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Amerikanisches Roulette

Führt Donald Trump die USA in die Diktatur? Und: Ist das eine Frage, die man inzwischen stellen darf, ohne sich zu blamieren?

Ein Essay von Constantin Seibt, 17.10.2020

Faschismus ist einfach kein seriöses Unternehmen.

Das ist der Grund, warum es so schwierig ist, darüber zu reden, ob eine Demokratie auf der Kippe zur Diktatur steht.

Wer das tut, kommt in das Dilemma zwischen der Angst, die Schrift an der Wand nicht zu sehen – und der Angst, sich durch Über­treibung zu blamieren.

Natürlich lässt es sich auf Nummer sicher gehen: und von der Gefahr einer Autokratie oder illiberalen Demokratie reden. Was den Vorteil hat, wissenschaftlich und nüchterner zu klingen.

Doch leider löst Nüchternheit nicht das zentrale Problem: Die Faschisten (Autokraten, illiberalen Demokraten … weiss der Teufel) führen sich regelmässig auf wie Clowns. Nicht selten sind ihre Parolen durchsichtig, ihre Parteien voller Skandale und ihre führenden Köpfe Dilettanten oder Gauner. Diese Leute soll man fürchten? Sie bringen ja nicht einmal ihre eigenen Angelegenheiten auf die Reihe.

Wieso sollte irgendein vernünftiger Mensch ihnen auf den Leim gehen? Geschweige denn: ein ganzes Land? Wozu also sich mit ihnen beschäftigen? Ein einziger Blick in ihre Gesichter genügt doch. Eigentlich sollte sie die Lächerlichkeit von allein töten.

Das zweite Problem nüchterner Analysen ist, dass die Autokraten (Faschisten, illiberalen Demokraten … weiss der Teufel) sich nicht um politologische Definitionen kümmern: Sind sie einmal an der Macht, werden sie so weit gehen, wie es ihnen passt.

Und sollte dann jemand töten, wird es nicht die Lächerlichkeit sein.

Die Schlägerei

Traditionell sind amerikanische Präsidentschafts­debatten ein steifes Ritual: Die Kandidaten tauschen von ihren Beratern zu Formeln geschliffene Formulierungen aus. Was klingt, als würden sich zwei Leute mit chinesischen Glücks­keksen bewerfen.

Doch dieses Jahr glich die Debatte zwischen Präsident Donald Trump und seinem Heraus­forderer Joe Biden einer Wirtshaus­schlägerei. Das war vor allem das Verdienst des Präsidenten, der Biden und den Moderator Chris Wallace in 90 Minuten 128 Mal unterbrach.

Das Ergebnis war Chaos: Oft war gar nichts zu verstehen. Und wenn, irrte die Debatte umher wie ein Luftheuler. Von dem über Wochen seriös vorbereiteten Fragen­katalog blieb ein abgebrannter Knallfrosch.

Zwar war Herausforderer Joe Biden nicht so harmlos, wie er aussah: Er wehrte sich meist mit einem breiten Grinsen, sorgte aber zuverlässig mit einem Spritzer Benzin für neue Explosionen: «Er lügt», «Sie sind der schlechteste Präsident, den Amerika je hatte», «dieser Clown», «shut up, man!».

In jeder bisherigen Debatte hätte das wochenlange Empörung ausgelöst – doch gegen Trumps Sperrfeuer wirkte Biden wie ein Gentleman.

Nicht zuletzt, weil er Herz bewies. Als Biden über seinen verstorbenen Sohn Beau redete, der als Soldat im Irak gedient hatte, unterbrach Trump: «Ich kenne Beau nicht. Aber ich kenne Hunter!» Worauf er Bidens zweiten Sohn (zu Unrecht) der unehrenhaften Entlassung aus der Armee beschuldigte. Wegen Kokain.

Nach einigem Hin und Her kam Biden zu Wort und sagte: «Mein Sohn Hunter hatte – wie viele – ein Drogenproblem. Er hat es unter Kontrolle gebracht. Ich bin stolz auf ihn.»

Es waren einfache, menschliche Dinge wie diese, die Biden die Debatte in allen Umfragen gewinnen liess: dass er mitten im Tumult an den zweiten, neben dem toten Helden­bruder ewig im Schatten stehenden Sohn dachte und ihm versicherte, dass er auch ihn liebt.

Doch trotz des Siegs redete danach kaum jemand von Biden. Sondern erneut über Trump, Trump und Trump. Und das mit gewissem Recht: Denn Trump hatte weniger Joe Biden angegriffen als einen weit mächtigeren Gegner: die amerikanische Demokratie.

Schon indem er sich an keine Regeln hielt: nicht an die Würde des Amtes; nicht daran, wenigstens formal auf die Fragen des Moderators einzugehen; dann, indem er die naheliegende Aufgabe ignorierte, wie alle Präsidenten vor ihm seine Amtszeit zu rechtfertigen oder Pläne für weitere vier Jahre zu skizzieren – sein Strom von Klagen und Anklagen teilte nur eins mit: dass er weder den Moderator noch den Heraus­forderer für legitimiert hielt, neben ihm zu sprechen.

Dafür bewahrte er anderen gegenüber Respekt. Der Präsident weigerte sich, die weissen Rassisten zu verurteilen. Erst auf Drängen des Moderators sagte er zu der rechts­radikalen Schläger­truppe «Proud Boys»: «Haltet euch zurück, aber haltet euch bereit!» Denn irgend­jemand müsse ja Antifa und Linke bekämpfen.

Auf die Frage, ob er nach einer Niederlage friedlich abtreten würde, gab er erneut die Antwort: Er werde erst sehen müssen; die Wahlen seien «eine Schande», «der grösste Betrug der amerikanischen Geschichte». Dann rief er seine Anhänger auf, als seine Armee die Wahlbüros zu überwachen.

Das war der Moment, wo einer Menge Leute schlecht wurde.

Roter Nebel, blauer Wind

Dabei war der Präsident in dieser Frage von Anfang an immer sehr klar: Er würde nie zugeben, verloren zu haben.

Meist sagte er es mit einem Witz. Etwa an einer Wahlrede in Delaware. «Natürlich werde ich das Wahl­resultat akzeptieren», sagte er. Und dann nach einer Pause: «Wenn! Ich! Gewinne!»

Nur: Was bedeutet das konkret?

Die Republikanische Partei hat eine lange Tradition, Wählerinnen von der Urne fernzuhalten. Seit sie in den Sechziger­jahren zur Partei der Weissen wurde, hat sie dafür ein klares Ziel: schwarze Wähler.

Die Methoden dazu sind über die Jahre immer erfindungs­reicher geworden: Ehemaligen Häftlingen (5,2 Millionen Menschen) wurde das Wahlrecht entzogen, Leute mit verdächtigen Nachnamen verschwanden aus den Wahllisten, in ärmeren Quartieren wurden die Wahl­lokale ausgedünnt, Ausweise wurden verlangt, Polizisten kontrollierten am Wahltag etc.

