Hemmungslos
Der Kanton Zürich hat einen Feldzug gegen die Sexarbeit lanciert – im Alleingang und unter dem Deckmantel der Pandemie. Er hebelt dazu die Personenfreizügigkeit aus. Und stellt die Legalität des Gewerbes infrage.
Ein Kommentar von Brigitte Hürlimann, 20.10.2020
Was gerade im Kanton Zürich geschieht, ist gefährlich. Gefährlich für die Sexarbeiterinnen und deren Kundschaft und damit gefährlich für die ganze Bevölkerung – wenn es darum geht, die Gesundheit aller zu schützen und das Ansteckungsrisiko so klein wie nur möglich zu halten. Nicht nur bezogen auf Covid-19, sondern auch auf andere übertragbare Krankheiten.
Es ist eine Binsenwahrheit, dass Prostitution auch dort stattfindet, wo sie verboten ist. Das zeigt die Geschichte, und das zeigt der Blick in jene Länder, in denen es die Sexarbeit laut Gesetz nicht geben darf – oder nur mit restriktiven Auflagen. Etwa mit der Kriminalisierung der Freier, einem Bordellverbot oder dem Verbot des «öffentlichen Anwerbens». Prostitution wird dann im Verborgenen ausgeübt, unter schwierigen, gefährlichen und oft prekären Bedingungen. Davon profitieren in erster Linie Ausbeuter und kriminelle Banden. Die Frauen sind ihnen schutzlos ausgeliefert.
Unter solchen Umständen hygienische Massnahmen einzufordern, den Behörden, Ärztinnen und Fachorganisationen Zugang zum Milieu zu gewähren, die Sexarbeiterinnen selbstbestimmt und selbstbewusst arbeiten zu lassen: Das funktioniert dann nicht mehr.
Diesen Zusammenhang hat auch Bundesrat Alain Berset erkannt, als er an der Medienkonferenz vom 27. Mai erklärte, warum das hiesige Sexgewerbe nach dem Shutdown ab Anfang Juni wieder die Arbeit aufnehmen kann, in der zweiten Lockerungsrunde. Das passiere deshalb, so der Gesundheitsminister, weil es Möglichkeiten zur Umgehung des Berufsverbots gebe. Und weil es in der Prostitution sehr wichtig sei, den Zugang zu den Präventionsmassnahmen sicherzustellen.
Um diese Erkenntnisse foutiert sich der Kanton Zürich nun gleich zweifach.
Faktisches Berufsverbot
Vermutlich seit Mitte September verschickt das Migrationsamt Standardbriefe an Staatsangehörige aus den EU- und Efta-Staaten, die um eine Bewilligung anfragen, weil sie im Kanton Zürich als Sexarbeiterinnen tätig sein wollen, gestützt auf die Personenfreizügigkeit.
Im Schreiben des Migrationsamts wird ihnen ein faktisches Berufsverbot erteilt. Eine Belehrung darüber, wie sie sich dagegen wehren können, gibt es nicht. Die Gesuchstellerinnen erfahren lediglich, es sei angesichts der aktuellen Entwicklung der Infektionszahlen notwendig, die Zulassung zur Erwerbstätigkeit «für Berufe mit engem Körperkontakt temporär auszusetzen». Damit werde sichergestellt, dass die Kapazitäten zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie aufrechterhalten werden könnten «und eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung gewährleistet bleibt».
Was auffällt: Die Massnahme betrifft offensichtlich nur das Sexgewerbe. Nicht Masseure, Tanzlehrer, Pflegerinnen, Physiotherapeuten oder Balletttänzerinnen – um einige Berufe mit «engem Körperkontakt» zu nennen. Das ist kurios, denn im Kanton Zürich sind bisher bloss zwei Covid-19-Fälle im Milieu bekannt geworden. «Das Sexgewerbe ist kein Treiber der Pandemie», sagt Beatrice Bänninger, Geschäftsleiterin der Zürcher Stadtmission, die mit ihrem Projekt «Isla Victoria» seit Jahrzehnten Sexarbeiterinnen unterstützt. Offensichtlich, so Bänninger, werde unter dem Deckmantel der Pandemie einem Gewerbe die Arbeit erschwert, das vielen ein Dorn im Auge sei.
