Dem Geheimnis auf der Spur: Sämtliche Farbbilder in diesem Beitrag sind Mikroskopaufnahmen von Testosteronkristallen mit polarisiertem Licht. Science Photo Library

Mythosteron

Ein Hormon, das erklärt, warum Männer die Welt lenken? Schwarze angeblich aggressiver sind? Höchste Zeit für ein paar Korrekturen, sagen die US-Autorinnen Katrina Karkazis und Rebecca Jordan-Young. Warum vieles falsch ist, was wir über Testosteron zu wissen glauben, und einiges davon gefährlich.

Ein Interview von Daniel Graf, 30.10.2020

C19H28O2. So lautet die chemische Formel. Man käme nicht unbedingt auf die Idee, in ihr auch den Botenstoff für unzählige Geschichten zu suchen. Aber das Steroid­hormon, das sich dahinter verbirgt, geistert seit gut hundert Jahren durch Populär­kultur und Alltags­sprache: Testosteron.

Als «männliches Sexualhormon» beschäftigt es die Wissenschaft genauso wie die Boulevard­presse. Ist es nicht der Grund für all das, was man landläufig mit Männlichkeit in Verbindung bringt, im Guten wie im Schlechten (mehr im Schlechten)?

Das alles sei nur die «autorisierte Biografie», sagen die Medizin­soziologin Rebecca Jordan-Young und die Kultur­anthropologin Katrina Karkazis. Weswegen sie bei der Harvard University Press eine «Unauthorized Biography» des Hormons vorgelegt haben. Soeben ist das Buch auf Deutsch erschienen – mit dem ebenfalls programmatischen Titel «Testosteron. Warum ein Hormon nicht als Ausrede taugt». Denn die Mythen und Halbwahrheiten ums Testosteron seien gefährlich. Weil das Thema aufs Engste mit Sexismus, Rassismus und Klassismus verknüpft ist.

Ein Gespräch, pandemie­konform, via Videochat.

«Einer unserer Begriffe im Buch lautet ‹Zombie-Fakten›. Und beim Thema Testosteron gibt es eine Menge Zombies»: Katrina Karkazis. Ali Smith
«Im Vorurteil, Testosteron sei verantwortlich für Aggression, kommen alle unangenehmen Begleiterscheinungen der ‹Zombie-Fakten› zusammen»: Rebecca Jordan-Young.

Frau Jordan-Young, Frau Karkazis, was ist mächtiger: Testosteron als Hormon – oder Testosteron als Held von Mythen und Geschichten?
Rebecca Jordan-Young: Es hat das Zeug zum mehrfachen Superhelden! (lacht)
Katrina Karkazis: Einer der zentralen Punkte in unserem Buch lautet: Man kann die populären Erzählungen über Testosteron, diese über 100 Jahre alte «autorisierte Biografie», gar nicht sauber trennen von der Forschung. Die Story um dieses Hormon war ja schon geschrieben, bevor man es überhaupt chemisch isolieren konnte. Das hat die Art und Weise geprägt, wie Forscher über Testosteron dachten, welche Fragen sie stellten und wie sie Ergebnisse inter­pretierten. Körperliche Merkmale oder bestimmte Verhaltens­weisen wurden in einer strikten Dichotomie von «männlich» und «weiblich» gesehen. Die Forschung schreibt diese Geschichte immer weiter fort.

Und Ihr Ansatz ist nun?
Karkazis: Wir versuchen, aus der komplexen Geschichte der Testosteron-Forschung einige Fäden heraus­zunehmen und zu fragen: Wo wird die bekannte Erzählung auf eine Weise beschworen, dass man sich die Machart und die behaupteten Ergebnisse dieser Studien genauer anschauen sollte? Um Missverständnisse zu vermeiden: Wir sagen absolut nicht, Testosteron sei ausschliesslich ein Mythos. Wir sagen, es ist ein wichtiges, interessantes und eben kompliziertes Hormon. Die Wissenschaft hatte immer die Tendenz, es in einem sehr engen Rahmen zu betrachten. Und wir möchten diesen Rahmen erweitern: über seine Betrachtung als männliches Hormon hinaus. Und hin zu seiner viel weiteren Funktion im menschlichen Körper.