Im Internet sicherte sich die Trump-Kampagne 2016 die Dienste der Politik-PR-Firma Cambridge Analytica. Diese schaltete in den Swing-Staaten gezielt bei Schwarzen Facebook-Anzeigen gegen Hillary Clinton. Um sie von der Urne fernzuhalten.

Niemand weiss, wie entscheidend der Trick war: Fest steht nur, dass die schwarze Wahl­beteiligung zum ersten Mal seit 20 Jahren sank. Wären in den nördlichen Industrie­staaten ein paar tausend mehr zur Urne gegangen: Hillary Clinton wäre heute Präsidentin.

Doch das ist nichts gegen das, was dieses Jahr möglich ist.

Denn etwas ist neu. Durch die Pandemie können die Republikaner zum ersten Mal in grossem Stil bei den weissen Wählern identifizieren, welche Stimmen eher von den Demokraten und welche von den Republikanerinnen abgegeben wurden. Denn die Demokraten stimmen in ihrer grossen Mehrheit nämlich per Brief ab. Während die meisten Republikaner am Wahltag an die Urne gehen.

Superspreader-Event: Wahlveranstaltung von Donald Trump am 14. Oktober in Des Moines, Iowa. Doug Mills/The New York Times

Nicht zuletzt weil Präsident Trump seit Monaten gegen die Briefwahl Propaganda macht: Sie sei unsicher, manipulierbar, ein einziger Betrug.

In den letzten Monaten hat die Trump-Kampagne eine Armee von konservativen Anwälten versammelt – um die Zählung der Brief­stimmen zu verzögern. Und möglichst grosse Pakete davon für ungültig zu erklären: etwa, weil jemand seinen Namen mit Ben statt Benjamin angegeben hat. Oder aus hundert anderen bürokratischen Gründen.

Die Strategie der Trump-Kampagne: die Auszählung so schnell wie möglich zu stoppen. Der Grund dafür nennt sich die «rote (republikanische) Nebelwand» und der «blaue (demokratische) Wind»: Schon vor der Pandemie stimmten mehr Demokraten brieflich ab, wodurch am Wahlabend die Republikaner oft gut dastanden, aber mit jedem Tag der Auszählung an Stimmen verloren.

So werteten Politik und Presse am Abend der Kongress­wahlen 2018 das Abschneiden der Demokraten als Enttäuschung. Erst in den Tagen danach stellte sich heraus: Ihnen war ein Erdrutsch­sieg gelungen.

Dieses Mal wird der Effekt monströs: Sogar bei einem klaren Sieg der Demokraten wird das Bild in den meisten entscheidenden Swing-Staaten am Wahlabend rot sein. Und erst in den Tagen (oder Wochen) danach die Farbe wechseln.

Kein Wunder, twittert Trump seit Anfang Jahr gegen die Briefwahl.

Bombe im Gebälk

Doch das ist erst der Anfang.

Die amerikanische Demokratie ist eine der ältesten der Welt, die Verfassung entsprechend ehrwürdig. Und voller Löcher.

Gewählt wird am 3. November. In fast allen Bundes­staaten nach dem Winner takes all-Prinzip: Die siegreiche Partei kann die Wahlmänner oder -frauen ernennen, die über den neuen Präsidenten abstimmen.

Die Deadline zur Bestimmung dieser Delegation ist der 8. Dezember, etwas mehr als einen Monat nach der Wahl. Und der neue Präsident beginnt seine Amtszeit am 20. Januar. Nur leider sind die drei Daten das Einzige, was klar in der Verfassung steht.

Der Rest ist vage. Es ist nicht einmal festgelegt, dass eine Volks­wahl nötig ist – laut Verfassung kann der Bundes­staat nach eigenem Gutdünken Wahlleute stellen.

Sollte nun jemand den Prozess sabotieren und ein wildes Hickhack um die Auszählung samt gerichtlichen Schlachten beginnen, ist es durchaus möglich, dass am Schluss der Staat den Gewinner ernennt.

In dem bei einer knappen Wahl wahrscheinlich entscheidenden Industrie­staat Pennsylvania hat die Trump-Kampagne bereits mit den örtlichen Republikanern nachweislich über diese Möglichkeit gesprochen.

Sollte dieses Spiel in mehreren Swing-Staaten gespielt werden, hätten die Republikaner massive Vorteile: In den entscheidenden Staaten Florida, Arizona, Michigan, North Carolina, Wisconsin und Pennsylvania stellen sie die Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments. Und haben fast überall die staatlichen Gerichte mit treuen Republikanern gefüllt.

Allerdings haben die letztgenannten vier Staaten demokratische Gouverneurinnen. Dazu ist unklar, was die Wahlbehörde und die Gerichte genau zu sagen haben. Es könnte in diesem Fall gut sein, dass von verschiedenen Absendern zwei konkurrierende Delegationen ernannt werden.

Welche zählt dann? Hier ist die Lage ebenso unklar: Die Verfassung lässt ebenso die Inter­pretation zu, dass Trumps Vizepräsident Mike Pence die Entscheidung trifft – oder dass der von den Demokraten dominierte Kongress dafür zuständig ist.

Nicht ausgeschlossen, dass bei der Amts­einführung am 20. Januar zwei Kandidaten auftauchen, um den Eid zu leisten. (Oder sogar drei. Weil statt ihnen eine Frau Präsidentin würde: die Sprecherin des Kongresses, Nancy Pelosi, eine Demokratin.)

Was in diesem Fall zu tun wäre, können nicht einmal Verfassungs­rechtler sagen. Ohne Schiedsrichter wäre die Entscheidung eher eine der Macht als eine des Gesetzes. Das klassische Szenario für einen Putsch. Oder einen Bürgerkrieg.

Kurz: Die Väter der Verfassung haben hier eine Bombe ins Gebälk gebaut. Im Grunde genügt, dass ein Präsident und seine Partei sich nicht an die ungeschriebenen Regeln halten, um die Vereinigten Staaten in die Luft zu jagen.

Wirklichkeit? Unwirklichkeit

Wie realistisch ist dieses Szenario?

Zwar haben Juristinnen und Journalisten darüber geschrieben, sogar das FBI hat schon Szenarien durch­gespielt, doch unter dem Strich bleibt das Gefühl der Unwirklichkeit.

So schrieb etwa die ehemalige Staats­anwältin Barbara McQuade in einem Artikel: «Dass ein Präsident das Wahlergebnis nicht anerkennen würde, erschien lange als undenkbar; heute allerdings, auch wenn es nicht wirklich eine realistische Möglichkeit ist, scherzen die Trump-Anhänger zumindest darüber.»

Dabei ist es fast hundertprozentig sicher, dass das Undenkbare passiert. Aus drei Gründen.

  1. Der Präsident ist, wer er ist. Er hat bisher noch nie eine Niederlage zugegeben.

  2. Der Präsident kämpft nicht nur um sein Amt, sondern auch um sein Leben. Nach dem Amtsende drohen ihm Dutzende Gerichts­verfahren. Und der Bankrott. (Die «New York Times» enthüllte, dass Trump in den nächsten drei Jahren Schulden von mehr als 420 Millionen Dollar zurück­zahlen muss.)