Besonders fragwürdig: Das Migrationsamt des Kantons Zürich, dessen politischer Verantwortlicher SP-Regierungsrat Mario Fehr ist, hebelt mit den Bewilligungsverweigerungen die Personenfreizügigkeit aus. Es verhängt seine Massnahme zwar mit Hinweis auf den Ausnahmeartikel im Freizügigkeitsabkommen. Dieser berechtigt die Schweiz, die Personenfreizügigkeit unter anderem aus Gründen der öffentlichen Gesundheit einzuschränken – aber nur, wenn eine «tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr» vorliegt. Und wenn das persönliche Verhalten der betroffenen EU-Bürgerin eine Einschränkung ihrer Rechte zulässt.
Unterschiedliche Massstäbe
«Generalpräventive Massnahmen», sagt der Zürcher Anwalt Jan Skalski, «rechtfertigen eine Bewilligungsverweigerung nicht. Das hat das Bundesgericht in mehreren Urteilen entschieden.»
Skalski ist nicht der einzige Rechtsanwalt, der mit rechtlichen Schritten gegen die Anordnung des Migrationsamts vorgeht. Auch Fanny de Weck und Valentin Landmann verlangen im Auftrag von betroffenen Sexarbeiterinnen aus der EU in einem ersten Schritt eine anfechtbare Verfügung, damit sie überhaupt Rekurs einlegen können. Alle drei sind felsenfest davon überzeugt, dass das vom Migrationsamt verhängte Berufsverbot nicht zulässig ist:
weil es die europäischen Sexarbeiterinnen im Vergleich zu den Schweizer Berufskolleginnen diskriminiert, was gegen einen Grundsatz des Freizügigkeitsabkommens verstösst;
weil eine Rechtsungleichheit besteht, da nur ein einzelnes Gewerbe «mit engem Körperkontakt» für das Berufsverbot herausgepickt wird;
weil es sich um eine sachlich ungerechtfertigte Massnahme handelt, da bisher bloss zwei Covid-19-Fälle im Sexgewerbe bekannt wurden;
weil der Ausnahmeartikel, auf den sich das Migrationsamt beruft, nur dann angewendet werden kann, wenn von einer Person ganz konkret eine schwere Gefahr ausgeht – der Artikel wurde bisher vor allem für die Ausweisung von Schwerverbrechern angerufen;
weil die Massnahme unverhältnismässig ist. Es gibt mildere Mittel, um dafür zu sorgen, dass es im Sexgewerbe nicht zu einer Ausbreitung von Corona kommt. Heute schon gelten spezifische Schutzkonzepte.
Und dann machen die Rechtsanwälte auch noch darauf aufmerksam, dass es sich bei der Erteilung der Bewilligung um einen rein deklaratorischen Akt handelt. Das Recht der Europäerinnen, in der Schweiz zu leben und zu arbeiten, wird direkt aus dem Freizügigkeitsabkommen abgeleitet, nicht aus der Bewilligung des Migrationsamts.
Astrid Epiney, Professorin für Völker- und Europarecht und Rektorin an der Universität Freiburg, schliesst sich der Auffassung an, dass die Massnahme des Migrationsamts direkt diskriminierend ist, da unterschiedliche Massstäbe für In- und Ausländerinnen angewandt werden. Das Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Zürich (AWA) wiederum ändert seine langjährige Praxis nicht. Es stellt Prostituierten aus EU-/Efta-Staaten, die für höchstens 90 Tage in der Schweiz arbeiten wollen, nach wie vor ein unkompliziertes Meldeverfahren zur Verfügung. «In diesem Verfahren hat das Migrationsamt keine Zuständigkeit», schreibt AWA-Sprecherin Lucie Hribal.
Das Migrationsamt? Verweigert die Auskunft
Gerne hätte die Republik vom Zürcher Migrationsamt gewusst, wie sich der Bewilligungsstopp für Sexarbeiterinnen mit dem Freizügigkeitsabkommen vereinbaren lässt; seit wann die entsprechenden Standardbriefe verschickt werden und welche anderen Berufsgruppen vom Verbot betroffen sind.
Die Fragen werden nicht beantwortet. Tobias Christen, Sprecher des Migrationsamts, verweist auf den Regierungsratsbeschluss Nr. 928, in dem die gesuchten Antworten jedoch nicht zu finden sind. Im zweiten und letzten Satz seiner E-Mail an die Republik schreibt Christen: «Jedes Gesuch wird individuell geprüft, Betroffenen steht der übliche Rechtsmittelweg offen.»
