Kann die Schweiz auf Rendite aus Kriegsmaterial verzichten?
Die Kriegsgeschäfte-Initiative will Pensionskassen und der Nationalbank verbieten, Geld in Rüstungsfirmen zu investieren. Gegner sagen, das sei finanziell nicht verkraftbar. Lässt sich das belegen?
Von Simon Schmid, 09.11.2020
Dieses Datenbriefing beginnt mit einer klaren Feststellung. Und endet mit einem unguten Gefühl – zu den Spielregeln in einem Abstimmungskampf.
Es geht um die Kriegsgeschäfte-Initiative. Sie kommt am 29. November zur Abstimmung und verlangt, dass Pensionskassen künftig auf Investments in Rüstungsfirmen verzichten sollen. Betroffen wäre auch die Nationalbank: Sie dürfte keine Wertpapiere von Kriegsmaterialherstellern mehr halten.
Lanciert wurde das Begehren von der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) und von den Jungen Grünen. Sie versprechen sich davon einen «Beitrag zu einer friedlicheren Welt». Gegner sind die bürgerlichen Parteien und Wirtschaftsverbände – sowie Bundesrat, Parlament und Nationalbank. Sie halten das Anliegen für nutzlos und meinen: Das Finanzierungsverbot für Rüstungsfirmen «könnte sich negativ auf die Altersrenten auswirken».
Um herauszufinden, ob da etwas dran ist, haben wir die Probe aufs Exempel gemacht – und nachgeschaut, wie sich der Ausschluss von Rüstungsfirmen tatsächlich auswirken würde: auf das US-Aktienportfolio der Nationalbank.
Der Portfolio-Test
Die Aktienanlagen der Schweizerischen Nationalbank (SNB) sind eigentlich geheim. Doch in den USA gibt es Meldepflichten. In regelmässigem Abstand muss die Nationalbank daher ihre dortigen Aktienanlagen offenlegen.
Aus diesen Meldungen ist etwa bekannt, dass die SNB zum letzten Stichtag Aktien von insgesamt 2418 amerikanischen Firmen hielt – von A wie Apple (dem grössten Computerkonzern, Aktien im Wert von rund 8 Milliarden Dollar) bis Z wie Zynex (einem Hersteller von Medizinprodukten, rund 500’000 Dollar).
Auch Rüstungsfirmen sind im US-Aktienportfolio der SNB vertreten: zum Beispiel Honeywell (ein Mischkonzern mit Standbein in der Luftfahrt und bei Kernwaffen, rund 500 Millionen Dollar) oder Leidos (eine Softwarefirma, die das Militär beliefert, rund 45 Millionen Dollar). Hätte die Nationalbank Einbussen erlitten, wenn sie auf solche Investments verzichtet hätte?
Eine klare Antwort darauf gibt die folgende Tabelle: nein.
Sie zeigt die Rendite, welche die Nationalbank mit ihrem US-Aktienportfolio tatsächlich erzielt hat (mittlere Spalte) – und stellt dem die hypothetische Rendite gegenüber, wären Rüstungsfirmen ausgeschlossen worden (rechts).
Kein Unterschied für die SNB
Rendite auf US-Aktienanlagen
Letzte... | SNB-Portfolio | ohne Rüstungsfirmen |
...3 Monate | 0,9% | 0,8% |
...6 Monate | 18,5% | 15,9% |
...12 Monate | 13,0% | 13,9% |
...5 Jahre | 77,5% | 79,8% |
Angaben per 30. Oktober 2020. Quelle: Bloomberg |
Ich will es genauer wissen: Wie die Rechnung gemacht wurde
Über das Finanzdatenterminal Bloomberg ist einsehbar, welche amerikanischen Aktien die Schweizerische Nationalbank hält. Auch Portfolioanalysen sind dort möglich: Aus den Pflichtmeldungen der SNB lässt sich eine Schätzung ableiten, welche Rendite über einen bestimmten Zeitraum hinweg erzielt wurde.
Zum letzten Stichtag umfasste das SNB-Portfolio gemäss Bloomberg 2418 Aktien. Für die Sonderberechnung ohne Rüstungsfirmen wurden 59 Titel ausgeschlossen. Dabei handelt es sich um Firmen, die im «U.S. Select Aerospace & Defense Index» von Dow Jones enthalten sind, auf der SIPRI-Liste der grössten hundert Waffenhersteller der Welt stehen oder von sonstigen Quellen als an der New Yorker Börse oder der Nasdaq gelistete military stocks identifiziert wurden.
