Am Ende Amerikas
Wer verstehen will, wo die USA heute stehen, muss 18 Jahre zurückblicken, in den Irak. Dorthin, wo die Weltmacht am grössten Staatsbildungsprojekt aller Zeiten scheiterte und damit ihr eigenes Ende einläutete. Fünf Iraki erzählen, wie Amerika ihr Leben, ihr Land und ihre Gesellschaft veränderte.
Von Nathalie Schmidhauser (Text) und Ali Arkady (Bilder), 02.11.2020
In den USA finden die 59. Präsidentschaftswahlen statt, Donald Trump gegen Joe Biden. In den letzten Wochen, Monaten, Jahren lasen wir Berichte über bewaffnete Milizen, Lynchmorde, Gewalt gegen Minderheiten, vermummte FBI-Agenten, militärisch aufgerüstete Polizeikorps und protestierende Mütter, über Klientelismus, Korruption, Gangstertum und Autoritarismus.
Black-Lives-Matter-Demonstrantinnen wurden als Terroristen bezeichnet, Chicago mit Afghanistan verglichen. Allmählich scheinen die Grenzen zu verwischen zwischen Amerikas Kriegen im Ausland und den Konflikten, die im Land selbst ausgetragen werden. Der War on Terror ist in den amerikanischen Innenstädten angekommen, manche sprechen von einem bevorstehenden Bürgerkrieg.
Vor 18 Jahren, am 8. November 2002, nahm der Uno-Sicherheitsrat auf Druck der USA einstimmig Resolution 1441 an. Sie räumte dem Irak eine letzte Möglichkeit ein, seinen internationalen Verpflichtungen nachzukommen und angebliche Massenvernichtungswaffen und andere illegale Waffensysteme abzurüsten. Bei kontinuierlichen Verstössen wäre mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen.
Obwohl das irakische Regime daraufhin mit der Überwachungs- und Inspektionskommission der Vereinten Nationen kooperierte, schlugen vier Monate später die ersten Tomahawk-Marschflugkörper in Bagdad ein. Am Abend des 19. März 2003 erklärte US-Präsident George W. Bush in einer Fernsehansprache: «Zu dieser Stunde befinden sich die amerikanischen Streitkräfte und die Streitkräfte der Koalition in der Anfangsphase der militärischen Operationen zur Entwaffnung des Irak, zur Befreiung seines Volkes und zur Verteidigung der Welt vor grosser Gefahr.»
Später, als weder Massenvernichtungswaffen noch Verbindungen zu al-Qaida gefunden wurden, drehte die US-Regierung die Argumentation für den Angriffskrieg um. Statt das Böse zu jagen, verlegte man sich darauf, das Gute zu bringen: Demokratie und Freiheit, Unabhängigkeit und Menschenrechte.
Doch stattdessen brachten sie Bürgerkrieg und Zerstörung, Falluja und Abu Ghraib, Black Sites und Blackwater. Und schliesslich den Islamischen Staat. 2 Billionen, also 2000 Milliarden Dollar, und eine halbe Million Tote später steht der Irak am Abgrund, und die USA spielen für seine Zukunft immer weniger eine Rolle.
Der US-Einmarsch hat nicht nur den Irak und den Nahen Osten destabilisiert, sondern auch die USA. Der Krieg sei mitverantwortlich dafür, dass Donald Trump Präsident wurde, schreibt Robert Draper, Journalist beim «New York Times Magazine», in seinem Buch «To Start a War: How the Bush Administration Took America into Iraq». Der Irakkrieg eigne sich als Fallstudie dazu, was passiere, wenn ein Präsident Fachwissen und Expertentum ablehne und stattdessen aus persönlicher Motivation handle.
Bereits 2013 schrieb die «Financial Times»: «Wenn künftige Historiker das Ende des kurzen unipolaren Moments (der USA) nach dem Kalten Krieg bestimmen, dann werden sie mit dem Finger auf den Irak zeigen.»
Für den Grossteil der amerikanischen Bevölkerung scheint das Land an Euphrat und Tigris heute nur noch eine dumpfe Erinnerung zu sein. «Kriege», «Aussenpolitik» oder «Konflikte im Nahen Osten» stehen laut Umfragen nicht auf der Liste der wichtigsten Anliegen und Probleme. Vielmehr beschäftigt die Amerikanerinnen ihre eigene Regierung. Im Leben der Menschen im Irak jedoch haben die USA seit Bush Seniors Zweitem Golfkrieg von 1991 und den Sanktionen des Uno-Sicherheitsrates, dem Einmarsch unter Bush Junior 2003 und der Besatzung des Landes eine einschneidende Rolle gespielt.
In den vergangenen 40 Jahren hat die irakische Bevölkerung drei grosse Kriege erlebt. Dazu einen gewaltsamen Staatsstreich, Invasionen, Massenmorde, Jahrzehnte der Bombardierungen, Aufstände, einen sektiererischen Bürgerkrieg und Angriffe des Islamischen Staates. Dazu die von den USA angetriebenen Uno-Sanktionen, die das Land zwischen 1991 und 2003 in den Ruin trieben. Eine halbe Million irakischer Kinder starben gemäss verschiedenen Uno- und Medienberichten an den Folgen der Sanktionen aufgrund fehlender Nahrungsmittel oder medizinischer Versorgung.
