Binswanger

Nein, wir können Corona nicht

Die Beschleunigung der Covid-Pandemie wird dramatisch, die Spitäler füllen sich. Und die Landesregierung? Wendet die «Slowdown»-Ansage auf das eigene Handeln an.

Von Daniel Binswanger, 24.10.2020

Es ist sinnlos, mit Zorn und Erbitterung zu reagieren. Es hilft aber noch viel weniger, sich in alternative Fakten zu flüchten. Schauen wir den Tatsachen nüchtern ins Auge: Unsere Corona-Politik war leichtfertig, unsere Behörden haben versagt. Es steht seit Monaten fest, dass der Anstieg der Fallzahlen exponentiell verläuft; es steht seit Monaten fest, dass das absolute Niveau zu hoch ist; es steht seit Monaten fest, dass es an einem bestimmten Punkt zu einer explosionsartigen Entwicklung kommen würde. Wir werden für das Politik­versagen einen hohen Preis bezahlen, sowohl an Todes­opfern, die vermeidbar gewesen wären, als auch an Wohlstands­verlust, der nicht hätte sein müssen. Es hat sich bereits im Sommer angekündigt und wird nun zur brutalen Evidenz: Wir können Corona nicht. Das muss sich ändern. Jetzt.

Wer will, mag sich damit trösten, dass auch viele andere Länder zu einer effizienten Pandemie­bekämpfung nicht imstande gewesen sind. Es gibt zwei – Tschechien und Belgien –, die sogar eine noch höhere Ansteckungsquote vorweisen als die Schweiz. Doch es gibt auch die Staaten, die die Dinge im Griff haben: zum Beispiel Singapur, Taiwan, Neuseeland, Australien. Und selbst als Katastrophen­fälle geltende Nationen – etwa Frankreich, Spanien, Gross­britannien oder Italien – stehen beim heutigen Infektions­geschehen deutlich besser da als die Schweiz.

Sehr, sehr unter­durchschnittlich

Wie konnten wir, nachdem die erste Welle so glänzend gemeistert worden war, den Vorteil unserer Ausgangs­lage so unbedacht verspielen? Ein weiteres Sonderfall-Narrativ ist heute auserzählt. Wir sind ein europäisches Land wie jedes andere. Und leider ein sehr, sehr unter­durch­schnittliches.

Immerhin wurde der Ernst der Lage erkannt – auch wenn man sich zum Handeln denn doch nicht so ganz durchringen will. Der Bundesrat ist wieder bereit, seiner wissenschaftlichen Taskforce bei der Entscheidungs­findung und in seiner Kommunikation einen prominenten Platz einzuräumen. Jedenfalls ist an die Presse gedrungen, dass die Taskforce letzten Mittwoch zur Bundesrats­sitzung zugeschaltet wurde. Auch am Donnerstag hat sich Bundesrat Alain Berset auf die Prognosen der Epidemiologen bezogen, um zu begründen, weshalb der Bund erst am kommenden Mittwoch über eine Verschärfung der «Slowdown»-Massnahmen entscheiden will.

Dass die Regierung die Daten der Wissenschaftlerinnen nun ernst nehmen will, ist ermutigend. Allerdings dürfte die gestiegene Bereitschaft, sich Rat zu holen, nicht wenig mit dem Bedürfnis zu tun haben, die Verantwortung in der prekären Situation wenigstens ein bisschen zu delegieren.

Nicht nachvollziehbar ist, weshalb Bundesrat Berset ausgerechnet die dringliche Warnung, schon Mitte November könne die Schweiz bei den Intensiv­bett­kapazitäten an eine Grenze stossen, als Recht­fertigung anführt, weshalb man es in Bern bereits wieder gemütlich nimmt. Erst am nächsten Mittwoch soll darüber entschieden werden, ob das heutige Massnahmen­paket ausreicht oder weitere Verschärfungen notwendig sind. Zunächst, so der Gesund­heitsminister am Donnerstag, müsse eine Konsultation der Kantone durchgeführt werden und müsse man evaluieren, ob die Wirkung der Massnahmen, die am letzten Sonntag beschlossen wurden, nicht ausreichend sei. Beide Begründungen nehmen sich seltsam aus.