  3. Der Präsident hat es mehrfach angekündigt.

Kurz: Alle sind informiert, aber es fällt trotzdem schwer, daran zu glauben.

Genau das macht Demokratien so anfällig auf Faschisten, Autokraten (oder was immer). Es ist nur schwer möglich, mit Leuten umzugehen, die sich an keine Regeln halten.

Selbst wenn von Anfang an ganz offen deklariert wird, was gespielt werden wird.

Spiel ohne Regeln

Die drei schärfsten Waffen für Politiker, wenn die Regeln nicht anerkannt werden, sind Missbrauch, Ethik und Humor.

1. Missbrauch

Trump, wie Lili Loofbourow in «Slate» schrieb, entfesselte in der Präsidentschafts­debatte dieselbe Dynamik wie ein Missbrauch-Vater an einem Familienfest. Ungewohnt, überhaupt Widerspruch zu hören, tobte er durch den Abend. So, dass der Moderator Wallace zumindest am Anfang in die Rolle der vermittelnden Tante fiel. Und Trump halb wie ein Kleinkind, halb wie einen König zu begütigen versuchte: «Die nächste Frage wird Ihnen gefallen, Sir!»

Das Schreckliche bei Missbrauch-Eltern ist die Willkür. Nichts gilt. Vater oder Mutter ändern Behauptungen und Prinzipien nach Belieben, strafen aber sofort nach den neuen Regeln. Sie haben die Macht zu tun, was sie wollen.

Joe Biden gewann die Debatte nach anfänglichem Zögern, weil er der Willkür nicht wich – denn das Einzige, was man gegen einen bully tun kann, ist zurück­zuschreien. Für die Debatte selbst war das fürchterlich, für die Seele der Zuschauer war es richtig.

2. Ethik

Nirgendwo ausserhalb von Strafanstalten haben bullies ein so leichtes Leben wie in der Politik. Schon weil es in der politischen Auseinander­setzung nicht darum geht, recht zu haben. Sondern darum, recht zu behalten.

Das Verblüffende ist, dass bullies mit Vorliebe Debatten darauf lenken, was auf den ersten Blick ihre Schwach­stelle ist: Ethik und Korruption. Doch ihr Instinkt trügt sie nicht. Sie können bei diesem Thema nur gewinnen: als Täter wie als Opfer.

Denn das Argument der bullies ist nie, ein freundlicher, liebenswerter, konstruktiver Mensch zu sein. Sondern ein ehrlicher. Und deshalb besser als alle Weichlinge. Weil diese genau so egoistisch und korrupt sind. Nur eben schwächer. Und deswegen Heuchler.

Deshalb geht auch jede Rüpelei zu ihren Gunsten aus: Schaffen sie es, dass ein Angegriffener sich beklagt, dann sind das weinende Schwächlinge.

Bekommen sie für ihre Verfehlungen eins auf den Deckel, ist das unfair, undemokratisch, eine Verletzung der Meinungs­freiheit und eine Attacke auf ihre Wähler.

Deshalb kultivieren Trump und Co. auch die widersprüchliche Doppelnatur bully und Baby. Denn sobald sie es schaffen, dass es um sie und ihr Verhalten geht, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Kopf – ich gewinne, Zahl – du verlierst.

3. Humor

Die vielleicht grösste Innovation im Rechts­radikalismus ist Humor. Die Alt-Right im Netz hat dazugelernt: weniger Ideologie, mehr Ironie. «Wenn du rassistisch werden willst», rät etwa das Handbuch des Neonazi-Magazins «Daily Stormer», «sollte es halb als Witz herüber­kommen.» So, dass man jederzeit die Humor­losigkeit der anderen anklagen kann: Wer etwa das Bild eines Flüchtlings­schiffs mit der Zeile «Die Fachkräfte kommen!» ernst nimmt, ein Meme des Frosches Pepe mit Maschinen­gewehr, eine Drohung mit Smiley – der hat den Witz nicht verstanden.

Trumps Tweets funktionieren gleich: Je nachdem, was passiert, sind sie offizielle Regierungs­anweisungen oder nur Trumps unorthodoxe Kommunikation.

Wer will auch so politisch korrekt sein, die ganze Flut seiner Tweets ernst zu nehmen? Wenn Herr Trump etwa darüber schreibt, dass sein Vorgänger im Amt, dessen Vize, seine Ex-Präsidentschafts­konkurrentin gegen ihn konspirierten, EINEN VERRÄTERISCHEN PLAN VERFOLGTEN, und verhaftet werden sollten?

Die heutigen Rechts­radikalen bauen den Witz bereits ins Design der Organisation ein. Die für den Bürger­krieg trainierende Truppe «Boogaloo» benennt sich nach einem drittklassigen Tanzfilm aus den Achtzigern («Electric Boogaloo») und trägt neben dem AK-47-Sturm­gewehr ein Hawaii­hemd – wer kann sie ganz ernst nehmen?

Die «Proud Boys», denen Trump «Haltet euch bereit!» zurief, tragen Hipsterbärte und -brillen, Fred-Perry-Shirts, lassen auch farbige Jungs mitmachen. Solange diese den Eid schwören: «Ich bin ein westlicher Chauvinist und entschuldige mich nicht für die Schaffung der modernen Welt!»

Der lockere Name, der lockere Ton ist auch kein Zufall. Ihr Mitbegründer, der Journalist Gavin McInnes, erklärte ihn gut gelaunt in einem Radiointerview so: «Wir werden euch töten. Das sind Proud Boys in einem Satz. Wir sehen nett aus, wir nennen uns ‹Boys› – aber wir werden euch ermorden!»

Dagegen wirken die Nazis fast sympathisch, weil sie sich selbst immerhin noch ernst nahmen. Aber vielleicht waren sie nur: deutsch. Und dasselbe klappte trotzdem: Bis zu seiner Macht­übernahme hielten viele Hitler für lächerlich, zähmbar und seinen Plan, die Juden vom Erdboden zu vertilgen, für reines Theater.

Er hält sich allzeit bereit: Ein Mitglied der rechtsextremen «Proud Boys» macht das Handzeichen für «White Power». John Lamparski/SOPA Images/LightRocket via Getty Images
Im Sinne der Verfassung: Die ersten drei Worte der Präambel («We the People») als Tattoo, und dann zur Kundgebung in Harrisburg, Pennsylvania, gegen Corona-Restriktionen (20. April). Mark Peterson/Redux/laif

In den USA hat die Verbindung von Scherz und Mord dagegen Tradition: Schon der Ku-Klux-Klan gab sich bewusst einen lächerlichen Namen und behauptete offensichtlichen Unfug, etwa dass seine Männer vom Mond kämen, damit ihre Opfer es schwerer hatten, die Bedrohung sich oder anderen Leuten klarzumachen.

Wer sich beklagte, gelyncht zu werden, hatte den Scherz nicht verstanden.