«Testosteron ist definitiv kein ‹männliches Sexualhormon›», schreiben Sie. Was also ist es?
Karkazis: Oh! Beck, willst du? (lacht)
Jordan-Young: Wenn man Testosteron als «männlich» oder als «Sexual­hormon» kategorisiert, dann sind schon in unangemessener Weise seine Wirkungen und Potenziale verengt. Testosteron ist zum Beispiel entscheidend für den Knochen­aufbau, es ist wichtig für die Entwicklung und den Erhalt der Skelett­muskulatur – um nur zwei seiner vielen Funktionen zu nennen. Und sind Muskeln für die alltäglichen Abläufe bei Frauen weniger wichtig als bei Männern? Natürlich nicht! Wenn wir das Dogma vom «männlichen Sexual­hormon» einmal beiseite­schieben, dann sehen wir erst, was für ein unglaubliches Vielzweck­molekül das eigentlich ist.

Brian Johnston/microscopy UK

Wenn das, was Sie sagen, dem heutigen Wissen der Forschung entspricht: Warum ist dann das öffentliche Bild so ein anderes?
Karkazis: Geschlechter­fragen sind ein wirkmächtiger Orientierungs­rahmen in der Gesellschaft und damit auch in der Wissenschaft. Und beim Testosteron bedeutete das, man kam gar nicht erst auf die Idee, sich näher mit seiner Bedeutung für die weibliche Reproduktion zu befassen, weil es eben als männliches Sexual­hormon verstanden wurde. Das gilt nicht nur für die Wissenschaft. Jedes Buch über Testosteron erzählt in gewisser Weise die gleiche Geschichte. Und wir versuchen, dieses Narrativ zu unterbrechen und komplizierter zu machen.

Wodurch?
Karkazis:
Wir streichen zum einen deutlich Punkte heraus, auf die die Wissenschaft selbst hingewiesen hat: etwa den sehr dünnen, minimalen Zusammen­hang zwischen Testosteron und Aggression. Zum anderen rücken wir Aspekte ins Licht, die bisher meist übersehen worden sind, etwa die Rolle von Testosteron für den weiblichen Eisprung. Einer unserer Begriffe im Buch lautet «Zombie-Fakten». Und beim Thema Testosteron gibt es eine Menge Zombies.

Können Sie dieses Bild etwas erläutern?
Karkazis: Kennen Sie diesen Witz? Jemand hat draussen seine Schlüssel verloren, mitten in der Nacht, und nun suchen die Leute unter der Strassen­laterne. Dann fragt jemand: Aber wenn ihr die Schlüssel da drüben verloren habt, wieso sucht ihr dann hier? Und sie antworten: Na, hier ist doch das Licht! Ich glaube, darin liegt auch mit Blick auf Testosteron viel Wahrheit. Es gibt so viel, was wissenschaftlich noch überhaupt nicht sauber untersucht worden ist. Aber die Ironie ist, dass die meisten Menschen, auch wenn sie sich für die Forschung überhaupt nicht interessieren, meinen, sie wüssten schon ganz genau Bescheid.
Jordan-Young: Wir geben in diesem Buch sehr getreu den Stand der besten wissenschaftlichen Forschung wieder. Aber dieses Wissen ist nirgendwo einheitlich versammelt. Es ist kleinteilig, verstreut an unterschiedlichen Orten. Wissenschaftler neigen dazu, nur das zur Kenntnis zu nehmen, was in ihrem eigenen Forschungs­feld erscheint. Und Wissen, das nicht zu dieser offiziellen Biografie von Testosteron passt, fällt leicht unter den Tisch. Eben genau wie Katrina sagt: weil das Licht anderswo scheint.