Diese 59 Unternehmen haben einen Marktwert von total 2800 Milliarden Dollar und machen aktuell 2 Prozent des amerikanischen Aktienportfolios der SNB aus. Bereits von sich aus hat die Nationalbank die Aktien von 13 weiteren Firmen ausgeschlossen, die gemäss den obigen Quellen ebenfalls Rüstungsfirmen sind.
Wie man sieht, weicht die Rendite ohne Rüstungsfirmen nur schwach von der tatsächlichen Rendite des Portfolios ab. Und nicht systematisch:
Hätte die SNB beispielsweise in den vergangenen 6 Monaten auf Rüstungsaktien verzichtet, so hätten ihre US-Anlagen statt 18,5 Prozent nur 15,9 Prozent abgeworfen – der Ausschluss hätte sich nicht gelohnt.
Über die letzten fünf Jahre hätte das Portfolio ohne Rüstungsaktien dagegen leicht besser abgeschnitten: 79,8 Prozent statt 77,5 Prozent.
Nur einen minimalen Unterschied bei den Anlagerenditen gab es über die letzten 3 Monate sowie über die letzten 12 Monate.
Der Portfolio-Test zeigt: Es wäre falsch, zu glauben, dass sich Investments in Kriegsmaterialhersteller stets lohnen. Die Realität ist weniger eindeutig: Manchmal schneiden Rüstungsfirmen sehr gut ab – manchmal nicht.
Einzelaktien im Check
Das zeigt sich exemplarisch anhand von sechs Firmen, welche die Initianten namentlich erwähnen. Fünf davon stammen aus den Vereinigten Staaten, eine – BAE Systems – aus Grossbritannien. Vergleicht man die Aktienrendite dieser Waffenhersteller mit dem Gesamtmarkt des jeweiligen Landes, so ist auch hier kein klares Muster erkennbar. Die Kurse schwanken stark.
Manche Rüstungsaktien liefen seit 2010 doppelt so gut wie der Markt. Zum Beispiel jene von Northrop Grumman, einem Hersteller von Rüstungstechnik für die Schiff-, Luft- und Raumfahrt, oder jene des Flugzeugbauers Lockheed Martin. (An beiden Firmen ist die SNB übrigens nicht beteiligt – sie verzichtet bereits auf Investments in Hersteller von international geächteten Waffen.)
Andere Rüstungsaktien liegen gleichauf mit dem Markt. Zum Beispiel Boeing, eine Herstellerin von zivilen Flugzeugen und Kampfjets; oder BAE Systems, die Militärschiffe, Panzerfahrzeuge, Artilleriesysteme und weiteres Kriegsmaterial produziert. Unterdurchschnittlich liefen schliesslich General Dynamics und Raytheon, zwei weitere Hersteller von Waffensystemen.
Rüstungsaktien allein garantieren also noch keinen Gewinn. Es kommt auf die Auswahl an – und auf das Timing. Das zeigt der folgende Börsenindex von Dow Jones, der 35 US-Aktien aus der Luft- und Raumfahrt sowie aus der Verteidigung vereinigt. Dieser Index lief im Vergleich zum Gesamtmarkt lange ziemlich gut. Dann kam die Corona-Krise – und weg war der Vorteil.
Die Rüstungsbranche als Ganze ist konjunkturellen Risiken ausgesetzt. Ob man mit ihnen besonders verdient, ist zu einem gewissen Grad auch Zufall.
Könnten unsere Pensionskassen also getrost darauf verzichten?
Der Stellenwert des Sektors
Auch auf diese Frage gibt es eigentlich eine ziemlich klare Antwort: ja.
Denn die Rüstungsindustrie ist – gemessen an der gesamten Börse – nur ein relativ kleiner Sektor. Das lässt sich zum Beispiel am obigen Rüstungsindex ablesen. Die US-Firmen, die darin enthalten sind, bringen zusammengezählt etwas über 500 Milliarden Dollar an Marktkapitalisierung auf die Waage. Das entspricht nur rund 1,5 Prozent aller Firmen aus allen Sektoren. Insgesamt weisen sie eine Marktkapitalisierung von gut 35’000 Milliarden Dollar auf.