Letzte Woche flog in Michigan eine bis dahin völlig unbekannte Guerilla auf, die plante, die demokratische Gouverneurin Gretchen Whitmer zu entführen und ihr den Prozess zu machen – mit dem Vorwurf von Tyrannei während des Corona-Lockdowns. Und sie am Ende zum Tode zu verurteilen.

In von der Gruppe veröffentlichten Videos trug einer der Freiheitskämpfer ein fröhliches Hawaiihemd.

Der Kult

Wer hofft, dass Lächerlichkeit Faschisten (Rechts­radikalen, Autokraten) schadet, hofft vergeblich. So bilden sie die Schleim­schicht zu ihrem Schutz.

Einerseits, weil Gegenwehr am Unernst leichter abglitscht. Andererseits, weil die Beschäftigung mit ihnen so noch ekelhafter wird.

Faschismus war schon immer eine ziemlich unordentliche Ideologie: Wie Umberto Eco schrieb, besteht er mehr aus einer losen Sammlung von Versatz­stücken: der Führerkult, die Beschwörung eines mythischen Gestern, Hass auf die Moderne, Verachtung der Schwäche – und so weiter.

Was im Faschismus nie fehlt, ist der Lebenskampf. Denn für Faschisten besteht das Leben nur aus einem: wir oder sie. Ob unter Menschen oder Völkern: Nur der Starke siegt, nur der Sieg beweist Stärke.

Es gibt keine bequeme Variante des Faschismus. Im Kern ist er ein Todeskult. Erst einmal muss alles an Dreck gesäubert, an Schwäche durch­geseucht, an Zivilisation nieder­gebrannt werden, bevor man eines Tages das Neue aufbaut. Doch der Tag kommt nie: Die Zerstörung ist das Versprechen. Und der Tod für alle: den Starken der Heldentod, den Schwachen der Hygienetod, damit, unbelastet von ihnen, das Starke und Gesunde sich in gereinigter Luft entfalten kann.

Kein Wunder, elektrisierte die Pandemie die radikale wie die esoterische Rechte. Sie mussten sich plötzlich nicht mehr als Paranoide fühlen. Denn durch Lockdown und Masken war ihr Albtraum endlich greifbar geworden. Und dadurch angreifbar: die Regierungs­verschwörung zum Schutz der Schwachen auf Kosten der Starken.

Während die «Durchseuchung» genau der Traum war, den Rechts­radikale schon immer geträumt hatten. Eine natürliche Auslese, für ein gesundes Volk. Mit Herden­immunität!

Kein Wunder, drehten eine Menge Leute durch. Ergraute Herren verlangten in der NZZ, den Heldentod für die Wirtschaft zu sterben. Ein veganer Kochbuchautor forderte die Verhaftung der deutschen Regierung und seine Regentschaft als Reichskanzler. Und rechts­nationale Staats­oberhäupter dachten keinen Moment daran, autoritäre Massnahmen zu ergreifen, sondern liessen das Virus laufen.

Für einen Todeskult ist Donald Trump tatsächlich ein Jahrhunderttalent.

Alles, was Trump berührt, stirbt

Vor kurzem veröffentlichte die «New York Times» die Extrakte aus 15 Jahren von Trumps Steuer­erklärungen. Es verwundert nicht, hatte Trump quer durch alle Gerichte gekämpft, sie geheim zu halten. Die beiden verheerendsten Zahlen waren:

  • 750 Dollar – die Einkommens­steuer, die Trump im Wahljahr 2016 und in seinem ersten Jahr als amerikanischer Präsident bezahlt hatte.

  • 420 Millionen Dollar – Trumps persönlich zurück­zuzahlende Schulden in den nächsten drei Jahren.

Doch das Faszinierendste war, dass Trump in den letzten 15 Jahren mit zwei Dingen wirklich Geld gemacht hatte: mit seiner Gewinn­beteiligung als Haupt­darsteller der Realityshow «The Apprentice». Sowie mit Franchising – dem Verkauf der Marke «Trump» an Dritte.

Was heisst: Als Selfmade-Milliardärs­darsteller war Trump tatsächlich unglaublich erfolgreich. Als Milliardär hingegen eine Katastrophe.

In der Tat hat Trump etwas von König Midas – nur dass alles, was er berührt, verschrumpelt. Nichts, was er persönlich anpackte, überstand das. Niemand in Trumps Nähe überlebte mit intakter Reputation.

Die Architekten seines überraschenden Wahlsieges 2016 landeten fast ausnahmslos im Gefängnis: sein Anwalt, zwei seiner drei Wahlkampf­manager, mehrere inoffizielle Berater, sein Sicherheits­berater – diesen Herbst erwischte es seinen Digital­strategen, der nach Selbstmord­drohungen halbnackt vorübergehend in der Psychiatrie landete. Und letzte Woche einen Top-Fundraiser. Weil er Schwarzgeld aus Malaysia in Trumps Kampagne gepumpt hatte.

Dutzende Minister wurden entlassen, wie der Aussenminister Rex Tillerson per Tweet; zu Witzfiguren (etwa sein erster Sprecher Sean Spicer); fast alle verhedderten sich in Korruptions­skandale (einige gingen, andere blieben); andere mussten der Vernichtung ihres Lebens­werks zusehen, so wie der 87-jährige Senator Chuck Grassley, der eine Karriere lang gegen Regierungs­korruption gekämpft hatte – bis Trump diesen Frühling die wichtigsten Kontrolleure feuerte.

(Der Senator reagierte mit einem besorgten Brief.)

Wütende Feinde wie Trumps Vorwahl­gegner Ted Cruz verwandelten sich in wütende Verteidiger des Präsidenten. Obwohl sich Trump öffentlich über das Aussehen von Cruz’ Frau Heidi lustig machte und behauptete, Cruz’ Vater sei in die Ermordung Kennedys verwickelt gewesen.

Der erfahrene General James Mattis ging für Wochen in einer Kapelle nahe dem Weissen Haus beten, als Trump einen Twitterkrieg mit Nordkorea in die Nähe des Atomkriegs getrieben hatte. Und trat als Verteidigungs­minister zurück, weil Trump nach einem Telefonat mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan mit einem Feder­strich die US-Armee aus Syrien abzog – und die den USA treu verbündeten Kurden an die Russen und Türken auslieferte. (Der später zurück­getretene Sicherheits­berater John Bolton vermutete als Motiv geschäftliche Interessen Trumps in der Türkei.)

Justizminister Barr beendete die jahrzehntelange politische Neutralität des Justizministeriums: Er verfälschte die Russland-Untersuchung, feuerte Staatsanwälte, die gegen Trumps Firmen ermittelten, leitete Unter­suchungen gegen Trumps Gegner ein und erklärte die Verteidigung von Präsident Trump in einer Vergewaltigungs­klage für eine Sache des Staates.

Schliesslich erwischte Trumps tödliches Genie auch die boomende Wirtschaft, die er als Präsident geerbt hatte. Sie stürzte nach Ausbruch der Corona-Epidemie in die tiefste Krise seit der Grossen Depression in den 1930er-Jahren.