Urs Hofmann, Aargauer SP-Regierungsrat und Präsident der Konferenz der kantonalen Polizei- und Justizdirektoren, will sich wegen der hängigen Rechtsverfahren nicht mehr zu den Massnahmen des Zürcher Migrationsamts äussern. Ende September sagte er dem «Blick», es sei ihm nicht klar, «auf welche Rechtsgrundlagen der Kanton Zürich die Verweigerung von Aufenthaltsbewilligungen für diese Ausländerkategorie abstützt». Und er verweist darauf, dass der Bund in seinen Covid-Verordnungen sämtliche Restriktionen für EU-/Efta-Angehörige aufgehoben habe.
Doch die fragwürdige Aktion des Migrationsamts ist nicht die einzige Massnahme des Kantons Zürich gegen das Sexgewerbe.
Freier sollen den Pass zücken
Der Regierungsrat hat per 1. Oktober seine kantonale Covid-19-Verordnung geändert (inzwischen ist es zu weiteren Änderungen gekommen): dannzumal mit Lockerungen für Bars, Discos und Clubs – und zusätzlichen Auflagen fürs Sexgewerbe. In den Innenräumen von Betrieben, in denen man nicht ausschliesslich sitzt, dürfen sich statt 100 neu 300 Personen aufhalten, wenn sie Schutzmasken tragen. Sexarbeiterinnen hingegen werden neuerdings via Verordnung verpflichtet, die Kontaktdaten von Kunden nicht nur zu erheben, sondern auch zu verifizieren; egal, wo sie tätig sind, ob in einem Etablissement oder auf dem Strassenstrich. Sie müssen also von den Kunden einen Pass verlangen und auf deren Handy anrufen, um sicherzustellen, dass die angegebene Nummer stimmt.
Vorläufig gelten die Neuerungen bis zum 31. Oktober. Sie können danach aber nach Gutdünken der Regierung verlängert werden.
Rechtsanwalt und SVP-Kantonsrat Valentin Landmann hat im Namen eines Bordellbetreibers gegen die Bestimmungen Beschwerde vor Verwaltungsgericht erhoben. Er beruft sich auf die Bundesverfassung und sagt, die Auflagen des Kantons Zürich verletzten die Wirtschaftsfreiheit, die Verhältnismässigkeit, den Grundsatz von Treu und Glauben sowie das Gebot der Rechtsgleichheit.
Landmann verweist auf die Schutzkonzepte fürs Sexgewerbe, die in den legalen Betrieben strikt eingehalten würden: «Mit Erfolg», wie er sagt. Und dass heute schon die Daten der Kundschaft erfasst würden. Es handle sich um eine Stigmatisierung der Prostitution: «Kein anderes Gewerbe mit engem Kontakt zur Kundschaft oder zu Patienten wird in der Verordnung erwähnt.»
Unverständnis für die Idee des Zürcher Regierungsrats äussert auch Morten Keller, Direktor der Städtischen Gesundheitsdienste Zürichs. Die neuen Auflagen, sagt Keller, seien «reichlich irritierend». Auf Verwaltungsebene seien die Massnahmen vor dem Inkrafttreten diskutiert worden. Von verschiedenster Seite habe man dem Regierungsrat mitgeteilt, dass eine Erhebung und Verifizierung der Kundendaten nicht zielführend sei. Sondern im Gegenteil eine «blauäugige und praxisferne Idee, die am Ziel vorbeischiesst». Darauf, sagt, Keller, habe man wiederholt aufmerksam gemacht.
Der Direktor der Städtischen Gesundheitsdienste ist sich bewusst, dass viele Sexarbeiterinnen nicht in der Lage sind, solche Massnahmen umzusetzen – vor allem auf dem Strassenstrich und in den Kleinbordellen. Und dass dies zu zusätzlichen Verunsicherungen, zu Druck und Stress führt. Es erhöht die Angst, gebüsst zu werden, hat aber bestimmt nicht den Effekt, dass Gesundheitskonzepte und Hygieneregeln umgesetzt werden können.