«Eine halbe Million tote Kinder. Das sind mehr Kinder, als in Hiroshima gestorben sind. Ist es das wert?», fragte CBS-Reporterin Lesley Stahl die damalige amerikanische Uno-Botschafterin und spätere Aussenministerin Madeleine Albright 1996 während eines Interviews für die TV-Sendung «60 Minutes». Albright sagte: «Dies ist eine sehr schwierige Entscheidung, aber der Preis – wir denken, der Preis ist es wert.»
Die Republik hat fünf Irakerinnen und Iraker gefragt, wie die USA – mit ihrem Militarismus, ihrer Gewalt, ihrer Rücksichtslosigkeit sowie dem Versprechen von Freiheit, Demokratie und Kapitalismus – ihr Leben und den Irak massgeblich verändert haben.
Fünf Geschichten über Traumata und Gewalt, Flucht und Revolution.
Trauma
«Es sind die Big White People, die den Irakern sagen, wie sie ihr Leben in den Griff kriegen sollen.»
Die Jahrzehnte der Gewalt und der Vertreibung, die ihren vorläufigen Höhepunkt in den Gräueltaten des Islamischen Staates gegen die irakische Zivilbevölkerung fanden, haben tiefe Spuren hinterlassen. Individuelle und kollektive Traumata überschneiden sich und prägen die Identität und die Entwicklung der irakischen Gesellschaft. «Es ist aber nicht so», sagt der irakische Autor Hassan Blasim, «dass alle Iraker alleine im dunklen Zimmer sitzen, Depressionen haben und an Selbstmord denken. Die Gesellschaft funktioniert auch als Therapie. Man hilft einander, man hat auch alltägliche Sorgen. Das Trauma sitzt tief, aber nicht alle Leute sind verrückt.»
Die letzte umfassende Erhebung zur psychischen Gesundheit im Irak liegt 12 Jahre zurück. Zahlreiche neuere regionale oder lokale Einzelstudien zeigen jedoch eine enorm hohe Zahl an posttraumatischen Belastungsstörungen auf, vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Gemäss zwei Studien der Nichtregierungsorganisation «Save the Children» sind in und um die Stadt Mosul zwischen 50 und 80 Prozent aller Kinder von psychischen Störungen betroffen. Ihre Symptome reichen von Albträumen, Panikattacken, Aggressivität, Bettnässen und Verstummen bis zu Depressionen und Suizidalität.
Auch in der irakischen Gesellschaft sind psychisch Kranke stigmatisiert, dazu fehlt die Infrastruktur und wandern die Fachkräfte ab, was die Situation verschärft. Gemäss Zahlen des irakischen Gesundheitsministeriums gab es 2010 im ganzen Irak 3 psychiatrische Kliniken, 206 Psychiater, 47 Psychologinnen und 33 Sozialarbeiter – für eine Bevölkerung von 30 Millionen Menschen. Zum Vergleich: In der Schweiz kamen 2011 gemäss einer OECD-Statistik 45 Psychiaterinnen auf 100’000 Einwohner.
Seit 2003 versuchen lokale und internationale NGOs und Aktivistinnen einzuspringen. Einer von ihnen ist der Soziologe Hemin Kashraw, der im nordirakischen Kurdengebiet aufwuchs und Mitte der Neunzigerjahre mit seiner Familie nach Deutschland, später nach Kanada flüchtete. 2011 kehrte er in den Irak zurück, wo er heute als Direktor der Organisation Art Matica jungen Menschen dabei zu helfen versucht, das Trauma der IS-Zeit und des Genozids an den Jesiden zu verarbeiten.
Hemin Kashraw, Erbil:
«Ich bin 1979 in Erbil geboren. Meine Familie war sehr politisch. Mein Grossvater war in den 1950er-Jahren Generalsekretär der Irakischen Kommunistischen Partei. Nach einem Coup wurde er abgesetzt, woraufhin er der Demokratischen Partei Kurdistans beitrat. Bald gab es Streit. Mein Grossvater verliess die Partei und zog 1972 nach Erbil, wo er sein Haus nie mehr verlassen hat. Dafür schrieb er jeden Donnerstag einen Brief an Saddam Hussein. In diesen Briefen kritisierte er die Regierung. Die Antwort Saddams: Zuerst schickte er regelmässig den Generaldirektor seines Geheimdienstes im Nordirak, Abu Ala, vorbei. Dann liess Saddam einen der Söhne meines Grossvaters ermorden, meinen Onkel. Er kam im Sarg aus Italien zurück, wo er sich in der kommunistischen Partei gegen die Baathisten engagiert hatte.
Ich kam aus einer Mittelklassefamilie. Mein Vater war damals Stadtratspräsident von Erbil. 1986 wurde er zum ersten Mal mit dem Tod bedroht, weil er sich mit hohen Funktionären der Baath-Partei angelegt hatte. Wir flohen in den Iran. Der Weg war lang und führte über die Berge. Mein Bruder und ich wurden dafür in Säcke gepackt und auf Pferderücken geladen. Im Iran sagten wir: «Saddam ist schlecht, Khomeini ist gut.» Im Irak war es umgekehrt gewesen. Nach einigen Monaten flohen wir vor dem iranischen Regime zurück in den Irak.