Den Amerikanerinnen selbst ging es nicht besser. Unter Trumps Regierung wurden sie in der Pandemie zum Land Nummer eins bei den Todeszahlen. Mit wenig Aussicht auf Besserung. Trumps Experte Dr. Fauci warnte vor wenigen Wochen, dass sich ohne energische Massnahmen die Zahl von unterdessen über 200’000 Toten verdoppeln könnte.

Trumps engster Zirkel blieb auch nicht ungeschoren: Die Feier zur Nominierung der ultra­konservativen Bundes­richterin Amy Coney Barrett wurde zum Superspreader-Event und verwandelte das Weisse Haus in ein Seuchennest.

Doch die wirkliche Infektion geschah viel früher. Die Inkubations­zeit betrug ein Vierteljahrhundert.

Die republikanische Evolution

Der Mann, der Trump möglich machte, war ein ehrgeiziger, wütender Geschichts­professor aus Georgia: der Abgeordnete Newt Gingrich, der es in den Neunziger­jahren satthatte, dass die Republikaner jedes Mal die Kongress­wahlen verloren.

Er entwarf eine neue Strategie: erzkonservativ, Budget­streichungen, Steuer­senkungen. Keine Abweichungen mehr, keine Kompromisse mit dem demokratischen Präsidenten Bill Clinton. Gingrich nannte sein Buch «To Renew America», es galt vielen als «amerikanische Revolution».

Kurz: alles oder nichts. Die ganze Macht oder die totale Opposition.

Die Nummer eins: Aus den Boxen dröhnte «Eye of the Tiger», als Trump mit der Air Force One zum Rednerpult in Des Moines rollte. Doug Mills/NYT/Redux/laif

Die entscheidenden Konvertiten waren zwei Milliardäre – die Gebrüder Koch aus der Ölindustrie. Sie sorgten für die Kriegskasse. Hielt sich ein Republikaner im Kongress nicht an die Disziplin, wartete an den nächsten Vorwahlen ein linien­treuer Konkurrent – mit fantastischem Propaganda­budget.

1994 eroberten die Republikaner die Mehrheit im Kongress, Gingrich wurde ihr Sprecher, seine Revolution Parteidoktrin.

Gingrich flog zwar nach einem Sexskandal schnell aus dem Amt. Aber kaum jemand veränderte die amerikanische Politik wie er. Das, weil er nicht eine Revolution gestartet hatte, sondern etwas viel Wirkungs­volleres: eine Evolution.

Denn seither züchteten die Republikaner in Serie einen Typ Politiker heran, der in der freien Wildbahn sonst nur als Hinter­bänkler vorkommt: den Fanatiker-Funktionär. Wer die nächste Wahl überleben wollte, tat gut daran, sich so weit rechts wie möglich zu positionieren. Und wer einen Abgeordneten ablösen wollte, hatte nur eine realistische Chance: noch weiter rechts, noch kompromissloser, noch linientreuer.

(So, dass heute kaum noch Raum nach rechts bleibt: Dieses Jahr rühmte sich die Senatorin Kelly Loeffler im wahrscheinlich absurdesten Video dieses Wahlkampfs, «konservativer als Attila der Hunne» zu sein.)

Im Grunde lief der Prozess vollautomatisch:

  1. Die Politiker der Republikanischen Partei hörten auf, im Hauptberuf Politiker zu sein. (Mehrheiten auszuhandeln, Koalitionen zu schmieden, Kompromisse zu finden.) Sie wurden Politikdarsteller.

  2. Nicht zuletzt wurden sie aus ihrer lokalen Verankerung gerissen. Denn entscheidend für ihr Überleben waren nicht mehr die Interessen ihrer Wählerinnen, sondern das Befolgen der Parteilinie.

  3. Die wichtigste Ressource für Politik­darsteller sind: Bühnen. Die Macht verlagerte sich vom Parlament weg hin zu den Talk-Radios und TV-Stationen. Allen voran Fox News.

  4. Die Parteilinie bestimmten die grossen Geldgeber: Steuersenkungen, Budget- und Regulations­streichungen wurden zum einzigen wirklich zentralen Anliegen der Republikanischen Partei.

  5. Da die ernsthaften Felder der Politik (die alle mit der Verteilung von Geld zu tun haben) für Republikanische Politiker nicht mehr betretbar waren, blieb zur Profilierung nur noch das Tingeltangel übrig: der Kulturkampf. (Kein Wunder, sind in den USA konservative Medien und Politiker oft über Wochen auf abseitige Themen fixiert: etwa den angeblichen «Krieg zur Abschaffung von Weihnachten».)

  6. Wobei Augenmass auch in Neben­sachen alles andere als gefragt war. Im Zweifel galt: je verrückter, desto republikanischer.

  7. Die Republikanische Partei füllte sich systematisch mit immer radikaler auftretenden Opportunisten. Deren Job immer weniger die Politik, sondern deren Verkauf im Fernsehen war.

Anders ausgedrückt: Die Republikanische Partei verwandelte sich in Reality-TV. Kein Wunder, fühlte sich Donald Trump im Vorwahl­kampf der Partei von Anfang an zu Hause. Er traf auf lauter Kollegen.

Das Söldner-Paradox

Noch immer erscheinen in den USA schockierte Artikel: Wie konnte es sein, dass ein partei­fremder Barbar wie Donald Trump in wenigen Monaten die kampf­gestählten, prinzipien­festen, erprobt biestigen konservativen Parlamentarier unterwarf? Fast ohne Widerstand und Ausnahme?

Und das, obwohl er beinahe alle persönlich beleidigte? Und dazu konservative Prinzipen in Serie über Bord kippte: den Freihandel, die aktive Aussen­politik, die harte Linie gegen Russland, die Verehrung des Militärs, die Reduktion des Defizits?

Die Antwort war: Die republikanischen Abgeordneten waren längst komplett ersetzt worden: durch Schauspieler, die biestige, prinzipien­feste konservative Politiker spielten.

Kein Wunder, gelang in der Ära Trump nur ein einziges komplexeres gesetz­geberisches Projekt: ein 1,5-Billionen-Dollar-Steuerpaket, das mitten in den Boom ein gigantisches Defizit riss und ohne sonstige Wirkung auf den Konten der Gross­konzerne und Ultra­reichen versickerte.

In der Tat sassen die republikanischen Prominenten, die ins Anti-Trump-Lager wechselten, alle nicht im Parlament.

Sie waren zum einen Staatsdiener: Nie sahen die USA eine derartige Welle an Kündigungen von Diplomatinnen, Ärzten, Taskforce-Expertinnen, Geheimdienst­leuten, Ministern, Beamtinnen und Generälen. Die danach – ganz gegen die Tradition – vor der Regierung warnten, der sie zuvor gedient hatten.