Politische Blockade

Bereits am Freitag letzter Woche hatte der Gesundheits­minister die kantonalen Gesundheits­direktoren zusammen­getrommelt. Am Samstag wurde konsultiert, am Sonntag wurden von der Landes­regierung Entscheide mit sofortiger Wirkung gefällt. Warum soll es zwingend sein, dass ein paar Tage später der Konsultations­prozess fast eine Woche in Anspruch nimmt? Ob die Politik den «Slowdown» mit erster Priorität auf sich selbst anwendet?

Genauso befremdend ist das Argument, man wolle zuerst die Wirkung der Massnahmen vom letzten Sonntag evaluieren und sich erst in einem zweiten Schritt eventuell für drastischere Mittel aussprechen. Das Problem bei dieser Argumentation liegt darin, dass es rund 14 Tage braucht, bis sich eine Massnahme in den Fallzahlen manifestiert. Auch am nächsten Mittwoch werden wir noch keine empirischen Befunde haben, und dennoch will der Bundesrat sich vor Mittwoch nicht bewegen.

Die Blockade ist ganz offensichtlich politisch motiviert. Der Bund will die Kantone nicht aus der Verantwortung entlassen, die Kantone sind sich nicht einig und wollen unpopuläre Beschlüsse lieber dem Bund zuschieben. Der Kanton Zürich zum Beispiel will Hockey­spiele zwar verboten wissen – aber bitte nicht in eigener Kompetenz! Erneut werden match­entscheidende Tage dem föderalistischen Leerlauf geopfert.

Je später, desto belastender

Enervierend ist das auch deshalb, weil ausgeschlossen werden kann, dass die beschlossenen Massnahmen nicht noch einmal verschärft werden müssen – seien es härtere Einschränkungen bei Gastronomie und Versammlungs­grössen, sei es ein Lockdown, sei es eine Kombination von beidem, die verhindert, dass eine Lahm­legung des öffentlichen Lebens nur kurzzeitige Verbesserungen bewirkt. Ein Blick ins Ausland führt vor Augen, wie spät wir bereits dran sind.

Nehmen wir als Beispiel Israel. Am 18. September, als der 7-Tages-Durch­schnitt pro hundert­tausend Einwohner etwa bei 50 Neuansteckungen lag – wir werden diese Zahl dieses Wochen­ende erreichen –, ging Israel in den Lockdown. Ursprünglich hätte er auf drei Wochen befristet sein sollen, er musste aber auf einen Monat verlängert werden.

Nehmen wir das Beispiel Irland. Das Land ist am Donnerstag in einen weitgehenden Lockdown gegangen, der sechs Wochen dauern soll. Die Schulen bleiben zwar offen, aber Restaurants und Läden mit nicht essenziellen Gütern werden geschlossen, Homeoffice wird wo immer möglich obligatorisch, Besuche in einer anderen als der eigenen Wohnung sind verboten. Die Zahl der Pro-Kopf-Infektionen in Irland liegt nur etwa halb so hoch wie in der Schweiz.

Was immer wir schliesslich beschliessen werden: Es wird einschneidender und wirtschaftlich belastender sein als die Massnahmen in den Ländern, die früher gehandelt haben.

Sicherlich: Es gibt auch ein paar gute Nachrichten. Die Medizin hat Fortschritte gemacht und die Covid-Sterblichkeit deutlich gesenkt. Die Einführung von Schnell­tests bietet die Möglichkeit, den Schutz von vulnerablen Personen zu verbessern. Wir haben dramatische Fehler gemacht, die Menschen­leben und Wohlstand kosten werden, aber wir können die Situation in den Griff bekommen. Allerdings müsste dafür kompromiss­los gehandelt werden. Und zwar jetzt.

Illustration: Alex Solman