Mal zusammengefasst: Was sind für Sie die wirkmächtigsten Zombie-Fakten, die einer Korrektur bedürfen?
Jordan-Young: Einer der wichtigsten ist die Vorstellung, Testosteron bringe soziale Hierarchien hervor und sorge dafür, dass Männer in dieser Welt häufiger das Sagen haben. Dass es also die Erklärung für ungleiche Macht­verhältnisse sei. Dann die Idee, dass Testosteron eine bestimmte männliche Persönlichkeit hervorbringe, inklusive Intellekt, Risiko­bereitschaft und so weiter. Und ich würde auch die Idee verwerfen, Testosteron sei der Haupt­treiber von Aggression. Gerade in diesem Vorurteil kommen all die unangenehmen Begleit­erscheinungen der Zombie-Fakten zusammen, die wir im Buch beschreiben.

Zum Beispiel?
Jordan-Young: Es befeuert immer wieder rassifizierte und klassen­bezogene Mythen darum, wieso Menschen aus der Arbeiter­schicht angeblich so leicht reizbar und irrational sind. Oder wieso Schwarze in den USA öfter im Gefängnis landen. Die Vorstellung, dass sich dies angeblich mit unterschiedlichen Mengen und Funktions­weisen von Testosteron erklären liesse. Aber lassen wir Katrina noch über ein paar Zombies sprechen.
Karkazis: Ich würde gerne an die Anfangs­fragen anknüpfen. Es gibt auch eine politische Ökonomie rund um diese Forschung. Wir geben in dem Buch Beispiele von Aggressions­forschern, die in ihren eigenen Schriften darlegen, dass es nur einen schwachen Link gibt zwischen Testosteron­spiegeln und Aggression. Und trotzdem geht diese Art von Forschung weiter.

Warum?
Karkazis: Das hat mehrere Gründe. Zunächst einmal ist es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, negative Resultate zu veröffentlichen. Das akademische System belohnt es also, dass eine bestimmte Beziehung aufgezeigt wird. Mit dem Narrativ, das sich bereits verfestigt hat, ist es ausserdem schwierig, Mittel zu bekommen für Forschung, die in eine kontraintuitive Richtung zielt oder nicht schon an zahlreiche ähnliche Studien anknüpft. Die gängigen Erzählungen rund ums Testosteron überdecken sozusagen die Forschungs­lücken und lassen bestimmte Pfade immer noch vielversprechend erscheinen, obwohl renommierte Forscher zum Beispiel schon vor Jahrzehnten sagten: Es gibt keinen substanziellen Zusammen­hang zwischen Testosteron und Aggression. Aber die Maschinerie, die schon in Bewegung ist, wird weiter angetrieben.

Wenn wir mal über die Wissenschaft hinaus­gehen: Wer hat ein Interesse daran, die Mythen am Leben zu erhalten?
Jordan-Young: Es gibt so etwas wie opportunistische Epistemologie, so nennen wir das im Buch: Wenn also Gruppen auf ziemlich zynische Weise vermeintliche Forschungs­programme konzipieren, bei denen in Wirklichkeit die Karten gezinkt sind.

Inwiefern?
Jordan-Young: Da wird versucht, eine Schluss­folgerung zu untermauern, die von Anfang an feststand – und wenn die Daten nicht das Gewünschte hergeben, schiebt man sie eben beiseite. So wie das der Fall war beim Internationalen Leichtathletik-Verband, dem heutigen World Athletics, wo man nach einer sauberen, biologisch einwandfreien Art und Weise gesucht hat, Frauen und Männer im Spitzen­sport zu trennen. Es gibt aber auch ganz andere Beispiele für Leute, die ein Interesse an den Mythen haben. Jeder konservative Kommentator verweist früher oder später auf Testosteron. Oder nehmen Sie Geert Wilders in den Niederlanden, der in seiner Anti-Einwanderungs­rhetorik von «islamischen Testosteronbomben» spricht. Wir könnten x weitere Beispiele nennen.