Dann kam 1991 der Zweite Golfkrieg. Die Amerikaner und ihre Verbündeten bombardierten unsere Städte, die Wirtschaft kollabierte. Ein kurdischer Volksaufstand gegen den irakischen Zentralstaat brach aus, und die Städte fielen in die Hände der Rebellen. Chaos brach aus. Alle trugen Kalaschnikows. Auch Kinder. Dann kamen die Uno-Sanktionen, und damit verloren wir unsere letzte Würde. Ab jetzt war alles rationiert, sogar Bleistifte, Radiergummis, Schulhefte.
1996, inzwischen tobte ein anderer Krieg, der kurdische Bürgerkrieg. Wir flohen über die Türkei, Griechenland und Italien nach Deutschland. Die gleiche Route der heutigen Flüchtlinge. Als ich zwanzig war, zog ich nach Kanada. 2011 kehrte ich zum ersten Mal in den Irak zurück.
Wenige Monate nach der Befreiung Mosuls vom Islamischen Staat im Sommer 2017 fuhr ich in die zerstörte Stadt. Es war noch immer sehr gefährlich dort. Ich begann mit Jugendlichen zu arbeiten, die unter der IS-Diktatur gelebt hatten oder vom IS vertrieben worden waren. Wir versuchen, junge Menschen bei ihrer Traumaverarbeitung zu unterstützen, ihnen ihre Handlungsmacht zurückzugeben. Wir arbeiteten mit Comics, weil es einfacher ist, Gefühle und Erlebnisse zu zeichnen, statt sie aufzuschreiben. Alle jungen Menschen, mit denen wir arbeiten, haben Familienmitglieder verloren, teilweise wurde ihre ganze Familie ausgelöscht.
Die jungen Menschen fragen mich immer: Wieso bist du zurückgekommen? Sie sagen: Wir würden alles dafür geben, wegzurennen. Viele sagen mir auch, dass sie nicht mehr denken wollen. Denken bedeute, dass das Leben noch komplizierter werde.
Wenn Menschen über eine lange Zeit exzessiver Gewalt, Gräueltaten, Verlust und Trauer ausgesetzt sind, verliert für sie das Leben an Bedeutung. Irgendwann wird alles zu einer Frage des Schicksals. Der Schicksalsgedanke wird zur eigentlichen Identität.
Die irakische Gesellschaft hat den Glauben an das Leben verloren. Und auch die Kontrolle darüber: Es sind die Big White People – Diplomatinnen, humanitäre Organisationen, die Weltbank –, die ihnen sagen, wie sie ihr Leben in den Griff kriegen sollen. Die Irakerinnen fühlen sich minderwertig. Sie sagen: Die internationalen Organisationen bringen weisse Junkies zu uns, die in ihrem Land keine Arbeit finden und stattdessen hierherkommen, um uns zu sagen, was wir tun sollen.
Der Irak ist völlig volatil. Es gibt keine Ruhe. Das macht es fast unmöglich, all die historischen, kollektiven und individuellen Traumata zu verarbeiten. Die Menschen haben Abwehrmechanismen gebildet. Sie sind abgestumpft. Sie sagen: Ich brauche keine Hilfe von anderen, ich bin stark, ich kann es allein, ich mache weiter, ich bin nicht depressiv, ich habe kein Trauma, ich weine nicht. Das Stigma ist gross: Wer schwach ist, der verliert. Die ganze Gesellschaft ist traumatisiert. Es gibt keine magische Lösung über Nacht. Was wir brauchen, ist Zeit, um einen Boden zu schaffen.»
Gewalt
«Als Mädchen oder Frau im Irak wächst du mit Gewalt auf. Sie ist überall. Sie ist vor dir, in deinem Zuhause, auf der Strasse.»
Die Gewalt trifft alle. Ausgeübt wird sie aber meist von Männern. Und so gut wie immer sind es Frauen, die darunter leiden. Sie seien die allergrössten Verliererinnen, sagt Houzan Mahmoud. Die kurdische Frauenrechtsaktivistin wuchs in der nordirakischen Stadt Sulaymaniya auf und flüchtete später nach London. Sie war eine vehemente Kritikerin der US-Besetzung des Irak.
Houzan Mahmoud, London:
«Kurdistan war immer ein Ort der Konflikte, der Waffen, des Kampfes. Schon als Kind wurde ich Zeugin von Krieg, einer grausamen Diktatur, Entführungen, Ermordungen, Gefangenschaft. Das tägliche Leben war brutal. Wir wurden verfolgt, einfach nur, weil wir Kurdinnen waren. Dies gehört zu unserer Identität. Frauen zahlen jedoch den doppelten Preis aufgrund der zusätzlichen veralteten und verrotteten gesellschaftlichen Werte und Normen.
Ich wuchs in einer politischen Familie auf, meine Brüder und Onkel waren Teil einer Guerillabewegung und kämpften in den Bergen jahrelang gegen das Regime von Saddam Hussein. Sie kämpften, bis die Koalitionsmächte 1991 die sogenannte Flugverbotszone über dem irakischen Kurdistan errichteten.