Vorfall an der Zürcher Langstrasse
Was aber soll dieser Feldzug gegen die Sexarbeit? Warum kommt er ausgerechnet jetzt? Und warum im Kanton Zürich?
Bei einem Blick ins Kantonsparlament wird vieles klar. Glasklar sogar, wenn man die von drei Kantonsrätinnen eingereichte dringliche Interpellation mit dem Titel «Corona-Schutzmassnahmen im Milieu» liest sowie deren Beantwortung durch den Regierungsrat – und wenn man sich die entsprechende parlamentarische Debatte anhört. Der Wunsch, Prostitution zu verbieten, ist omnipräsent. Oder das Gewerbe im Kanton Zürich so an die Kandare zu nehmen, dass es nicht mehr ausgeübt werden kann. Oder nur noch im Versteckten, in der gefährlichen Grauzone.
Auslöser für die Interpellation war ein Vorfall vom 30. August an der Zürcher Langstrasse. In einer Liegenschaft, in der sich im Erdgeschoss eine Kontaktbar befindet, wohnen in den höheren Etagen ausländische Prostituierte auf engstem Raum. Sie bezahlen für ihre bescheidenen Absteigen einen überrissenen Mietpreis.
An einem Sonntagnachmittag, an dem sich rund 50 Bewohnerinnen und Besucherinnen in der Liegenschaft aufhielten, rückte die Polizei an, weil ein Covid-19-Fall bekannt geworden war. Die Betroffene musste isoliert werden, die anderen Frauen wurden in die Quarantäne verbannt. Einige von ihnen wehrten sich panisch dagegen.
Die drei Kantonsrätinnen wollten daraufhin vom Zürcher Regierungsrat wissen, wie er vorgehe, damit die Schutzmassnahmen auch im Sexgewerbe eingehalten würden. Und sie fragten nach den Voraussetzungen für Bordellschliessungen. Die Regierung erwähnt in ihrer Antwort den Bewilligungsstopp des Migrationsamts und dass die Sexarbeiterinnen neu verpflichtet sind, die Kundendaten nicht nur zu erheben, sondern auch zu verifizieren.
Moralisch aufgeladene Diskussion
In der regierungsrätlichen Antwort – dem vom Migrationsamt erwähnten Beschluss Nr. 928 – ist vom «sogenannt legalen Prostitutionsgewerbe» die Rede. Missachtet der Zürcher Regierungsrat damit die seit 1942 schweizweit geltende Legalität der Prostitution? Er schreibt salopp von der illegalen Prostitution und nennt als Beispiele dafür die Kontaktbars, Absteigen und die Strassenprostitution – all dies ist jedoch vollkommen legal, solange die behördlichen Auflagen eingehalten werden. Zu guter Letzt behauptet die Regierung auch noch, ein «grosser Teil der Prostitution» würde sich in der Illegalität abspielen. Belege dafür werden keine angeführt.
Der Ball des Regierungsrats wurde in der Kantonsratsdebatte vom 28. September dankbar aufgenommen. Zahlreiche Ratsmitglieder von der GLP, der AL, den Grünen bis zur EVP und der EDU holten zu einem flammenden Plädoyer gegen die Sexarbeit aus. Sie betonten die Ausbeutung, sprachen von einem «hochkriminellen Business», einem «grausamen, menschenverachtendem System», von andauernden Missständen oder davon, dass man zwischen legaler und illegaler Prostitution gar nicht unterscheiden könne. Die wenigen Stimmen, die darauf hinwiesen, dass das Sexgewerbe kein Treiber der Pandemie sei und es doch darum gehen müsse, die Sexarbeiterinnen zu stärken, ihnen Sicherheit, Rechtsschutz und den Zugang zu den Gesundheitsdiensten zu ermöglichen, gingen kläglich unter.
Sicherheitsdirektor Mario Fehr, Chef des kantonalen Migrationsamts, bedankte sich im Rat für die Debatte. Und versicherte, der Regierungsrat werde die Bedenken ernst nehmen. Die ersten Schritte seien vollzogen. Die «hemmungslose Zuwanderung» von Prostituierten aus den EU-/Efta-Staaten werde unterbunden.
Hemmungslos ist eine passende Umschreibung dessen, was im Kanton Zürich passiert – wieder einmal auf dem Buckel der Sexarbeiterinnen.