Bitte!
Jordan-Young: Konservative Senatoren haben Vergewaltigungen im Militär aufs Testosteron geschoben. Wer immer am Macht­gefälle zwischen Frauen und Männern nichts ändern will, verweist auf die Wirkmacht von Testosteron. Es gibt zunehmend Leute, die die strukturellen Gründe nicht zur Kenntnis nehmen wollen, warum dieses Land so viele People of Color ins Gefängnis sperrt. Und man erzählt seit Jahrzehnten diese ausgeklügelte Geschichte, wonach es angeblich junge schwarze Männer in kompetitiver, «innen­städtischer» Umgebung seien, bei denen das Testosteron steige und sie gewalttätiger und krimineller mache. Nichts davon passt zu dem, was wir über die Funktions­weise der Polizeiarbeit und des Strafrechts­systems wissen, aber es ist eben eine viel simplere Geschichte. Und in politischer Hinsicht ist das ein sehr mächtiges Narrativ für Leute, die von sozialer Ungleichheit nichts hören wollen.

Science Photo Library
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Lassen Sie uns diesen Punkt vertiefen. Eine verbreitete Meinung lautet, ein hoher Testosteron­spiegel sei ein Treiber für Gewalt­verbrechen. Was genau ist falsch an dieser Erklärung?
Jordan-Young: So gut wie alles! (lacht) Die Forschung, die dieses Narrativ etabliert hat, weist so tief greifende Mängel auf – man kann nur staunen. Es ist einfach atemberaubend schlechte Forschung! Es gibt da diese frühen Studien an Gefangenen, in denen behauptet wurde, männliche Gefangene mit gewalttätigeren Biografien und vor allem mit gewalttätigerer Adoleszenz würden höhere Testosteron­werte aufweisen – sogar höher als andere Gefängnis­insassen. Schaut man genauer hin, zeigt sich: Die Testosteron­messungen wurden zum Teil Jahrzehnte nach den mutmasslichen Verbrechen vorgenommen. Es gab da also gar keine direkte Beziehung zwischen Hormon­zirkulation und Handlung. Ausserdem hat man die Ausgangs­kriterien, was denn nun als Gewalt­verbrechen gelten solle, mehrfach verändert, bis sich endlich eine Korrelation mit Testosteron fand.

Wie muss man sich das vorstellen?
Jordan-Young:
Es wurde eine Studie gemacht – und keine Korrelation gefunden. Die Ausgangslage wurde verändert – wieder nichts gefunden. Es wurde einfach so lange weitergesucht, und die Suchkriterien wurden verändert, bis man etwas hatte. Und wenn man rückverfolgt, wie diese Studien gemacht wurden und was als Ergebnis präsentiert wird, ist das eine lächerlich schwache Korrelation. Spätere Studien hatten dann ganz ähnliche Probleme: zum Beispiel, dass an einem bestimmten Zeitpunkt Testosteron­messungen vorgenommen, dann aber mit Verhaltens­weisen zu einem ganz anderen Zeitpunkt korreliert wurden. So funktioniert solide Wissenschaft einfach nicht.

Nun wird in diesem Zusammen­hang häufig darauf verwiesen, dass die Anzahl von Männern im Gefängnis länder­übergreifend immer ungleich höher ist als die von Frauen – häufig etwa 20-mal so hoch. Wie lässt sich das erklären?
Jordan-Young: Ich glaube, es besteht eine Korrelation zwischen Körpergrösse und Gewalt. (lacht)
Karkazis: Wenn man solche Dinge mit Testosteron erklären will, zeugt das von einer sehr eingeschränkten Sicht: einerseits auf das Hormon, das eben nicht einfach ein bestimmtes Verhalten hervorruft, sondern auf soziale Rahmen­bedingungen reagiert, also hochgradig dynamisch ist. Andererseits steckt dahinter aber auch eine sehr undifferenzierte Sicht auf Gewalt. Manche Studien summieren die unterschiedlichsten Phänomene darunter, auch solche, bei denen wir niemals von Gewaltakten sprächen – wie zum Beispiel die Flucht aus einer Jugend­strafanstalt. Die viel grundsätzlichere Geschichte hinter all dem ist die Vorstellung, die Biologie allein könne komplexe Sachverhalte erklären. Dabei haben etliche Forscherinnen in den Sozial­wissenschaften grosse Mühen darauf verwendet, dies richtig­zustellen und zu zeigen, dass es um komplexe Wechsel­wirkungen von biologischen und sozialen Faktoren geht.