Die anderen waren die Söldner: Einige der gerissensten konservativen PR-Leute, Spin-Doktoren und Wahlkampf­chefs verliessen die Republikanische Partei. Und nahmen den Kampf gegen sie auf. Sie fingen an, mit allem, was sie an Tricks gelernt hatten, für etwas zu kämpfen, was sie noch nie in ihrem Leben getan hatten: für die Wahl der Demokratischen Partei und ihres Kandidaten Joe Biden.

Kurz: Die Beamten, die Spieler und die Zyniker bewiesen mehr Prinzipien­treue als die Politiker, die ein Leben lang über wenig anderes geredet hatten.

Eine revolutionäre Kraft

Das Problem, wenn eine Ordnung lange stabil ist – schrieb der spätere amerikanische Aussen­minister Henry Kissinger in einer Studie zur Französischen Revolution – ist, dass es etablierte Akteure fast unmöglich ernst nehmen können, wenn eine revolutionäre Kraft erklärt, dass sie vorhat, das herrschende System in die Luft zu jagen.

Die Vertreter des Status quo tendieren dazu, solche Erklärungen als taktisches Spiel zu begreifen; als Ausgangs­punkt für Verhandlungen, zwecks punktueller Veränderung. Wer vor einem Umsturz warnt, gilt als Alarmist, wer das Ganze als Theater sieht, als besonnener Kopf.

Aber, so Kissinger, die zentrale Eigenschaft einer revolutionären Kraft ist, dass sie die gültigen Regeln nicht anerkennt. Sondern den Mut und die Überzeugung hat, ihre eigenen Prinzipien bis zur letzten Konsequenz durchzusetzen.

Der Mann, der Kissingers Essay ausgrub, war der spätere Wirtschafts­nobelpreisträger Paul Krugman. Er zitierte ihn im Vorwort seines Buchs, das die These vertritt, dass eine solche revolutionäre Kraft bereits das Weisse Haus übernommen hat.

Es ist eine Regierung, die von einer Minderheit gewählt wurde, aber trotzdem eine radikale Agenda durchzieht. Sie höhlt systematisch den Wohlfahrts­staat aus, bevorzugt Konzerne, Banken und Super­reiche, sortiert korrupte Minister nicht aus, schleift Regulierungen für die Umwelt und die Finanzbranche – und lügt systematisch zur Durchsetzung ihrer Pläne. So systematisch, dass sie zusammen mit regierungs­nahen Medien eine zweite Realität aufgebaut hat.

Krugman schrieb das nicht über Trump. Sondern schon 2004 in der oben erwähnten Kolumnen­sammlung «The Great Unraveling» über die Regierung von George W. Bush.

Der Krieg gegen den Irak etwa war seit Jahren auf der Agenda radikaler Republikaner. Nach 9/11 versuchten Bushs Leute, ihn als Krieg gegen die al-Qaida zu verkaufen. Als die Geheim­dienste trotz monate­langer Recherchen keine Verbindungen fanden, änderte Bush den Kriegs­grund in die Bekämpfung des irakischen Atom­programms. Das es aber nicht gab. Worauf die Regierung sich auf chemische Massen­vernichtungs­waffen konzentrierte.

Auch die wurden nicht gefunden. Aber erst, nachdem die amerikanische Armee längst einmarschiert war.

Ähnlich trieb die Regierung Bush Steuer­senkungen voran. Zunächst, als die Konjunktur noch brummte, mit der Begründung, Überschüsse abzubauen. Dann, nach dem Börsencrash 2001, als Konjunktur­spritze. Dann, als Studien ergaben, dass das nicht funktionierte, als «langfristige Konjunktur­massnahme». Und schliesslich, nach dem Einmarsch im Irak, mit dem Argument: «Nichts ist in einem Krieg wichtiger als Steuersenkungen.»

Kurz, die Regierung setzte auf Pfusch: Bei der Invasion im Irak etwa gab es keinen Plan für die Zeit nach dem Sieg. Man erwartete, von den Befreiten mit Blumen beworfen zu werden. Stattdessen hingen die USA als Besatzungs­macht im Land fest.

Und die Freiheit für Kapital­gewinne, die Börse und Finanz­institute führte direkt zum verheerendsten Bankencrash seit 1929.

Als George Bush nach zwei Amtszeiten abtrat, hielten ihn viele für den schlechtesten Präsidenten aller Zeiten.

Heute kämpfen mehrere Mitglieder seiner Regierung gegen den Verfall der Sitten unter Donald Trump.

Sparsame Zerstörung

Die grosse Innovation von Donald Trump war: Effizienz.

Die Regierung von George W. Bush war voll mit Ideologen. Und log daher mit fast respekt­vollem Aufwand: mit frisierten Studien, Statistiken, Beweisen. Und scheute nicht den Ärger, ein Land wie den Irak zu erobern, um einen Sieg zu feiern: mission accomplished.

Donald Trump erledigte Derartiges täglich mehrmals: Seine Klagen und Anklagen kamen völlig ohne Beweise aus. Seine Sieges­nachrichten ohne Siege.

Und seine Ankündigungen im Guten und im Bösen – egal, ob es sich um landesweite Razzien gegen Illegale, ein Rekord­wirtschafts­wachstum, einen Scheck an Veteranen, die neue Gesundheits­reform oder den Corona-Impfstoff handelte – blieben so gut wie alle folgenlos.

Was die Sabotage von Umwelt, Staat und inter­nationalen Allianzen betraf, zeigte sich, dass die Mischung von Böswilligkeit und Dummheit weit effizienter war als jede Intrige. Trump besetzte Behörden wie Energie, Bildung, Umwelt schlicht mit Ministern, die sich zuvor dafür ausgesprochen hatten, sie abzuschaffen. Oder liess die Sessel ganz frei.

Der politische Ertrag war für Bush wie Trump ähnlich: Begeisterung an der Basis. Steuer­milliarden für Gross­spender. Die Zerstörung dessen, was vom Sozialstaat des Amerikas im New Deal noch übrig war.

Nur dass Trump sein Werk quasi in der Pinkel­pause erledigte – den zeitlich und für ihn persönlich bedeutendsten Teil seiner Präsidentschaft verbrachte er mit Polit-Talkshows im Kabelfernsehen.

Nicht zuletzt bewunderten seine Anhänger seine Energie. Doch bei genauerem Hinsehen beeindruckt eher seine Sparsamkeit. Trump versuchte nie, etwas Neues zu tun oder zu lernen. Der Charakter eines verbitterten Dreijährigen genügt, um täglich mit einem Regel­bruch in die Welt­nachrichten zu kommen.

Trump im Rücken: Eine Kundgebung im New Yorker Stadtteil Staten Island. Kurz zuvor war bekannt geworden, dass der Präsident vom Virus infiziert ist (3. Oktober). Mark Peterson/Redux/laif

Wie effizient Trumps Stil ist, zeigt sein neuartiger Umgang mit Skandalen. Die Bush-Regierung hatte noch scharf und koordiniert auf jede Kritik geschossen. Trump hingegen begrub seine Leichen einfach unter neuen Leichen: Das Chaos beseitigte selbst massive Skandale.

