Hemmungslos

Der Kanton Zürich hat einen Feldzug gegen die Sexarbeit lanciert – im Alleingang und unter dem Deckmantel der Pandemie. Er hebelt dazu die Personen­freizügigkeit aus. Und stellt die Legalität des Gewerbes infrage.

Ein Kommentar von Brigitte Hürlimann, 20.10.2020

Wann ist Sexarbeit illegal und hochkriminell? Für die Mehrheit im Zürcher Kantonsrat sehr oft. Und das hat Folgen. Maurice Haas/13 Photo

Was gerade im Kanton Zürich geschieht, ist gefährlich. Gefährlich für die Sexarbeiterinnen und deren Kundschaft und damit gefährlich für die ganze Bevölkerung – wenn es darum geht, die Gesundheit aller zu schützen und das Ansteckungs­risiko so klein wie nur möglich zu halten. Nicht nur bezogen auf Covid-19, sondern auch auf andere übertragbare Krankheiten.

Es ist eine Binsenwahrheit, dass Prostitution auch dort stattfindet, wo sie verboten ist. Das zeigt die Geschichte, und das zeigt der Blick in jene Länder, in denen es die Sexarbeit laut Gesetz nicht geben darf – oder nur mit restriktiven Auflagen. Etwa mit der Kriminalisierung der Freier, einem Bordell­verbot oder dem Verbot des «öffentlichen Anwerbens». Prostitution wird dann im Verborgenen ausgeübt, unter schwierigen, gefährlichen und oft prekären Bedingungen. Davon profitieren in erster Linie Ausbeuter und kriminelle Banden. Die Frauen sind ihnen schutzlos ausgeliefert.

Unter solchen Umständen hygienische Massnahmen einzufordern, den Behörden, Ärztinnen und Fach­organisationen Zugang zum Milieu zu gewähren, die Sexarbeiterinnen selbst­bestimmt und selbst­bewusst arbeiten zu lassen: Das funktioniert dann nicht mehr.

Diesen Zusammenhang hat auch Bundesrat Alain Berset erkannt, als er an der Medien­konferenz vom 27. Mai erklärte, warum das hiesige Sexgewerbe nach dem Shutdown ab Anfang Juni wieder die Arbeit aufnehmen kann, in der zweiten Lockerungsrunde. Das passiere deshalb, so der Gesundheits­minister, weil es Möglichkeiten zur Umgehung des Berufs­verbots gebe. Und weil es in der Prostitution sehr wichtig sei, den Zugang zu den Präventions­massnahmen sicherzustellen.

Um diese Erkenntnisse foutiert sich der Kanton Zürich nun gleich zweifach.

Faktisches Berufsverbot

Vermutlich seit Mitte September verschickt das Migrations­amt Standard­briefe an Staats­angehörige aus den EU- und Efta-Staaten, die um eine Bewilligung anfragen, weil sie im Kanton Zürich als Sexarbeiterinnen tätig sein wollen, gestützt auf die Personenfreizügigkeit.

Im Schreiben des Migrationsamts wird ihnen ein faktisches Berufs­verbot erteilt. Eine Belehrung darüber, wie sie sich dagegen wehren können, gibt es nicht. Die Gesuch­stellerinnen erfahren lediglich, es sei angesichts der aktuellen Entwicklung der Infektions­zahlen notwendig, die Zulassung zur Erwerbs­tätigkeit «für Berufe mit engem Körper­kontakt temporär auszusetzen». Damit werde sicher­gestellt, dass die Kapazitäten zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie aufrecht­erhalten werden könnten «und eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung gewähr­leistet bleibt».

Was auffällt: Die Massnahme betrifft offensichtlich nur das Sexgewerbe. Nicht Masseure, Tanzlehrer, Pflegerinnen, Physio­therapeuten oder Ballett­tänzerinnen – um einige Berufe mit «engem Körper­kontakt» zu nennen. Das ist kurios, denn im Kanton Zürich sind bisher bloss zwei Covid-19-Fälle im Milieu bekannt geworden. «Das Sexgewerbe ist kein Treiber der Pandemie», sagt Beatrice Bänninger, Geschäfts­leiterin der Zürcher Stadt­mission, die mit ihrem Projekt «Isla Victoria» seit Jahrzehnten Sexarbeiter­innen unterstützt. Offensichtlich, so Bänninger, werde unter dem Deck­mantel der Pandemie einem Gewerbe die Arbeit erschwert, das vielen ein Dorn im Auge sei.