Wenn man all die Faktoren, die Sie im Blick haben, einbezieht: Was bleibt dann noch von der Rolle des Testosterons?
Jordan-Young: Mein Eindruck ist, wir verfügen noch gar nicht über die adäquaten Modelle, um das überhaupt vernünftig untersuchen zu können. Wir reden hier nicht nur von vielen unterschiedlichen Variablen, die für sich wichtig sind, sondern diese Variablen stehen auch miteinander in komplexer Wechsel­wirkung. Testosteron zu modellieren, führt zu guten Ergebnissen, wenn man ein komplexes Modell für den Körper eines bestimmten individuellen Menschen entwickelt. Aber Gewalt wird zutiefst durch das soziale Umfeld, die Beziehungen, Gesetze, Normen und Verhaltens­weisen geprägt. Und die Wirkungs­weise von Testosteron ist abhängig von der Situation des Einzelnen in dynamischen sozialen Umgebungen.

Eines Ihrer wichtigsten Ergebnisse lautet: Die Forschungs­geschichte um das Hormon hat auch eine rassistische Dimension. Können Sie das ein wenig ausführen?
Karkazis: Zunächst einmal: Gender wird immer auch rassifiziert. Es gibt sehr wichtige historische Arbeiten, die zeigen, dass auch die Geschlechter­binarität, also die Vorstellung von männlich und weiblich als zwei getrennten Kategorien, aus einer rassistischen Wissenschaft hervorging und auf Konstrukten einer «Rassen­hierarchie» fusst. Von Lamarcks Evolutions­theorie beeinflusst, haben Forscher die Vorstellung einer Leiter entwickelt: Die verschiedenen «Arten» von Menschen stehen auf unterschiedlichen Stufen, aber nur die Weissen, die angeblich auf der Skala des zivilisatorischen Fortschritts ganz oben situiert seien, hätten auch den sexuellen Dimorphismus erreicht. Die tiefe Verschränkung von race und Gender in der Wissenschaft gerät bei kritischen Analysen zu Testosteron oft zu kurz. Wir hingegen wollten diesem Aspekt Gewicht verleihen.

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Können Sie ein konkretes Beispiel geben, wie sich das in der Forschung manifestiert, die Sie kritisieren?
Jordan-Young: Schauen wir uns nur einmal an, wie sich zwei verschiedene Forschungs­bereiche der Frage widmen, welche Verhaltens­weisen mit einem hohen Testosteron­spiegel einhergehen. In der Literatur zum Thema Risiko­bereitschaft geht es zu einem grossen Teil um die Finanzwelt. Dort herrscht die Vorstellung, einen hohen Testosteron­spiegel zu haben und grosse Risiken einzugehen, sei etwas Grossartiges. Manche Studien scheinen sogar eine gewisse Bereitschaft zu würdigen, Steuer­gesetze zu brechen und alles zu tun, was nötig ist, um grosse Geldmengen anzuhäufen. Alle diese Studien werden mit einer überwältigenden Mehrheit an weissen Menschen aus der Oberschicht durchgeführt. Bei Studien über Gewalt hingegen werden überwiegend People of Color untersucht. Und die Art und Weise, wie diese Studien dann strukturiert sind, lassen quasi keine negativen Ergebnisse zu.

Können Sie das ausführen?
Jordan-Young: Man foltert die Daten so lange, bis sie sprechen. Weil schon am Beginn die Überzeugung steht, dass Testosteron der Treiber von Gewalt sei. Und dann kommen als letzte Zutat soziologische Narrative aus den 1970ern dazu, als in der «Kultur der Armut»-Theorie schwarze Communitys und Familien pathologisiert wurden: als ob hohe Kriminalitäts­raten und fehlender gesellschaftlicher Halt von den Menschen selbst erzeugt würden; anstatt dadurch, dass sie strukturell in die armen Viertel gedrängt werden, mit übermässiger Polizei­überwachung, aber fast ohne öffentliche Schulen etc. Die kausalen Verhältnisse werden also umgedreht, und es wird suggeriert, die Rahmen­bedingungen einer Nachbarschaft resultierten aus diesen seltsamen Kulturen junger schwarzer Männer, die sich ständig provozieren, einander die Testosteron­spiegel hochtreiben und sich gegenseitig gewalttätiger machen. Sie sehen: Diese Geschichte unterscheidet sich fundamental von dem Narrativ in der Finanzwelt. Testosteron wird eben nicht überall mit gefährlicher Aggression assoziiert.