Doch auch danach wurde das Leben nicht besser, die Bedrohung durch das Baath-Regime blieb bestehen, und dann brach der kurdische Bürgerkrieg aus. In den Neunzigerjahren floh ich mit meinem ersten Mann in die Türkei, dann nach London. Dort studierte und arbeitete ich, und dort kam auch meine einzige Tochter zur Welt.
Die Frage der Frauenrechte existierte nicht. Nicht unter Saddam Hussein. Aber auch nicht während des nationalen kurdischen Befreiungskampfes. Dieser Kampf und der ganze Diskurs wurden von Männern angeführt. Frauen spielten natürlich auch eine wichtige Rolle, aber ihr Beitrag wird nicht anerkannt. Die Männer werden als Helden gefeiert, sie schreiben die Geschichte.
Als ich nach London kam, fing ich an zu lesen. Und zu denken. Unter Saddams Regime waren viele Bücher verboten, ganz besonders solche mit linkem Gedankengut. Wenn sie dich mit einem falschen Buch erwischten, wurdest du exekutiert. Wir hatten keinen Zugang zu Wissen ausserhalb des Baath-Partei-Diskurses. Wir wussten nicht, was in der Welt vorging.
Die von den USA angestrengten Uno-Sanktionen in den Neunzigerjahren haben die irakische Gesellschaft vollständig destabilisiert. Es gab keine Medikamente mehr, keine Nahrungsmittel. Viele Frauen begannen sich aus Not zu prostituieren. 1993 lancierte das Regime die «Glaubenskampagne», und Hunderte von Frauen, die das Regime der Prostitution verdächtigte, wurden öffentlich geköpft, manchmal direkt vor ihren Häusern. Die Sanktionen hatten zur Folge, dass die Frauen ganz aus dem öffentlichen Leben verschwanden, aus dem Bildungssystem und aus dem Arbeitsmarkt.
Das Leben der Frauen im Irak ist die Hölle. Ausser für jene, die Beziehungen zu wichtigen Parteien, mächtigen Männern oder zur Regierung haben. Oder für Frauen, die für NGOs arbeiten. Wir nennen dies die «NGOisierung» des Irak. Diese Schicht von Frauen verdient viel Geld und hat relativ gute Positionen. Aber sie sind machtlos, wenn es zu Frauenfragen kommt. Ihre Stimme wird nicht gehört. Ihre Stimme ist schwach, genauso wie ihre Ideen. Alles, was sie tun, ist, Workshops in Fünfsternehotels zu veranstalten. Sie sind die Dekoration des irakischen Patriarchats.
Auch die kurdischen Peshmerga-Soldatinnen, die an der irakischen Front gegen den Islamischen Staat kämpften, haben die Gesellschaft nicht verändert. Diese Frauen sind ein Bestandteil der patriarchalen und frauenverachtenden Strukturen des Nordirak. Diese Frauen sind Soldatinnen, keine Denkerinnen. Sie haben nichts verändert.
Bei den Protesten, die im Oktober 2019 begannen, haben junge Frauen eine grosse Rolle gespielt. Sie haben genug. Genug von der Unterdrückung, dem Klientelismus, vom Krieg, von Arbeitslosigkeit, dem schlechten Bildungssystem. Die Antwort des Staates und der Milizen: Die Frauen wurden umgebracht, bedroht, verfolgt, sexuell belästigt oder ins Gefängnis geworfen. Sie haben alles verloren.
Auch nach dem US-Angriff 2003 eskalierte die Gewalt gegen Frauen massiv. Die Iraker hatten jahrzehntelang unter einer brutalen Diktatur gelebt. Mord, Folter, Vergewaltigung, Hinrichtung – das war alles, was wir kannten. Diese Brutalisierung der Männer war der Grund für das, was nach 2003 folgte. Konflikte zwischen Familien, Clans und Stämmen wurden vor allem über die Frauen ausgetragen – Entführungen, Vergewaltigungen, Ehrverbrechen, Rache.
Alles, was der Staat den Bürgern angetan hatte, taten die Bürger sich jetzt gegenseitig an. Auch die US-Besatzer waren extrem gewalttätig. Ihre Präsenz führte zu Rebellionen und Aufständen.
Und auch hier: Frauen waren die grössten Opfer der US-Besetzung. Sie verloren ihre Jobs, ihre Bildung und nochmals ihre Söhne und Ehemänner.
Als Mädchen oder Frau im Irak wächst du mit Gewalt auf. Sie ist überall. Sie ist vor dir, in deinem Zuhause, auf der Strasse.
Wir alle wollten, dass Saddams Regime fällt. Aber nicht durch äussere Einmischung. 17 Jahre später gibt es noch immer so viel Gewalt, Terrorismus, Extremismus und Angst. Es gibt im Irak keinen Staat mehr.»
Flucht
«Ich möchte den Himmel über Bagdad wiedersehen.»