Macht man mit dem weltweiten Index von MSCI denselben Vergleich, so kommt man auf ähnliche Grössenordnungen. Nicht nur für die USA, sondern auch global zeigt sich dabei: Der Luftfahrt- und Rüstungssektor macht im Vergleich zum gesamten Marktvolumen höchstens 1 bis 2 Prozent aus.
Damit ist auch klar, warum das SNB-Portfolio keinen Schaden nimmt, wenn man Rüstungsaktien ausschliesst: Der Sektor ist allein zu klein, um die Rendite massgeblich zu beeinflussen. (Anders wäre dies zum Beispiel bei Technologiefirmen: Hier kommen allein die fünf grossen Firmen Apple, Microsoft, Amazon, Facebook und Google auf einen Anteil von 20 Prozent.)
Es wäre schön, das Datenbriefing zur Kriegsgeschäfte-Initiative an dieser Stelle zu beenden. Doch das geht nicht. Denn es gibt Unklarheiten darüber, wie die Initiative umgesetzt würde – und was das für Folgen hätte.
Die Umsetzung
Zunächst eine Grundsatzbemerkung: Anders, als das Staatssekretariat für Wirtschaft auf seiner Website insinuiert, ist das zentrale Anliegen der Initiative keine «grosse Herausforderung». Viele Pensionskassen schliessen schon heute bestimmte Waffenhersteller aus ihren Anlagen aus.
Klar ist jedoch: Wird die Initiative in ein Gesetz gegossen, sollte sich das Parlament nicht an der striktestmöglichen Variante orientieren – sondern gewisse Ausnahmen zulassen. Es muss sich bei der Umsetzung ein Stück weit vom Text lösen, damit in der Praxis keine Probleme entstehen (siehe Box).
Firmen aus dem Anlageuniversum auszuschliessen, ist grundsätzlich machbar. Viele Vorsorgeeinrichtungen tun dies schon jetzt. Zum Beispiel Publica, die Pensionskasse des Bundes: Sie beruft sich dabei auf eine Liste mit besonders kontroversen Firmen, die der Schweizer Verein für verantwortungsbewusste Kapitalanlagen erstellt hat. Auch die Sammelstiftung Nest schliesst gewisse Firmen aus. Swisscanto, ein Vermögensverwalter, bietet in seinen nachhaltigen Anlagelösungen für Pensionskassen standardmässig Firmenausschlüsse an.
Für grössere Pensionskassen ist die Umsetzung unproblematisch. Sie teilen die neuen Kriterien einfach ihrer Bank mit – und diese übernimmt die Wünsche im Rahmen eines massgeschneiderten Anlagemandats. Für kleinere Pensionskassen wird es etwas schwieriger. Sie müssen warten, bis neue Anlageprodukte auf den Markt kommen, die an die neuen Regeln angepasst sind (etwa Aktienfonds für bestimmte Weltregionen ohne Rüstungsfirmen). Bei der Umstellung entsteht ein gewisser Aufwand, vermutlich steigen darum die Kosten etwas (wobei es hier um einige Hundertstelprozentpunkte an Rendite geht – nicht sehr viel).
Bei der Umsetzung brauchte es zudem gewisse Ausnahmen von einem strikten Finanzierungsverbot für Kriegsmaterialhersteller. Zum Beispiel bei sogenannten Index-Futures. Das sind Anlageprodukte, die bestimmte Gesamtmärkte abbilden. Pensionskassen nutzen sie etwa bei Dividendenauszahlungen, um Gelder temporär anzulegen. Würde man dieses Vorgehen verunmöglichen, entstünden zusätzliche Kosten. Die Initiantinnen signalisieren auf Nachfrage, dass sie für eine Umsetzung offen seien, die operativen Schwierigkeiten dieser Art Rechnung trägt.
Trotzdem bleibt eine Schwierigkeit. Sie betrifft eine Kernfrage bei der Umsetzung: Was genau ist überhaupt eine Rüstungsfirma?
Die Initiative legt hierfür zwar einen eindeutigen Schwellenwert fest:
Als Kriegsmaterialproduzenten gelten Unternehmen, die mehr als fünf Prozent ihres Jahresumsatzes mit der Herstellung von Kriegsmaterial erzielen.
