Liebe Leserinnen und Leser
Die Zeit ist uns davongeeilt. Sie winkt uns aus der Ferne spöttisch zu.
Heute hat der Bundesrat neue landesweite Regeln beschlossen. Sie gelten ab Mitternacht und auf unbestimmte Zeit. Hier sind die groben Linien:
Treffen: Öffentlich dürfen 50 Personen zusammenkommen, im privaten Rahmen 10 Personen. Für Sport und Freizeit sind es drinnen maskierte 15 Personen. Kinder zählen genau gleich wie Erwachsene.
Masken: Quasi überall drinnen (und neu auch draussen, da wo es eng wird) gilt jetzt eine Maskenpflicht. Zum Beispiel also auch am Arbeitsplatz. Ausgenommen sind Kinder unter 12 und Gäste in Restaurants und Bars, wenn sie am Tisch sitzen.
Schulen: Präsenzunterricht nur bis und mit Mittelschule und Berufsschule. Der Rest findet nur noch virtuell statt – also zum Beispiel alle Univorlesungen.
Freizeit und Hobbys: Bars und Restaurants müssen von 23 bis 6 Uhr geschlossen bleiben. Und es dürfen nur noch vier Personen am selben Tisch sitzen, ausser sie haben Kinder dabei. Clubs sind geschlossen. Kontaktsport ist für alle ab 16 Jahren verboten. Genauso das Chorsingen.
Monatelang haben wir in der Schweiz versucht, mitten in einer globalen Gesundheitskrise so normal wie möglich zu leben. Genauso lange haben diejenigen, die etwas von globalen Gesundheitskrisen verstehen, gewarnt, dass sich das spätestens im Herbst rächen könnte. Das hat es tatsächlich. Das schmerzt, gerade in einem Land, das es gewohnt ist, weitgehend verschont zu bleiben, während anderswo schlimme Dinge passieren.
Was jetzt? Wir empfehlen ihnen Folgendes:
Tatsache ist: Wir sind, wo wir sind, weil Menschen in Verantwortungspositionen ihren Job nicht gut genug gemacht haben. Weil sie es nicht konnten, oder weil es die Umstände drumherum nicht zugelassen haben – manchmal einfach, weil es bequemer war. Diese neuen Einschränkungen unseres Alltags und unserer Freiheit sind kein Naturereignis. Sie sind die Summe vieler kurzsichtiger Entscheidungen und folgenschwerer Versäumnisse. Also von allzu Menschlichem. Hier ist noch eine Tatsache: Jetzt gerade hilft es herzlich wenig, sich daran aufzureiben. Das Schlamassel ist kollektiv – und wir kommen da nur mit Gemeinsinn wieder raus.
Das heisst im Umkehrschluss nicht: Schwamm drüber. Sie haben jedes Recht, verstimmt, verärgert, enttäuscht zu sein. Kommen Sie später darauf zurück – freundlich, aber hartnäckig. Zum Beispiel, wenn Sie das nächste Mal einen Wahlzettel ausfüllen.
Wir haben in den vergangenen Tagen viele E-Mails von Menschen erhalten, die sich auf folgenden Standpunkt stellen: Jede soll selber entscheiden, wie sie mit Corona umgeht. Wie viel persönliche Freiheit sie opfern und wie viel Risiko sie eingehen möchte. Wir wünschten, dem wäre so. Aber genau jene, die von dieser Pandemie am schwersten getroffen sind, können das nicht. Jemand muss den Menschen helfen, die ins Spital müssen. Jemand muss im schlimmsten Fall entscheiden, wer ein Bett bekommt. Ihr Handeln hat Auswirkungen auf Ihnen unbekannte Mitmenschen. Sie können nur ein Stück weit beeinflussen, ob gute oder schlechte.
Zum Schluss ein Zitat der unlängst verstorbenen US-Richterin Ruth Bader Ginsburg. Es handelt von Veränderung.
«Kämpfe für die Dinge, die dir wichtig sind. Aber tue es auf eine Weise, die andere dazu bringt, dir zu folgen.»
Die wichtigsten Nachrichten des Tages
Die Risikoliste wird angepasst, Reisende aus vielen Ländern müssen nun nicht mehr in Quarantäne. Bisher galt: Sobald ein Land in den letzten zwei Wochen im Schnitt mehr als 60 Neuinfektionen pro 100’000 Einwohner vermeldete, kam es auf die Liste der Risikoländer. Wer aus einem dieser Staaten in die Schweiz einreist, muss 10 Tage in Quarantäne. Für Grenzgebiete gab es Ausnahmen. Unterdessen ist der Wert in der Schweiz siebenmal höher (Bundesrat Alain Berset heute: «Die Schweiz ist jetzt ein Hotspot»). Deshalb gilt nun ein neuer Berechnungsschlüssel – und eine viel kürzere Liste. Aus den Nachbarländern verbleiben nur noch die Region um Paris und eine französische Provinz an der belgischen Grenze.