2007, während des irakischen Bürgerkriegs, waren 4 Millionen Iraker auf der Flucht, im Irak selber oder im Ausland. Als sich 2014 der IS ausbreitete, wurden erneut über 5 Millionen Irakerinnen im Land vertrieben. Hunderttausende weitere flüchteten ins Ausland. Die US-Invasion ist auch eine Geschichte von Vertreibung, Entwurzelung und Exil.
Nach dem US-Einmarsch 2003 wurde der Irak zudem zu einem der gefährlichsten Länder der Welt für Journalisten und Journalistinnen. Seit 2003 bis heute wurden gemäss «Reporter ohne Grenzen» 237 Medienschaffende gezielt ermordet. Heute belegt der Irak auf der Rangliste der Pressefreiheit Platz 162 von 180.
Thikra Mohammed Nader arbeitete fast 40 Jahre lang als Journalistin im Irak, bis sie 2006 in die Schweiz flüchtete. Während sie bereits unter dem Regime von Saddam Hussein gewisse «rote Linien» nicht überschreiten durfte, nahmen Bedrohung und Gewalt für sie nach 2003 ein unerträgliches Ausmass an.
Thikra Mohammed Nader, Genf:
«Ich bin in Bagdad geboren und aufgewachsen und habe dort bis zu meiner Flucht gelebt. Während des Iran-Irak-Krieges war ich als Reporterin an der Front und habe über die Gräueltaten dieses Konflikts berichtet. Wie in jedem arabischen Land wurden unserer Arbeit als Journalistinnen Grenzen gesetzt. Im Irak durften wir kritisieren, aber nicht die hohen Tiere in der Regierung. Ich wurde allerdings während Saddam Husseins Regime nie festgenommen oder bedroht. Als Journalistin genoss ich einen gewissen Respekt.
2003 arbeitete ich für eine Zeitung in Bagdad und berichtete über den Einmarsch der USA. Später wechselte ich zum Fernsehen.
Die Situation war sehr gefährlich, wir wurden permanent bedroht. Ein Produzent des Fernsehsenders al-Sharqiya, für den ich arbeitete, wurde auf offener Strasse erschossen. Drohungen kamen von allen Seiten, aber die grösste Bedrohung kam von den schiitischen, proiranischen Milizen. Hunderte von Journalisten kamen im Irak ums Leben. Meinen Töchtern, damals noch kleine Kinder, wurde mit Vergewaltigung und Mord gedroht, wegen meiner Arbeit, weil ich meine Stimme erhob. Viele, die sich gegen die amerikanische und die iranische Besetzung aussprachen, wurden zum Schweigen gebracht, entführt oder umgebracht. Wenige hatten das Glück, unversehrt zu bleiben.
Es war ein Horror. Überall lagen tote Menschen auf der Strasse. Drohungen nahmen ständig zu. Ich selbst erhielt zum Beispiel einen Brief mit einer Patrone. Ich nahm Kontakt mit «Reporter ohne Grenzen» auf und bat sie um Hilfe. Durch ihre Unterstützung bekam ich schliesslich 2006 ein Visum und flüchtete mit meinen Töchtern in die Schweiz. Die Entscheidung zu fliehen war hart, aber ich hatte keine Wahl. Ich musste meine Kinder schützen.
Noch immer werden im Irak kritische Stimmen unterdrückt. Hunderttausende Menschen wurden ermordet, aber noch fast nie musste sich jemand vor Gericht dafür verantworten. Es gibt keinen Rechtsstaat.
Das jüngste Beispiel: Die Proteste, die im Oktober 2019 begannen. Mehr als 600 Menschen kamen dabei seither ums Leben. Wer hat sie umgebracht? Sie starben, weil sie sich gegen eine Regierung auflehnten, die vom Iran kontrolliert wird. Gewisse schiitische, proiranische Milizen sind stärker als die Regierung, sie haben das Sagen im Land. Sie kontrollieren die Regierung und die Ministerien.
Die Geschichte unseres Landes wurde gestohlen, zusammen mit seinen Bodenschätzen, dem Öl, dem Gas. Tausende wurden vertrieben, Städte in Schutt und Asche gelegt. Alle haben Angst, dass ans Licht kommt, was sie im Irak angerichtet haben. Angefangen bei der Bush-Regierung und ihren Lügen, die der Besetzung vorausgingen. Oder der Tatsache, dass die USA unser Land dem Iran auf einem Silbertablett serviert haben.
Auch die Vereinten Nationen schliessen die Augen vor der Korruption, den Entführungen und der Ermordung von Aktivistinnen, vor dem Terror und der Auflehnung der Bevölkerung. Stattdessen sagen sie: «We are closely monitoring the situation» – man beobachte die Situation sehr genau.
Ich möchte nach Hause zurückkehren. Ich gehöre zu diesem Land. Der Irak ist meine Heimat. Ich möchte den Himmel über Bagdad wiedersehen.»
Revolution
«Dies ist ein historischer Moment in der Geschichte des Irak. Es ist das erste Mal seit 2003, dass die Politiker uns hören.»