Doch das Problem an dieser Definition ist: Umsatzanteile können von Jahr zu Jahr schwanken. Manche Mischkonzerne schlüsseln ihre Spartenumsätze auch gar nicht so detailliert auf, dass mit letzter Sicherheit erkennbar ist, ob Kriegsmaterial mehr als 5 Prozent ihres firmenweiten Umsatzes ausmacht.
Solche Unsicherheiten erschweren die praktische Umsetzung. Schweizer Pensionskassen könnten gezwungen sein, manche Firmen in einem Jahr auszuschliessen – nur um sie im Folgejahr wieder aufzunehmen. Zudem bestünde ein Restrisiko, dass sie bestimmte Rüstungsfirmen übersehen.
Am einfachsten wäre deshalb, wenn die Bundesbehörden jedes Jahr eine Liste vorgeben würden: In diese Firmen darf investiert werden – in diese nicht. Der Bund verfügt diesbezüglich über Expertise: Zum Beispiel schaut er Firmen bei der Rüstungskontrolle bereits heute sehr genau auf die Finger. Denkbar wäre laut den Initianten auch, die Regel im Mehrjahresschnitt anzuwenden.
Auch das Problem mit dem 5-Prozent-Anteil wäre also grundsätzlich lösbar.
Trotzdem – und hier wird es für die Meinungsbildung echt mühsam – tauchen im Vorfeld der Abstimmung widersprüchliche Äusserungen auf.
Vor allem seitens der Nationalbank. Aufgrund der Initiative müsste sie «voraussichtlich über 300 Unternehmen aus ihrem Aktienportfolio ausschliessen», schreibt sie. Das entspreche rund 11 Prozent des Anlagevolumens – über fünfmal mehr als die 2 Prozent, die wir im Testlauf mit dem US-Portfolio der SNB ermittelt haben. Der Wert steht auch im starken Kontrast zu Angaben, die andere in der Finanzbranche machen.
Die Zürcher Kantonalbank sagt etwa auf Anfrage, dass selbst bei einer Nulltoleranz von Kriegsmaterialien (also bei einem erlaubten Rüstungs-Umsatzanteil von 0 Prozent) nur 1,2 Prozent der globalen Aktienportfolios von Pensionskassen betroffen wären. Basis dieser Schätzung ist ein globaler Aktienindex von MSCI, der rund 9000 Unternehmen umfasst und damit sogar noch grösser ist als das weltweite Aktienportfolio der SNB.
Und auch die Pensionskasse des Bundes kommt auf deutlich tiefere Zahlen. Aus ihrem Anlageuniversum von rund 8000 Titeln wären rund 150 betroffen, sagt Patrick Uelfeti, Nachhaltigkeitsverantwortlicher bei der Publica. Das entspreche rund 2 bis 3 Prozent des Volumens. Wegen der Unsicherheit bezüglich der Rüstungsfirmen-Definition gebe es eine gewisse Marge, sagt Uelfeti. «Aber 11 Prozent sind ausgeschlossen.»
Die Nationalbank investiert grundsätzlich sehr indexnah. Wie sie trotzdem auf einen viel höheren Betroffenheitsgrad kommt, bleibt unklar. Sprecherin Claudia Aebersold Szalay sagt lediglich, man habe eine weite Auslegung der Kriterien vorgenommen, «um auf keinen Fall die Verfassung zu verletzen».
Rein von den Zahlen her drängt sich die Vermutung auf, die SNB habe nebst Industriekonzernen auch gewisse (grosse?) Techfirmen als Waffenhersteller eingestuft. Doch dies ist reine Spekulation – die SNB will trotz mehrmaliger Nachfrage keine Details zu ihrer Berechnung verraten, geschweige denn die Liste der 300 Firmen publizieren, die angeblich Kriegsmaterial herstellen.
So bleibt ein ungutes Gefühl: Statt auf der Basis von etablierten Fakten über den eigentlichen Sinn und Zweck der Initiative zu diskutieren – wird die Welt wirklich «friedlicher», wenn Schweizer Banken, Pensionskassen und SNB aus Rüstungsfirmen aussteigen? –, müssen wir erst mühsam überprüfen, ob das, was staatliche Akteure uns als Fakten präsentieren, überhaupt stimmt.
Effizient ist dieses Vorgehen nicht. Aber offenbar nötig.