Besonders fragwürdig: Das Migrationsamt des Kantons Zürich, dessen politischer Verantwortlicher SP-Regierungsrat Mario Fehr ist, hebelt mit den Bewilligungs­verweigerungen die Personen­freizügigkeit aus. Es verhängt seine Massnahme zwar mit Hinweis auf den Ausnahmeartikel im Freizügigkeitsabkommen. Dieser berechtigt die Schweiz, die Personen­freizügigkeit unter anderem aus Gründen der öffentlichen Gesundheit einzuschränken – aber nur, wenn eine «tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr» vorliegt. Und wenn das persönliche Verhalten der betroffenen EU-Bürgerin eine Einschränkung ihrer Rechte zulässt.

Unterschiedliche Massstäbe

«Generalpräventive Massnahmen», sagt der Zürcher Anwalt Jan Skalski, «rechtfertigen eine Bewilligungs­verweigerung nicht. Das hat das Bundes­gericht in mehreren Urteilen entschieden.»

Skalski ist nicht der einzige Rechts­anwalt, der mit rechtlichen Schritten gegen die Anordnung des Migrations­amts vorgeht. Auch Fanny de Weck und Valentin Landmann verlangen im Auftrag von betroffenen Sexarbeiterinnen aus der EU in einem ersten Schritt eine anfechtbare Verfügung, damit sie überhaupt Rekurs einlegen können. Alle drei sind felsenfest davon über­zeugt, dass das vom Migrations­amt verhängte Berufs­verbot nicht zulässig ist:

  • weil es die europäischen Sexarbeiterinnen im Vergleich zu den Schweizer Berufs­kolleginnen diskriminiert, was gegen einen Grundsatz des Freizügigkeits­abkommens verstösst;

  • weil eine Rechts­ungleichheit besteht, da nur ein einzelnes Gewerbe «mit engem Körper­kontakt» für das Berufs­verbot heraus­gepickt wird;

  • weil es sich um eine sachlich ungerechtfertigte Massnahme handelt, da bisher bloss zwei Covid-19-Fälle im Sexgewerbe bekannt wurden;

  • weil der Ausnahme­artikel, auf den sich das Migrations­amt beruft, nur dann angewendet werden kann, wenn von einer Person ganz konkret eine schwere Gefahr ausgeht – der Artikel wurde bisher vor allem für die Ausweisung von Schwer­verbrechern angerufen;

  • weil die Massnahme unverhältnis­mässig ist. Es gibt mildere Mittel, um dafür zu sorgen, dass es im Sexgewerbe nicht zu einer Ausbreitung von Corona kommt. Heute schon gelten spezifische Schutzkonzepte.

  • Und dann machen die Rechts­anwälte auch noch darauf aufmerksam, dass es sich bei der Erteilung der Bewilligung um einen rein deklaratorischen Akt handelt. Das Recht der Europäerinnen, in der Schweiz zu leben und zu arbeiten, wird direkt aus dem Freizügigkeits­abkommen abgeleitet, nicht aus der Bewilligung des Migrationsamts.

Astrid Epiney, Professorin für Völker- und Europarecht und Rektorin an der Universität Freiburg, schliesst sich der Auffassung an, dass die Massnahme des Migrationsamts direkt diskriminierend ist, da unterschiedliche Mass­stäbe für In- und Ausländerinnen angewandt werden. Das Amt für Wirt­schaft und Arbeit des Kantons Zürich (AWA) wiederum ändert seine langjährige Praxis nicht. Es stellt Prostituierten aus EU-/Efta-Staaten, die für höchstens 90 Tage in der Schweiz arbeiten wollen, nach wie vor ein unkompliziertes Melde­verfahren zur Verfügung. «In diesem Verfahren hat das Migrationsamt keine Zuständigkeit», schreibt AWA-Sprecherin Lucie Hribal.

Das Migrationsamt? Verweigert die Auskunft

Gerne hätte die Republik vom Zürcher Migrationsamt gewusst, wie sich der Bewilligungs­stopp für Sexarbeiterinnen mit dem Freizügigkeits­abkommen vereinbaren lässt; seit wann die entsprechenden Standard­briefe verschickt werden und welche anderen Berufs­gruppen vom Verbot betroffen sind.