Es gibt also auch Forschung, die nicht biologistisch ist, sondern biologische und kulturelle Aspekte kombiniert – und trotzdem im Reduktionismus landet?
Karkazis:
Es gibt einen wichtigen Artikel des Anthropologen Clarence Gravlee, der darlegt, wie race zu Biologie wird. Das zentrale Argument dort lautet: Die Sozial­wissenschaften haben dazu geführt, dass man inzwischen auf sehr viel komplexere Weise darüber nachdenkt, was «das Soziale» eigentlich ist – und ähnlich müsste auf komplexere Weise über Biologie nachgedacht werden. Ich würde dieses Argument umdrehen und sagen: Was als soziale Dimension angeführt wird, kann manchmal auch konzeptionell sehr unterkomplex sein oder einfach den gängigen Vorstellungen folgen – unter Ignoranz von Forschungs­ergebnissen aus anderen Bereichen. Und diese Probleme bleiben oft unerkannt, eben weil sie sich gut in schon vorhandene Vorstellungen und Stereotype über bestimmte Gruppen einfügen.

Testosteron spielt manchmal auch in Alltags­gesprächen eine Rolle: als Metapher, die Feministinnen und Feministen verwenden, um auf die Auswirkungen des Patriarchats zu verweisen. Die Absicht ist also eine kritische. Aber nach allem, was Sie sagen: Sollte man den Begriff besser vermeiden?
Karkazis: Nein! Lassen Sie mich das ausführen: Es geht ja nicht darum, dass die Leute nicht über Testosteron sprechen sollen. Wir wollen nur nicht, dass es zum Sündenbock für patriarchale Strukturen gemacht wird. Zum einen, weil Testosteron nicht das ist, was Männer an die Spitze sozialer Hierarchien bringt oder sie dort hält. Zum anderen, weil solche Formulierungen suggerieren, man könne nichts an den herrschenden Macht­verhältnissen ändern.

Man sollte sorgfältiger mit dem Begriff umgehen?
Karkazis: Ja, und ihn viel spezifischer verwenden. Ich will nicht sagen, die Leute sollen keine Sprüche machen. Aber solche Sprüche stärken nur das problematische Bild von diesem Hormon und den Macht­verhältnissen. Ich sähe es lieber, Feministinnen und Feministen sprächen über die Rolle von Testosteron bei der weiblichen Reproduktion. Oder darüber, wie dynamisch dieses Hormon ist. Oder darüber, wie wenig es mit Aggression zu tun hat. Es sollte also präziser und wahrheits­gemässer darüber gesprochen werden. Und zwar nicht nur unter Feministinnen, sondern generell.

Letzte Frage. Nach allem, was Sie an Beweisen für die Macht der Zombie-Fakten zusammen­tragen: Haben Sie manchmal das Gefühl, man kommt ohnehin nicht dagegen an?
Karkazis: Wir sind mit unserem Vorhaben nicht allein, sondern bauen auf wichtigen Arbeiten von anderen auf. Ich habe mich lange genug mit diesen Fragen befasst, um zu wissen, dass sich die Dinge unglaublich langsam ändern. Aber wenn man in all den Büchern im Regal die «autorisierte Biografie» dieses Hormons findet, dann wollten wir, dass da auch ein anderes Buch steht. Eines, das eine neue, vollständigere und reichhaltigere Geschichte erzählt.

Zum Buch

Rebecca Jordan-Young, Katrina Karkazis: «Testosteron. Warum ein Hormon nicht als Ausrede taugt». Aus dem Englischen von Hainer Kober. Hanser, München 2020. 384 Seiten, ca. 37 Franken.