63 Milliarden US-Dollar haben die USA seit 2003 in den «Wiederaufbau» des Irak gepumpt – das grösste «Staatsbildungsprojekt» aller Zeiten. Von Anfang an gab es bei diesem Monsterplan ein zentrales Problem: die Sprachbarriere. «Wir werden nie erfahren, wie viel unser Scheitern beim Wiederaufbau des Irak schlicht und einfach mit schlechter Übersetzung zu tun hatte», schreibt der ehemalige US-Diplomat Peter van Buren in seinem Buch «We Meant Well: How I Helped Lose the Battle for the Hearts and Minds of the Iraqi People» (Wir meinten es gut: Wie ich mitgeholfen habe, den Kampf um die Köpfe und Herzen der Iraki zu verlieren). Aufstandsbekämpfung und «nation building» seien mit fehlenden Arabischkenntnissen nicht möglich.
Keine Sprache, kein Wissen, keine Strategie, dafür Dutzende Milliarden Dollar, die das Land fluteten: All dies legte den Grundstein für die bis heute anhaltende massive und ungestrafte Korruption im Irak – massiver noch als unter Saddam Hussein. 2019 belegte das Land gemäss «Transparency International» Rang 162 von 180 auf dem Korruptions-Index.
Auch wegen dieser Korruption brachen im Oktober 2019 erstmals Massenproteste aus. Unter dem Slogan «nureed watan» – wir wollen ein Heimatland – forderten vorwiegend junge Irakerinnen Jobs, Würde und das Ende des ethnokonfessionellen und korrupten politischen Systems, das im Zuge der amerikanischen Besetzung im Irak verankert wurde. Es handelte sich um die grösste Protestbewegung seit dem Sturz Saddam Husseins. Über 600 Aktivistinnen wurden seit Beginn dieser Protestwelle von irakischen Sicherheitskräften und bewaffneten Milizen ermordet, Zehntausende verletzt.
«Die Oktoberrevolution», sagt der irakische Autor Hassan Blasim, «zeigt, dass es im Irak noch immer eine Debatte und darum Hoffnung gibt. Im Untergrund bewegt sich etwas. Die Revolution geht weiter. Das Problem ist, dass wir im Irak nie allein sind. Es gibt immer eine Kontrolle von aussen.»
Auch die irakisch-amerikanische Politologin Marsin al-Shamary, die an der Eliteuni MIT zur irakischen Protestbewegung doktoriert, schreibt, die Bewegung sei im Konkurrenzkampf von USA und Iran zwischen die Fronten geraten. Dieser eskalierte Anfang 2020 mit der Ermordung des iranischen Revolutionsgarden-Generals Qassim Soleimani und des stellvertretenden Chefs der irakischen Volksmobilisierungseinheiten Abu Mahdi al-Muhandis durch eine amerikanische Drohne am Flughafen von Bagdad. Die USA legitimierten diesen Angriff auf die irakische Souveränität mit dem antiiranischen Ton der Protestierenden, schreibt Shamary. Dass deren Forderung neben «Nein zum Iran» auch «Nein zu Amerika» beinhaltet, wurde dabei ausgeblendet.
Die Aktivistin Mays al-Ibrahimi, mit der wir gesprochen haben, ist Teil der Protestbewegung im Süden des Irak. Trotz Corona und der brutalen Antwort der Sicherheitskräfte dauern die Proteste auf der Strasse oder in den sozialen Netzwerken bis heute an. Die wichtigste Forderung für Mays ist heute Gerechtigkeit für die getöteten Aktivisten. Die 38-Jährige fürchtet wie viele andere Protestierende um ihr Leben.
Mays al-Ibrahimi, Babylon:
«Obwohl die Proteste bereits Anfang Oktober 2019 ausbrachen, nahm ich selbst erst eineinhalb Monate später das erste Mal daran teil. Ich habe gezögert, weil ich frustriert war und überhaupt keine Hoffnung hatte. Wir Irakerinnen haben schon so oft protestiert. Zugehört hat uns noch nie jemand.
Zu Beginn waren es vor allem junge Menschen, die vor den Ministerien in Bagdad demonstriert haben. Sie forderten Jobs, Chancengleichheit und den Rücktritt von Premierminister Adil Abdul Mahdi, der dann tatsächlich Ende November sein Amt niederlegte.
Die Antwort der Sicherheitskräfte war von Anfang an brutal. Nebst scharfer Munition attackierten sie die Demonstranten auch mit kochend heissem Wasser. Junge Frauen brachen auf der Strasse zusammen. Diese Ruchlosigkeit führte zu einer Welle der Solidarität: Die Protestbewegung wurde immer grösser.
Wir waren so wütend. Und die Regierung gab uns immer wieder neue Gründe, noch wütender zu werden. Zum Beispiel fingen sie in verschiedenen Provinzen plötzlich an, kleine Häuser oder Läden in den Slums abzureissen, weil diese ohne Bewilligung auf staatseigenem Land gebaut worden waren. Menschen, um die sich der Staat nie gekümmert hatte, verloren dadurch noch ihr letztes Hemd. Die armen Leute im Irak haben keine Lobby. Niemand steht für sie ein. Im Irak haben nur die Reichen eine Lobby. Nur ihre Interessen zählen.
