Was die Mehrheit der Mächtigen übersieht

Beim Erfassen von Daten gehen Frauen oft vergessen. Das ist manchmal ärgerlich. Und manchmal auch lebensbedrohlich.

Von Andrea Arežina, 20.10.2020

Der Bund soll alle Statistiken und Studien nach Geschlecht aufschlüsseln: Das verlangte SP-National­rätin Min Li Marti diesen Frühling in einer Motion. Dabei soll immer auch analysiert werden, wie sich erfasste statistische Grössen auf Männer und auf Frauen aufteilen oder welche Auswirkungen beschlossene Massnahmen auf die verschiedenen Geschlechter haben. Marti reicht ihren Vorstoss nach dem Corona-Shutdown im Nationalrat ein.

Fraktionskollegin und Stände­rätin Eva Herzog wird auf Martis Vorstoss aufmerksam und reicht den gleichen im Ständerat ein. Am 24. September hat der Ständerat den Vorstoss angenommen.

Doch hier endet die Geschichte nicht – Innen­minister Alain Berset liess im Namen des Bundes­rats bereits verlauten, die Forderung, dass alle massgeblichen Studien auch geschlechts­spezifische Unter­schiede untersuchen, gehe viel zu weit. Überraschen kann das nur auf den ersten Blick. Das amtliche Desinteresse für geschlechts­spezifische Unter­schiede macht sich immer wieder bemerkbar und geht weit darüber hinaus, wie statistische Erhebungen gemacht werden.

Weshalb das so ist, hat die Autorin und Journalistin Caroline Criado-Perez in einem fast 500-seitigen Buch untersucht, dessen deutsche Über­setzung diesen Frühling erschienen ist. Sein Titel: «Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert». Schauen wir uns ein paar Beispiele an.

1999 hatte sich eine Polizistin in Gross­britannien einer Operation unterzogen. Sie liess sich ihre Brüste verkleinern, weil ihr der polizeiliche Körper­panzer zu eng war. Als der Fall publik wurde, meldeten sich 700 weitere Polizistinnen mit Beschwerden über die Standard-Schutzweste.

In der Medizin galt der männliche Körper lange Zeit als Norm. Die Frau war die Abweichung. Das führte dazu, dass Herzinfarkte von Frauen lange übersehen wurden, weil sie sich von jenen Infarkten unterscheiden, die man aus Hollywood­filmen kennt: Ein Mann fasst sich mit der rechten Hand an die linke Brust. Die Symptome eines weiblichen Herz­infarkts sind ganz andere: Bauch­schmerzen, das Gefühl, zu wenig Luft zu bekommen, Übelkeit, Müdigkeit.

Die Ausrichtung auf den Mann ist auch in anderen Lebens­bereichen zu finden: Das Büro ist genau genommen ein männliches Büro. Noch genauer: ein Büro für 40-jährige Männer, die 70 Kilogramm wiegen. Anhand dieser Formel wurden die meisten Büros temperiert. Das führt im Winter dazu, dass Frauen in den Büro­räumen häufig frieren.

Ein ähnliches Problem prägt ganz allgemein den modernen Urbanismus: Die Stadtplaner haben entweder die Neigung, sich gröber zu verrechnen – oder die Frauen schlicht zu vergessen. In Stadt­pärken und an Spazier­wegen fehlen öffentliche Toiletten. Wie kann es sein, dass Schwangere und Menschen, die einmal im Monat die Periode bekommen und nicht im Stehen pinkeln können, in der Planung nicht berücksichtigt werden?

Vielleicht, weil die Perspektive der Frau fehlte. Auch dann, wenn eine Frau mit am Tisch sitzt. Denn eine allein reicht meistens nicht. Auch das ist relativ gut untersucht.

Erst wenn ungefähr 70 Prozent aller anwesenden Personen Frauen sind, werden Frauen als gleichrangig und einflussreich wahrgenommen. Kurz: Frauen müssen deutlich mehr als die Hälfte stellen, um gehört zu werden. Das hat das Forscherduo Christopher F. Karpowitz und Tali Mendelberg analysiert, das sich mit der Dynamik von Gender in beruflichen und politischen Kontexten befasst.

Der späte Einzug der schwangeren Frauen

Auch in der Schweizer Politik wird die «Unsichtbarkeit» der Frauen immer wieder manifest – vorausgesetzt, man schaut genauer hin. Als der Bundesrat am 5. August eine seiner vielen Corona-Medienkon­ferenzen abhielt, verkündete der Leiter der Krisenbewältigung: «Wir nehmen schwangere Frauen auf die Liste der besonders gefährdeten Personen auf.» Dies sei «eine Vorsichtsmassnahme».