Nur schon die letzten drei Wochen sind atemberaubend:

  • Trumps Anwalt und Mann fürs Schmutzige, Michael Cohen, bringt seine Memoiren heraus: mit den Details, wie Trump etwa im Wahl­kampf einem Pornostar Schweige­geld bezahlte.

  • Der Rechercheur Bob Woodward veröffentlicht sein Enthüllungsbuch, das beweist, dass Präsident Trump schon Ende Januar über die Tödlichkeit des Corona-Virus Bescheid wusste.

  • Die liberale Bundes­richterin Ruth Bader Ginsburg stirbt. Noch am gleichen Tag verkünden die Republikaner, ihren Posten mit einer konservativen Nachfolgerin zu besetzen. Obwohl sie vier Jahre zuvor Präsident Obama die Nomination eines Richters mit der Begründung verweigert hatten, im Wahljahr gebühre diese Entscheidung dem nächsten Präsidenten. Damit das amerikanische Volk mitbestimmen könne.

  • Die Enthüllungen der «New York Times» über Trumps Schulden von 420 Millionen Dollar – ein massives Erpressungs­potenzial.

  • Trumps Drohung in der Präsidentschafts­debatte, die Wahl nicht anzuerkennen.

  • Trump gibt bekannt, dass er sich mit dem Coronavirus infiziert hat. Und mit ihm sein engster Stab: seine Frau, sein Sohn, sein Kampagnen­manager, seine Sprecherin, zwei Senatoren, mehrere Top-Berater.

  • Präsident Trump fliegt im Marine-One-Hubschrauber ins Walter-Reed-Militär­krankenhaus.

Patriotische Petrischale

Die Corona-Infektion war vielleicht die letzte Chance, seiner Präsidentschaft vor den Wahlen einen neuen Drall zu geben.

Tatsächlich schaffte er es, 24 Stunden alle zu verwirren. Man las plötzlich keine Zeile mehr von ihm. Dann erschien der vielleicht unerklärlichste Tweet seiner Präsidentschaft:

«Going welI, I think! Thank you to all. LOVE!!!»

Später erschien ein Video, in dem Trump bleich und ohne Krawatte erklärte, er habe enorm viel über das Coronavirus gelernt.

Für einen Moment schien möglich, dass der Präsident zum ersten Mal in seiner Amtszeit einen neuen Ton anschlagen würde.

Schon am nächsten Tag liess er sich in der hermetisch gegen Giftgas versiegelten Präsidenten­limousine an seinen vor dem Spital wartenden Anhängerinnen vorbei­fahren und setzte zwei Leibwächter der Infektion aus.

Dann liess er sich mit dem Helikopter ins Weisse Haus zurück­fliegen, riss sich vor der Tür die Maske ab und salutierte nach Luft schnappend auf dem Balkon – das offizielle Video davon wurde die Mischung aus Benito Mussolini und einer Dokumentation über Fische.

Dann postete er ein Video, in dem er riet: «Fürchten Sie sich nicht! Sie werden es besiegen. Lassen Sie das Virus nicht Ihr Leben dominieren. Tun Sie das nicht!»

Weiss der Teufel, welche der drei experimentellen Drogen dafür verantwortlich war, die ihm sein Leibarzt gegeben hatte, jedenfalls kickte mindestens eine davon voll rein:

  • Remdesivir?

  • Der experimentelle Cocktail aus Antikörpern?

  • Das Stereoid Dexamethason?

In Verdacht kam vor allem Letzteres. Auf Twitter etwa erinnerte sich eine Frau, wie es war, nach einer Operation Dexamethason erhalten zu haben: «Ich äusserte völlig ernst den Plan, an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Worauf mein Mann fragte: ‹In welcher Sportart?› Und ich sagte: ‹In allen.›»

Egal. In der ersten Nacht im Weissen Haus schoss Trump mit einem Tweet die Verhandlungen über das wirtschaftliche Hilfspaket zur Corona-Krise ab – mit der Bemerkung: der Supreme Court sei wichtiger.

Damit begrub Trump nicht nur jede Aussicht auf Hilfe für rund 12,6 Millionen Arbeitslose, sondern auch die letzte Chance auf eine schnelle Konjunktur­erhaltung – und verzichtete auf ein 1- bis 2-Billionen-Dollar-Wahlgeschenk.

Als Nächstes zitierte er einige Verschwörungs-Tweets – und behauptete, es gäbe neue Beweise gegen Clinton, Obama und Biden: welche, blieb unklar.

Dazu zitierte er einen Artikel, in dem er als «unbesiegbar» bejubelt wurde. Und stellte fest, nach der Begegnung mit dem Virus «nun immun» zu sein, «den höchsten Test bestanden» und «ein schützendes Leuchten» zu haben.

Anfang der Woche nahm er den Wahlkampf wieder auf. Vor dicht gedrängten Anhängern, so gut wie ohne Maske.

Kurz: eine einzige patriotische Petrischale.

Der Superspreader

Bis heute ist unklar, wann Trump eigentlich um seine Infektion wusste. War es schon vor der Debatte mit Biden, wo er verblüffend spät ankam und so einen geplanten Test vermied? Oder gleich danach? Als er eine Wahlkampf­veranstaltung abhielt und danach an zwei Abenden die Tischrede vor Dutzenden Geldgebern hielt?

«Mein Gott, als sie sagten, dass Trump die Republikanische Partei umbringt», kommentierte die Komikerin Sarah Cooper, «meinten sie das wörtlich!»

Schon jetzt ist er der ansteckendste Präsident aller Zeiten: für Viren, Korruption, Zorn, Falsch­meldungen. Eine Studie fand heraus, dass die Haupt­quelle aller Fehl­informationen über die Corona-Seuche, mit satten 38 Prozent, ein einziger Mensch war: der Präsident.

Bis anhin sind in dieser Pandemie mehr Amerikaner gestorben, als im Ersten Weltkrieg, im Koreakrieg und in Vietnam insgesamt fielen.

Wahrscheinlich, so der konservative Kolumnist David Brooks, kostet ihn 2020 genau das die Wahl, was seine Wähler noch 2016 überzeugte: seine Grausamkeit.

2016 hielten Konservative diese Grausamkeit noch für nützlich: zur Durch­setzung von Gesetzen gegen Einwanderer, von evangelikalen Sitten, Steuer­senkungen, Recht und Gesetz, zur Trockenlegung der Washingtoner Sümpfe.

Doch Trumps Grausamkeit, schrieb Brooks, ist keine Grausamkeit, um irgendeinen Zweck durch­zusetzen. Seine Grausamkeit kennt weder Freund noch Feind, noch nicht einmal Rücksicht auf die eigenen Pläne. Sie ist das Ziel an sich.

Das Schlimmste, was seine Administration tat, war, an der mexikanischen Grenze bei illegalen Einwanderern die Kinder von ihren Eltern zu trennen. Sogar Säuglinge waren darunter. Rund 5000 Kindern wurden in Lager gesteckt, die Aufzeichnungen darüber wurden verschlampt, die Kinder waren vogelfrei, nicht zuletzt für sexuelle Attacken.