Schnelltests ab kommendem Montag zugelassen. Diese Tests sind deutlich weniger genau, dafür liefern sie innert 15 Minuten ein Ergebnis. Sinnvoll sind sie zum Beispiel, um bei bereits symptomatischen Patientinnen das Virus nachzuweisen. Sie sollten nur von geschultem Personal durchgeführt werden, zum Beispiel in Apotheken und Testzentren. Insgesamt, rechnete Gesundheitsminister Alain Berset heute vor den Medien vor, wären nun 80’000 Tests pro Tag möglich. 50’000 davon seien die neuen Schnelltests.
Armee könnte bald wieder zum Einsatz kommen. Genf und Freiburg haben eine «Anfrage um Unterstützung» eingereicht. Schon am Wochenende könnten in Freiburg militärische Hilfskräfte für die «Pflege von Patienten, Transporten und sonstige Logistikleistungen» im Einsatz stehen, wie der «Tages-Anzeiger» berichtete. Im Frühjahr standen bis zu 6000 Soldatinnen an der Grenze und in Spitälern im Einsatz – mit durchwachsenem Ergebnis.
Luzern streicht die Fasnacht 2021 (mindestens auf ein Minimum zusammen). Die Stadt Luzern geht davon aus, dass sich bis zum Februar die Situation nicht so weit entspannt, dass grössere Anlässe bewilligt werden könnten. Es sei wichtig, schreibt sie in einer Mitteilung, jetzt auch ein klares Zeichen zu setzen und die Vorbereitungen nicht ins Leere laufen zu lassen.
In Deutschland steht das öffentliche Leben ab Montag still. Die Bundesregierung beschränkt die Kontakte massiv – stärker noch als die Schweiz. Nur noch die Bewohnerinnen des eigenen Haushalts sowie eines zweiten dürfen sich treffen, maximal 10 Personen. Restaurants, Theater und Bars werden alle geschlossen (mit Ausnahme von Take-aways). Viele Freizeiteinrichtungen sind ebenfalls zu. Die Regeln sollen erst einmal bis Ende November gelten.
Auch Frankreichs Präsident wird neue Massnahmen verkünden. Emmanuel Macron spricht heute Mittwochabend im Fernsehen zur Nation. Erwartet werden massive Beschneidungen der Bewegungsfreiheit und die Schliessung von Geschäften. Medien hatten vorab berichtet, dass diese bereits ab Freitag gelten – und den November über andauern sollen.
Und zum Schluss: Welchen Lockdown hätten Sie denn gerne?
In der Pandemie haben wir die Wahl der Qual. Wäre am besten ein Lockdown, doch nur ein Slowdown – gleich ein Shutdown? Lieber ein Mini-Shutdown, ein «Lockdown light»? Oder doch ein Wellenbrecher, ein circuit breaker? Und: Was ist der Unterschied? Es gibt für keinen dieser Begriffe eine allgemein anerkannte wissenschaftliche Definition. Der Grund: Es sind keine wissenschaftlichen Begriffe, es sind politische. Alle bezeichnen sie ein Bündel von Massnahmen (meist: Verbote und Gebote), die darauf abzielen, dass es weniger Kontakte zwischen Menschen gibt.
Gerade sehr in Mode ist der circuit breaker. Das ist eigentlich ein Begriff aus der Elektronik und beschreibt eine Sicherung, die einen Stromkreis bei Überlastung unterbricht. Auf die Pandemie übertragen bedeutet das: harte Einschränkungen, die aber von Anfang an zeitlich begrenzt sind – und die das Infektionsgeschehen so wieder auf ein bewältigbares Niveau drücken sollen.
Bleiben Sie umsichtig. Bleiben Sie freundlich. Und bleiben Sie gesund.
Oliver Fuchs
PS: Haben Sie Fragen und Feedback, schreiben Sie an: covid19@republik.ch.
PPS: Wir würden uns freuen, wenn Sie diesen Newsletter mit Freundinnen und Bekannten teilten. Er ist ein kostenloses Angebot der Republik.
PPPS: Apropos Lockdown, Shutdown, Slowdown oder was Ihnen am meisten beliebt – dieses Hörstück können wir wärmstens empfehlen: über die App «Quarantine Chat», die im Frühling nach dem Zufallsprinzip Menschen miteinander bekannt machte, die zu Hause herumsitzen mussten. (Merci für den Tipp, Boas Ruh.)
PPPPS: «Nach zwei Wochen voller Gesundheitschecks und nachdem ich alle gebeten hatte, in Quarantäne zu gehen, habe ich die Leute aus meinen innersten Kreis überrascht. Wir haben einen Trip auf eine Privatinsel gemacht, wo wir für einen kurzen Moment lang so tun konnten, als wäre alles normal.» Das ist ein Tweet der US-Prominenten Kim Kardashian. Und glauben Sie uns, je länger und genauer Sie über diese Wörter in ihrer exakten Reihenfolge nachdenken, desto lustiger.
PPPPPS: Unsere Reporterin Ronja Beck kommentierte den Tweet von Kim Kardashian übrigens so: «Lieber 10 Tage in meinem viel zu lange nicht mehr gelüfteten Zimmer als 1 Tag mit diesen Leuten auf der Insel.»