Im Lauf der Covid-19-Epidemie haben wir immer wieder die Erfahrung gemacht, dass das Regierungs­handeln improvisiert wirkt, dass plötzlich und zu einem späten Zeitpunkt der medizinische Erkenntnis­stand revidiert wurde und sich die Strategie änderte. Kurskorrekturen bei der Pandemie-Eindämmung sind per se nichts Ungewöhnliches. Auch für die sehr späte Erklärung von Schwangeren zur Risiko­gruppe lässt sich auf den ersten Blick ein Argument geltend machen: Bevor Massnahmen ergriffen werden konnten, mussten solide wissenschaftliche Studien durchgeführt werden und deren Resultate vorliegen. Aber gibt es nicht auch so etwas wie ein Vorsichts­prinzip? Müsste nicht der Schutz von Schwangeren und Neugeborenen ein prioritäres Anliegen sein, und müssten Risiken nicht so frühzeitig wie möglich abgeklärt werden?

Schwangere Frauen wurden zu einer eigenen Covid-19-Risiko­gruppe erklärt, weil eine US-amerikanische Studie mit 8000 Schwangeren ein erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheits­verlauf nachweisen konnte. Das gilt insbesondere für schwangere Frauen mit Vorerkrankungen. Zudem besteht die Gefahr einer Frühgeburt. Auf diese Studie stützt sich nun auch die Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Der Bund folgt deren Empfehlung, wie es an der Medien­konferenz hiess.

So weit, so nachvollziehbar. Aber dass in einer Pandemie­situation auf Schwangerschafts­risiken ein besonderes Augenmerk gerichtet werden muss und dass das häufig zu kurz kommt – diese Erfahrung hat man bereits gemacht. Und daraus hätten sich für den Umgang mit Covid durchaus hilfreiche Schlüsse ziehen lassen.

Die WHO hat jedenfalls schon vor 15 Jahren darauf hingewiesen, dass in einer epidemiologischen Notlage die spezifische Schutz­bedürftigkeit von Frauen vernachlässigt zu werden droht. Als in China 2004 Sars ausbrach, hielt die WHO fest, dass eine umfassende Dokumentation fehle, was die Folgen und den Krankheits­verlauf bei schwangeren Frauen anbelangt. Aus diesem Grund wisse man gar nicht, wie sich ein Virus auf schwangere Frauen auswirke.

Covid-19 ist zwar nicht Sars, aber ein Virus der gleichen Viren­gruppe. Hätte es nicht nahegelegen, es diesmal besser zu machen, Vorsicht walten zu lassen und die nahe­liegenden Fragen sofort zu stellen? Zum Beispiel auch: Was ist mit der Angst um das ungeborene Kind? Wie wirkt sich diese auf die Frauen aus? Auf das Kind? Was sind die physischen und psychischen Folgen?

Unterschiede sichtbar machen

In der Schweiz würde eine Dokumentation zu Covid-19 und schwangeren Frauen nach wie vor fehlen, hätte nicht die Universität Lausanne eine Untersuchung gestartet. Sie analysiert den Krankheits­verlauf und die Folgen von Covid-19 während der Schwangerschaft in der Schweiz und in Europa. Diese Forschung werde bisher primär von der Universität Lausanne finanziert, sagt Daniel Surbek, Vertreter der Gesellschaft für Gynäkologie und Geburts­hilfe und Chefarzt der Frauen­klinik des Inselspitals Bern.

Das Bundesamt für Gesundheit schreibt auf Nachfrage der Republik, ob es die Kosten der Studie übernehmen werde, dass ein Gesuch der Universität Lausanne sicher geprüft würde. Der Schweizerische National­fonds, der im Auftrag des Bundes arbeitet, hat das Gesuch jedoch bereits abgelehnt, wie Surbek sagt. Dass der Bund selber aktiv wird und eine Untersuchung startet, schien in der Verwaltung kein Thema zu sein.

Trotzdem wäre es falsch, jetzt mit dem Finger auf das böse Bundesamt für Gesundheit zu zeigen. Denn es handelt sich um ein generelles Problem, das weit mehr als die Corona-Risiken betrifft. Ganz allgemein ist zu beobachten: Bei vielen Statistiken des Bundes wird das Geschlecht erfasst – bei vielen aber auch nicht. Mehr Daten führen zu mehr Wissen, was entscheidend wäre für eine Politik, die auf Sicht fliegen will. Nur wenn die Politik über die Datensätze verfügt, können Verantwortungs­trägerinnen auf Fakten reagieren und richtige Entscheidungen treffen. Solange aber die Unterschiede zwischen Männern und Frauen statistisch nicht erfasst werden, bleibt vieles unsichtbar. Man muss sich dann an Eindrücke und Gefühle halten – was häufig zuungunsten der Frauen ist.

Wie wichtig bei Datensätzen die Aufschlüsselung nach Geschlecht ist, zeigen viele Beispiele. So sind Frauen in der Schweiz von Armut im Alter viel häufiger betroffen als Männer, weil die Alters­vorsorge letztlich auf typisch männliche Berufs­karrieren ausgerichtet ist. Männer wiederum nehmen sich viel häufiger das Leben. Doch dieser Gefährdung begegnet die Schweiz mit einem Aktionsplan Suizid­prävention, der auch die Empfehlungen der WHO aufnimmt.