Ich weiss nicht, ob tatsächlich gerade eine Revolution stattfindet. Einige sagen Ja, die anderen Nein. Die Benennung ist für mich unwichtig. Zentral ist: Dies ist ein historischer Moment in der Geschichte des Irak. Es ist das erste Mal seit 2003, dass die Politiker uns hören. Sie bemerken zum ersten Mal, dass wir überhaupt existieren. Sie spüren unsere unglaubliche Wut. Die Wut des irakischen Volkes.
Die Proteste machen den Politikern Angst. Sie sind nervös. Deswegen reagieren sie mit extremer Gewalt. Sie schicken ihre Milizen. Sie wollen ihre eigenen Hände nicht schmutzig machen.
Wir haben das Vertrauen in die Regierung verloren. Im Irak existiert kein Staat. Die immer gleichen mächtigen Parteien und Gruppen ziehen die Fäden. Sie regieren unser Land und treten dabei unsere Würde mit Füssen.
Persönlich war ich bisher nicht von Gewalt betroffen, denn ich exponiere mich nicht. Ich habe Angst davor. Wer sich in der Öffentlichkeit oder auf sozialen Medien für die Protestbewegung starkmacht, wird bestraft, bedroht, verfolgt oder ermordet. Ich habe auch Angst, meine Stelle zu verlieren. Ich arbeite für eine private Bildungseinrichtung. Der Besitzer gehört zur gleichen kleptokratischen und korrupten Klasse, gegen die wir protestieren. Aber ich laufe an Protestmärschen mit und besuche die öffentlichen Trauerfeiern der Aktivistinnen, die ermordet wurden.
Die Mördertruppen sind gewisse paramilitärische Milizen der Volksmobilisierungseinheiten, die von der Korruption in der Regierung profitieren. Sie wollen ihre Macht um jeden Preis erhalten. Es ist unwichtig, ob es schiitische oder andere Milizen sind. Es geht um Macht und Geld.
Die Demonstrationen entstanden spontan, es gab keine Organisation. Verschiedene Akteure und Gruppen versuchten deswegen von Anfang an, die Oktoberrevolution für ihre Interessen zu benutzen. Die USA, der Iran, aber auch unsere eigenen Kleriker und Politiker. Doch sie sind alle gescheitert. Wir haben immer noch die gleichen Forderungen, für uns und für den Irak. Die inzwischen wichtigste: Die Verbrecher und ihre Drahtzieher im Hintergrund, die über 600 junge Menschen umgebracht haben, müssen vor Gericht gestellt werden.
Wir fordern, dass die Regierung die Milizen endlich unter ihre Kontrolle bringt und das Waffenmonopol an sich reisst. Im Irak sind die Waffen überall. Wir fordern vorgezogene Parlamentswahlen und die Änderung des Wahlgesetzes. Und natürlich immer wieder: Jobs, Strom, staatliche Dienstleistungen, Würde.
Entführungen, Anschläge und Morde auf Aktivisten gehen weiter. Heute haben viele Menschen Angst. Viele meiner Freunde sind jedoch ausgestiegen. Sie erhielten Morddrohungen per SMS. Auch ich habe Angst. Die Angst lähmt die Revolution. Aber es gibt immer noch Hoffnung. Wir haben immer noch Forderungen, wir sind immer noch wütend.
Der Iran
«Für den Iran wurde der Irak zur ersten Verteidigungslinie gegen die USA.»
Unter dem Regime von Saddam Hussein wurden viele schiitische Kleriker und ihre Familien verfolgt, ermordet oder ins Exil getrieben. Nach Jahrzehnten der Unterdrückung und der geheimen Mobilisierung geniesst das schiitische Establishment in der heiligen Stadt Najaf, im Süden des Irak, seit der US-Invasion ein grosses Ausmass an Freiheit und Autorität.
Im Gegensatz zum theokratischen iranischen Modell hat sich der irakische schiitische Klerus traditionell nicht in politische Angelegenheiten eingemischt. Seit 2003 haben schiitische Geistliche jedoch den politischen Prozess und die Entwicklung des Staates massgeblich mitgeprägt. Das berühmteste Beispiel ist Grossayatollah Ali as-Sistanis religiöses Dekret von 2014, in dem er die irakischen Bürger dazu aufrief, den Staat im Kampf gegen den Islamischen Staat zu unterstützen. Die breite Mobilisierung führte schliesslich zur Entstehung der Volksmobilisierungseinheiten – einer Ansammlung von paramilitärischen Gruppen, von denen einige mafiös organisiert sind, nicht unter staatliche Kontrolle gebracht werden können, proiranische Interessen verfolgen und den irakischen Staat von innen unterwandern.
Der schiitische Kleriker Fadal al-Badeiri, der in Najaf lebt, ist ein offener Kritiker des iranischen Einflusses und der proiranischen schiitischen Milizen und Geistlichen im Irak. Dafür wurde er auch schon mit dem Tod bedroht. Heute befürchtet er eine bevorstehende Eskalation zwischen dem Iran und den USA, welche im Irak ausgetragen werden soll.
Fadal al-Badeiri, Najaf:
«Ich bin 1971 in Najaf geboren und aufgewachsen. Mein Grossvater und mein Onkel waren bekannte schiitische Kleriker. Mein Vater starb in den Achtzigerjahren im Iran-Irak-Krieg. Ich habe in Bagdad Biologie studiert und erst später den religiösen Weg eingeschlagen. Unter dem Baath-Regime habe ich in relativer Sicherheit gelebt, weil ich das Regime weder kritisierte noch beleidigte. Ich war immer sehr vorsichtig.