Die Fragen werden nicht beantwortet. Tobias Christen, Sprecher des Migrations­amts, verweist auf den Regierungsrats­beschluss Nr. 928, in dem die gesuchten Antworten jedoch nicht zu finden sind. Im zweiten und letzten Satz seiner E-Mail an die Republik schreibt Christen: «Jedes Gesuch wird individuell geprüft, Betroffenen steht der übliche Rechts­mittelweg offen.»

Urs Hofmann, Aargauer SP-Regierungsrat und Präsident der Konferenz der kantonalen Polizei- und Justiz­direktoren, will sich wegen der hängigen Rechts­verfahren nicht mehr zu den Massnahmen des Zürcher Migrations­amts äussern. Ende September sagte er dem «Blick», es sei ihm nicht klar, «auf welche Rechts­grundlagen der Kanton Zürich die Verweigerung von Aufenthalts­bewilligungen für diese Ausländer­kategorie abstützt». Und er verweist darauf, dass der Bund in seinen Covid-Verordnungen sämtliche Restriktionen für EU-/Efta-Angehörige aufgehoben habe.

Doch die fragwürdige Aktion des Migrations­amts ist nicht die einzige Massnahme des Kantons Zürich gegen das Sexgewerbe.

Freier sollen den Pass zücken

Der Regierungsrat hat per 1. Oktober seine kantonale Covid-19-Verordnung geändert (inzwischen ist es zu weiteren Änderungen gekommen): dannzumal mit Lockerungen für Bars, Discos und Clubs – und zusätzlichen Auflagen fürs Sexgewerbe. In den Innen­räumen von Betrieben, in denen man nicht aus­schliesslich sitzt, dürfen sich statt 100 neu 300 Personen aufhalten, wenn sie Schutz­masken tragen. Sexarbeiterinnen hingegen werden neuerdings via Verordnung verpflichtet, die Kontakt­daten von Kunden nicht nur zu erheben, sondern auch zu verifizieren; egal, wo sie tätig sind, ob in einem Etablissement oder auf dem Strassen­strich. Sie müssen also von den Kunden einen Pass verlangen und auf deren Handy anrufen, um sicher­zustellen, dass die angegebene Nummer stimmt.

Vorläufig gelten die Neuerungen bis zum 31. Oktober. Sie können danach aber nach Gutdünken der Regierung verlängert werden.

Rechtsanwalt und SVP-Kantonsrat Valentin Landmann hat im Namen eines Bordell­betreibers gegen die Bestimmungen Beschwerde vor Verwaltungs­gericht erhoben. Er beruft sich auf die Bundes­verfassung und sagt, die Auflagen des Kantons Zürich verletzten die Wirtschafts­freiheit, die Verhältnis­mässigkeit, den Grundsatz von Treu und Glauben sowie das Gebot der Rechtsgleichheit.

Landmann verweist auf die Schutz­konzepte fürs Sexgewerbe, die in den legalen Betrieben strikt eingehalten würden: «Mit Erfolg», wie er sagt. Und dass heute schon die Daten der Kundschaft erfasst würden. Es handle sich um eine Stigmatisierung der Prostitution: «Kein anderes Gewerbe mit engem Kontakt zur Kundschaft oder zu Patienten wird in der Verordnung erwähnt.»

Unverständnis für die Idee des Zürcher Regierungs­rats äussert auch Morten Keller, Direktor der Städtischen Gesundheits­dienste Zürichs. Die neuen Auflagen, sagt Keller, seien «reichlich irritierend». Auf Verwaltungs­ebene seien die Massnahmen vor dem Inkraft­treten diskutiert worden. Von verschiedenster Seite habe man dem Regierungs­rat mitgeteilt, dass eine Erhebung und Verifizierung der Kunden­daten nicht zielführend sei. Sondern im Gegenteil eine «blauäugige und praxisferne Idee, die am Ziel vorbeischiesst». Darauf, sagt, Keller, habe man wiederholt aufmerksam gemacht.

Der Direktor der Städtischen Gesundheitsdienste ist sich bewusst, dass viele Sexarbeiterinnen nicht in der Lage sind, solche Massnahmen umzusetzen – vor allem auf dem Strassen­strich und in den Klein­bordellen. Und dass dies zu zusätzlichen Verunsicherungen, zu Druck und Stress führt. Es erhöht die Angst, gebüsst zu werden, hat aber bestimmt nicht den Effekt, dass Gesundheits­konzepte und Hygiene­regeln umgesetzt werden können.

