unser Finanzminister. Sehr viel bemerkenswerter ist die Tatsache, dass auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen sich nun gehalten sieht, ins Taskforce-Bashing einzusteigen.
Im Aufmacherbeitrag der «Tagesschau» vom Donnerstag wurde unter dem suggestiven Titel «Weckruf oder Panikmache?» der Covid-Taskforce unterstellt, sie versuche unter Einsatz falscher Prognosen die Bevölkerung aufzurütteln – und riskiere damit, ihre Glaubwürdigkeit zu verspielen. Dabei behauptet die «Tagesschau», Ackermann habe am 6. November öffentlich erklärt, die Massnahmen des Bundesrats würden nicht genügen. Das ist schlicht unwahr. Was Ackermann gesagt hat, ist, dass die Massnahmen vom 17. Oktober ungenügend seien.
Die «Tagesschau» lässt unerwähnt: Der Bundesrat hat nicht nur am 17. Oktober, sondern auch am 28. Oktober Massnahmen erlassen. Ackermann sagte am 6. November ganz explizit, das Gesamtpaket könne noch nicht beurteilt werden, weil der Einfluss einer Massnahme auf die Reproduktionszahl frühestens nach 10 Tagen ersichtlich wird. Deshalb widerspricht sich die Taskforce auch nicht, wenn sie diese Woche zum Schluss kommt, dass die Lage sich gebessert hat.
Die Prognosen der Taskforce sind nicht falsch. Sie extrapolieren, was geschieht, wenn die Bedingungen konstant bleiben und vorliegende Entwicklungen sich fortsetzen. Wie kommt das öffentlich-rechtliche Fernsehen dazu, dem wichtigsten wissenschaftlichen Expertengremium zu unterstellen, es erzähle Unsinn in pädagogischer Absicht? Ist es Böswilligkeit? Mangel an journalistischem Handwerk?
Auch bei einer positiven Entwicklung wird es in den nächsten Wochen sehr zahlreiche Todesopfer geben. Zu gegebenem Zeitpunkt werden wir aufarbeiten müssen, wie es dazu kommen konnte und wie wir damit umgehen. Nichts könnte verkehrter sein, als damit zu beginnen, auf die Überbringer der schlechten Nachrichten einzuprügeln.
Illustration: Alex Solman