Ausdruck der generellen Genderblindheit

Es ist ein zäher Kampf, aber einzelne Politikerinnen gehen voran. Am 18. Juni, während der ersten Post-Shutdown-Session, sagte GLP-Nationalrätin Kathrin Bertschy in einem ausführlichen Plädoyer im Parlament: «(...) Warum fragen wir nach, ob der Bundesrat bereit ist, Zahlen­material rasch zu erheben, um detaillierte Analysen zur Beschäftigungs­situation zu machen, Veränderungen beobachten zu können, und neben Zahlen zur Arbeits­losigkeit auch Zahlen zur Kurzarbeit, zur Kredit­vergabe, zum Mieterlass, zur Betreuungs- und Care-Arbeit zu erheben und die unterschiedlichen Auswirkungen auf die Geschlechter aufzuzeigen? Wir fragen, weil der Bundesrat, das BFS (Bundesamt für Statistik; d. Red.), das Seco (Staats­sekretariat für Wirtschaft; d. Red.) diese Daten nicht erheben, weil wir diese aber brauchen, weil es ein Monitoring braucht, damit sich die Geschichte nicht wiederholt, damit wir eingreifen können und damit eben nicht eine Gruppe der Bevölkerung den Preis der Krisen­bewältigung bezahlt.»

Die Geschichte, dass die Folgen einer Epidemie für Frauen einschneidender sind, droht sich in der Tat zu wiederholen. Das lassen jedenfalls Unter­suchungen von zurück­liegenden Epidemien wie Ebola, Zika, Sars sowie zur Schweine- und zur Vogelgrippe befürchten. Auch unter den langfristigen wirtschaftlichen Folgen leiden Frauen besonders. Grundsätzlich schmälere eine Epidemie das Einkommen aller Menschen, doch das der Männer kehre schneller auf den Stand vor dem Ausbruch zurück, sagte eine Forscherin der London School of Economics gegenüber der «New York Times».

Fragt man jedoch beim Staats­sekretariat für Wirtschaft nach, ob das Geschlecht bei der Vergabe der Milliarden-Corona-Kredite erfasst werde, schreibt der zuständige Mitarbeiter: «Die Covid-19-Kredite werden an Firmen und nicht an natürliche Personen gewährt. Das Geschlecht des/der Geschäftsführer/in oder Inhaber/in wird nicht erhoben.»

Und wie ist es bei der Kurzarbeits­entschädigung, wird hier das Geschlecht erfasst? Die Antwort des Staats­sekretariats für Wirtschaft: «Im Falle der Kurzarbeits­entschädigung wird als Folge des erlittenen Arbeits­ausfalls eine Entschädigung an den Arbeit­geber / das Unternehmen gezahlt. Die Bezahlung richtet sich nicht nach dem Geschlecht der Mitarbeiter. Diese Informationen werden daher nicht verlangt.»

Dass der Bund das Geschlecht weder bei den Corona-Krediten noch bei der Kurzarbeits­entschädigung erfasst, mag für die entsprechenden Entscheide tatsächlich keine Rolle spielen. Aber sind die ergriffenen Massnahmen wirklich geschlechts­neutral? Wäre es nicht wichtig, hier Genaueres zu wissen? Das Desinteresse ist erneut der Ausdruck einer generellen Gender­blindheit. Sie wäre nachvollziehbarer, wenn man nicht wüsste, dass der Bund in anderen Zusammen­hängen kaum genug Daten erheben kann – etwa über die Fischbestände in den Schweizer Seen, die Meer­schweinchen in den Schweizer Privat­haushalten, die Esel in den Schweizer Ställen.

Aufmerksamkeit fürs Unsichtbare

Beverly Hills, die Preisverleihung der Golden Globes 2017. Auf der Bühne des Hilton Hotel steht Ryan Gosling, Schauspieler und Gewinner eines Golden Globe. Im weissen Smoking mit karminrotem Röschen in der Brusttasche setzt er zu einer verblüffenden Dankesrede an.

Er sagt, er würde heute nur hier stehen dank seiner Partnerin, der Schauspielerin Eva Mendes. Sie habe die gemeinsame Tochter gehütet, sei ein weiteres Mal schwanger gewesen, während er seiner Rolle als Schauspieler nachgehen konnte.

Ryan Gosling dankte seiner Partnerin in dem Moment, als alle Fernseh­kameras im Saal auf ihn gerichtet waren und er die Golden-Globe-Trophäe mit beiden Händen festhielt, für ihre unbezahlte Arbeit. Mehr Aufmerksamkeit, mehr Glamour, mehr Fame für diese Arbeit geht fast nicht. Doch selbst diese Art von grund­legendster gesellschaftlicher Leistung bleibt weiterhin quasi unsichtbar in der Schweiz. Die Ökonomin Mascha Madörin hat die Daten zusammen­getragen: Der Wert der unbezahlten Arbeit von Frauen in der Schweiz entspricht 248 Milliarden Franken jährlich und ist entscheidend für unser Leben und Überleben.

Warum wird die Hälfte der Bevölkerung immer noch weitgehend ignoriert? Dazu schreibt die Buchautorin Caroline Criado-Perez: Da Männer die Mehrheit der Mächtigen stellten, sehe die Mehrheit der Mächtigen das Problem einfach nicht. «Für sie wirkt die männliche Perspektive einfach nur wie gesunder Menschenverstand.»