Der Einmarsch der USA katapultierte die schiitische Mehrheit im Irak plötzlich an die Macht. Während der ersten vier Jahre der Besetzung gab es einen politischen Prozess, an dem wir Schiiten uns stark beteiligten. Aber ab 2007 wurde der Iran ein immer mächtigerer Spieler. Die anfängliche Demokratie wurde zur Scheindemokratie. Plötzlich ging es nur noch um die Durchsetzung iranischer Interessen. Alle, die sich dagegenstellten, wurden bedroht, vertrieben, ermordet. Es kam zum Bürgerkrieg, die Gesellschaft wurde gespalten, die Meinungsfreiheit wurde missbraucht, um andere Gruppen blosszustellen und Hass zu schüren.
Meine Loyalität gehört dem Irak und der irakischen Bevölkerung, nicht dem Iran.
Als Kleriker und Kritiker des iranischen Einflusses stehe ich fast alleine da. Ich werde isoliert. Vor zwei Jahren überlebte ich einen Mordanschlag. Mein Todesurteil: Ich hatte die libanesische Hizbollah kritisiert.
Der iranische Einfluss im Irak hat eine lange Geschichte und Tradition. Der Iran betrachtet den Irak noch immer als eine Art Kolonie. Er sieht sich als Schutzmacht aller Schiiten.
Zahlreiche irakische Politiker – nicht nur Schiiten, sondern auch Sunniten, inklusive Kurden – vertreten iranische Interessen im Irak, weil der Iran sie mit Geld und Ressourcen an die Macht gebracht hat. Unsere Politiker lieben den Iran mehr, als die Iraner ihr Land lieben. Der Irak wird vom Iran besetzt, auf politischer und militärischer Ebene. Wir haben wenig zu sagen. Aber in der Bevölkerung selbst ist das Nachbarland nicht beliebt.
Die Menschen im Irak leben in Armut, auch im schiitischen Süden, an der Grenze zum Iran. Es fehlt an Infrastruktur, Arbeit, Nahrungsmitteln, Strom. Ich bin ein Unterstützer der irakischen Protestbewegung. Ich unterstütze jede Anstrengung und jeden Prozess, der das Ziel hat, die Korruption im Irak zu beenden und den iranischen Einfluss zu unterbinden. Wir müssen unsere Regierung stürzen und eine neue politische Debatte starten.
Die meisten schiitischen Kleriker haben sich nicht öffentlich hinter die Protestbewegung gestellt, weil sie Teil der Regierung und der Politik sind oder davon profitieren. Als Kleriker bin ich eine Ausnahme. Ich habe keine Interessenbindungen. Ich sage öffentlich, dass diese Politik unser Land zerstört hat.
Alle äusseren militärischen und politischen Einflüsse müssten aus dem Irak verschwinden. Aber solange der iranische Einfluss bleibt, braucht es auch die USA als Gegengewicht. Die USA und der Iran, beide bestimmen den Kurs des Landes. Sie haben die Macht im Land aufgeteilt.»
Epilog
Im Januar 2020, in der Folge der Ermordung des Revolutionsgarden-Generals Qassim Soleimani und des irakischen Milizenführers Abu Mahdi al-Muhandis durch die USA am Bagdader Flughafen, ordnete das irakische Parlament den sofortigen Rückzug aller US-Truppen aus dem Irak an. Die US-Regierung ignorierte den Entscheid und drohte mit Sanktionen. Zunehmende Attacken von proiranischen Milizen auf amerikanisches Personal haben die Trump-Regierung im Oktober jedoch dazu veranlasst, mit der Schliessung der US-Botschaft in Bagdad zu drohen – einst die grösste Botschaft der Welt. Im Monat zuvor hatte die Trump-Regierung bereits angekündigt, ihre Truppenzahl im Irak von den noch verbleibenden 5200 in den kommenden Monaten auf 3000 zu reduzieren. Damit löst Trump sein Wahlversprechen der Befreiung Amerikas aus den «endlosen Kriegen» ein, während viele Irakerinnen und Iraker inzwischen befürchten, dass ihr Land wegen der aggressiven Kampagne der Trump-Administration gegen den Iran zum Schauplatz eines amerikanisch-iranischen Stellvertreterkrieges werde.
Im Präsidentschaftswahlkampf zwischen Donald Trump und Joe Biden (der den Angriff auf den Irak 2003 als Senator unterstützt hatte) war das Land an Euphrat und Tigris kein Thema. Oder nur einmal am Rande, wobei es da aber nicht um das Schicksal des Irak und seiner Menschen ging. Donald Trump hatte sich in Bidens Augen respektlos über US-Veteranen geäussert, habe sie als «Verlierer» dargestellt. «Mein Sohn war im Irak», sagte Biden. «Er war über ein Jahr dort. Er ist kein Verlierer. Er ist ein Patriot. Und die Personen, welche wir zurücklassen mussten, sind Helden.»