Und er schaut praktisch ausnahmslos in weisse Gesichter: Trump in Des Moines. Doug Mills/NYT/Redux/laif

Es ist das, wofür – falls es sie gibt – Trump eine eigene Hölle eingerichtet bekommt.

In der Tat ist Trump unfähig, Mitgefühl auch nur zu heucheln. In einem Interview auf die 200’000 Toten angesprochen, sagte er: «Es ist, wie es ist.»

Wie in Sachen Mitgefühl brachte er es nicht über sich, auch nur das mindeste Konstruktive zu tun.

So liess er zwei perfekte Gelegenheiten verstreichen, sich seine Wiederwahl zu sichern: 2019, als er mit den Demokraten ein riesiges Infra­struktur­projekt auf dem Tisch hatte – quasi Hitlers Autobahnen. Und Ende Januar 2020, als das Coronavirus ihm die Jahrhundert­chance bot zu zeigen, wozu es einen entschlossenen Mann an der Spitze braucht.

Doch er verpasste beides. Dies, weil er wie schon bei seinen Geschäften alle Energie in das Image als Geschäfts­mann steckte – und nichts in die Geschäfte selbst.

Er war bereit, alles für seine Wieder­wahl zu tun, mit einer einzigen Ausnahme: zu regieren.

Der Revolver

Eigentlich gibt es im Fall Donald Trump keine Zweifel mehr. Alles, was ihn betrifft, ist irritierend unseriös. Ausser die Schäden.

Die letzte offene Frage ist: Kann ein so unseriöser Mensch die Vereinigten Staaten in eine faschistische Diktatur verwandeln?

Die Zutaten dazu sind vorhanden:

  • Bei Trump selbst: Je näher die Wahl rückt, desto deutlicher kopiert er autoritäre Vorbilder: mit den Balkon­bildern; der Order, seine Konkurrenten verhaften zu lassen; der Bereitschaft, die Bundes­polizei in Städte einmarschieren zu lassen; dem offen ausgesprochenen Plan, im Fall seines Sieges länger als acht Jahre zu bleiben; offenem Rassismus und der kaum versteckten Drohung mit Gewalt, sollte er die Wahl verlieren.

  • Im politischen System: Das sicherste Bollwerk gegen Autoritäre ist, wie die Erfahrung zeigt, nicht eine starke Linke, sondern eine starke konservative Partei. Und davon steht in der USA nicht einmal mehr eine Ruine. Die Republikaner sind von jedem Inhalt entkernt – und deshalb zu allem bereit.

  • In der Wirtschaft: Die Ungleichheit steigt, die Mittelklasse erodiert, die weisse Mehrheit, damit auch die konservative Mehrheit schwindet – nichts ist so gefährlich wie Leute auf dem Abstieg.

Nicht zuletzt ist während der Präsidentschaft Trumps die Bereitschaft zur politischen Gewalt dramatisch gestiegen. Seit längerem leben die Amerikanerinnen durch die politische Polarisierung samt gespaltenem Medien­system nicht mit zwei Inter­pretationen der Welt, sondern in zwei Welten mit völlig verschiedenen Tatsachen.

Und grössere Teile beider Seiten fürchten den Sieg der anderen als den Ausbruch der Tyrannei. Und sehen politische Gewalt unter den richtigen Umständen als legitimen Weg, ihre politischen Ziele zu erreichen: 36 Prozent der Republikaner, 33 Prozent der Demokraten. (2016 waren es noch je 8 Prozent.)

Die Frage hier ist: Sind die Demokraten paranoid? Oder nicht genügend paranoid?

Bei den Republikanern läuft aktuell die Debatte, was es hiesse, als Minderheit die Macht zu übernehmen. Der Senator Mike Lee aus Utah etwa äusserte sich letzte Woche in einer Serie von Tweets: «Amerika ist eine Republik, keine Demokratie.» Und: «In der amerikanischen Verfassung fällt das Wort Demokratie kein einziges Mal.» Und: «Demokratie ist nicht ihr Ziel; Freiheit, Frieden und Wohlstand sind es. Wir wollen die Entfaltung der menschlichen Natur.»

Niemand kann garantieren, dass bei einer zweiten Präsidentschaft Trumps die amerikanische Demokratie überleben würde.

Und zwar egal, wie knapp er gewinnen würde – und mit welch zweifelhaften Mitteln. Auch Trumps Unfähigkeit zur Organisation spielt dann kaum eine Rolle mehr: Hitlers Management-Techniken waren nicht viel geschickter als die von Trump: keine Verantwortlichkeit für ihn selber, Dinge im Unklaren lassen, die einzelnen Kaderleute gegen­einander ausspielen, die Forderung nach bedingungs­loser Loyalität, Wutausbrüche. Faschismus hat nicht vor, einen Staat zu regieren. Sondern seine Institutionen als Parasit auszuhöhlen. Und mit dem erbeuteten Material ein Bild der eigenen bombastischen Stärke zu bauen – und überhaupt jede Schwäche zu bestrafen und jeden Kampf zu gewinnen –, weil nur Sieger den Sieg im Lebens­kampf verdient haben.

Der republikanische Präsident Ronald Reagan hatte recht, als er sagte: «Freiheit ist immer nur eine Generation von ihrer Auslöschung entfernt.»

Die einzige Möglichkeit, eine Diktatur zu verhindern, ist, sie nicht an die Macht kommen zu lassen. Faschismus ist keine Frage der Stärke der Faschisten, sondern der Stärke des Wider­stands gegen sie.

Joe Biden ist immerhin das richtige Gegen­programm: Er ist – trotz des seit langem linksten Programms in der US-Politik – von der Persönlichkeit her ein Konservativer: Er hat Güte und Anstand, und er hat als Politiker sein Handwerk gelernt.

Im Moment werden seine Chancen von Tag zu Tag besser: Biden führte über viele Monate in den nationalen Umfragen mit 5 bis 7 Prozent­punkten Vorsprung. Nachdem die Amerikaner Trump 90 Minuten in der Debatte erlebt hatten, waren es 7 bis 9. Seit Trumps Infektion und Wieder­auferstehung sind es 10 bis 11 Prozentpunkte.

Damit hat Joe Biden einen weit solideren Vorsprung als Hillary Clinton vor vier Jahren. Bei der oben erwähnten, wahrscheinlich durchdachtesten Wahlprognose-Seite «FiveThirtyEight» stehen die Chancen von Trump nur noch bei 13 Prozent. (Während sie am Wahltag 2016 bei 30 Prozent standen.)

Das ist zwar keine Garantie. Aber würde man mit diesen Chancen russisches Roulette spielen, dann entspräche das der Verbesserung um eine Patrone.

Bei dieser Wahl hält sich die amerikanische Demokratie quasi einen Revolver an den Kopf und drückt ab. Das letzte Mal waren zwei Patronen in der Trommel.

Diesmal ist es nur eine.