Vorfall an der Zürcher Langstrasse

Was aber soll dieser Feldzug gegen die Sexarbeit? Warum kommt er ausgerechnet jetzt? Und warum im Kanton Zürich?

Bei einem Blick ins Kantonsparlament wird vieles klar. Glasklar sogar, wenn man die von drei Kantons­rätinnen eingereichte dringliche Interpellation mit dem Titel «Corona-Schutzmassnahmen im Milieu» liest sowie deren Beantwortung durch den Regierungsrat – und wenn man sich die entsprechende parlamen­tarische Debatte anhört. Der Wunsch, Prostitution zu verbieten, ist omni­präsent. Oder das Gewerbe im Kanton Zürich so an die Kandare zu nehmen, dass es nicht mehr ausgeübt werden kann. Oder nur noch im Versteckten, in der gefährlichen Grauzone.

Auslöser für die Interpellation war ein Vorfall vom 30. August an der Zürcher Langstrasse. In einer Liegenschaft, in der sich im Erdgeschoss eine Kontakt­bar befindet, wohnen in den höheren Etagen ausländische Prostituierte auf engstem Raum. Sie bezahlen für ihre bescheidenen Absteigen einen überrissenen Mietpreis.

An einem Sonntagnachmittag, an dem sich rund 50 Bewohnerinnen und Besucherinnen in der Liegenschaft aufhielten, rückte die Polizei an, weil ein Covid-19-Fall bekannt geworden war. Die Betroffene musste isoliert werden, die anderen Frauen wurden in die Quarantäne verbannt. Einige von ihnen wehrten sich panisch dagegen.

Die drei Kantonsrätinnen wollten daraufhin vom Zürcher Regierungsrat wissen, wie er vorgehe, damit die Schutz­massnahmen auch im Sexgewerbe eingehalten würden. Und sie fragten nach den Voraussetzungen für Bordell­schliessungen. Die Regierung erwähnt in ihrer Antwort den Bewilligungs­stopp des Migrationsamts und dass die Sexarbeiterinnen neu verpflichtet sind, die Kunden­daten nicht nur zu erheben, sondern auch zu verifizieren.

Moralisch aufgeladene Diskussion

In der regierungsrätlichen Antwort – dem vom Migrationsamt erwähnten Beschluss Nr. 928 – ist vom «sogenannt legalen Prostitutions­gewerbe» die Rede. Missachtet der Zürcher Regierungsrat damit die seit 1942 schweizweit geltende Legalität der Prostitution? Er schreibt salopp von der illegalen Prostitution und nennt als Beispiele dafür die Kontaktbars, Absteigen und die Strassen­prostitution – all dies ist jedoch vollkommen legal, solange die behördlichen Auflagen eingehalten werden. Zu guter Letzt behauptet die Regierung auch noch, ein «grosser Teil der Prostitution» würde sich in der Illegalität abspielen. Belege dafür werden keine angeführt.

Der Ball des Regierungsrats wurde in der Kantonsrats­debatte vom 28. September dankbar aufgenommen. Zahlreiche Ratsmitglieder von der GLP, der AL, den Grünen bis zur EVP und der EDU holten zu einem flammenden Plädoyer gegen die Sexarbeit aus. Sie betonten die Ausbeutung, sprachen von einem «hochkriminellen Business», einem «grausamen, menschen­verachtendem System», von andauernden Missständen oder davon, dass man zwischen legaler und illegaler Prostitution gar nicht unterscheiden könne. Die wenigen Stimmen, die darauf hinwiesen, dass das Sexgewerbe kein Treiber der Pandemie sei und es doch darum gehen müsse, die Sexarbeiterinnen zu stärken, ihnen Sicherheit, Rechts­schutz und den Zugang zu den Gesundheits­diensten zu ermöglichen, gingen kläglich unter.

Sicherheitsdirektor Mario Fehr, Chef des kantonalen Migrationsamts, bedankte sich im Rat für die Debatte. Und versicherte, der Regierungsrat werde die Bedenken ernst nehmen. Die ersten Schritte seien vollzogen. Die «hemmungslose Zuwanderung» von Prostituierten aus den EU-/Efta-Staaten werde unterbunden.

Hemmungslos ist eine passende Umschreibung dessen, was im Kanton Zürich passiert – wieder einmal auf dem Buckel der Sexarbeiterinnen.