«Vernunft ist heute unpopulär»

Das Rahmenabkommen mit der EU gilt in weiten Teilen der Schweizer Politik als klinisch tot. Doch Jakob Kellenberger, pensionierter Spitzendiplomat und jahrelang «Mister Bilaterale», stört jetzt die Vorbereitungen zur Beerdigung.

Ein Interview von Cinzia Venafro, 13.10.2020

«Ich bleibe der Meinung, dass es im schweizerischen Interesse wäre, in der EU mitzuentscheiden»: Jakob Kellenberger. Simon Tanner/NZZ

Jakob Kellenberger, der jahrzehnte­lang die Schweiz in der Welt vertrat und die Bilateralen I mit der EU aushandelte, hat für seinen Lebens­abend ein Bergdorf gewählt: das Örtchen Château-d’Œx in den Waadtländer Alpen. Der 75-jährige Spitzen­diplomat schliesst gern die Augen, bevor er eine Frage beantwortet. Dann aber formuliert er präzise und so sattelfest wie eh und je.

Um in der vertrackten Geschichte des EU-Rahmen­abkommens noch einen Überblick zu haben, braucht es Sattel­festigkeit. 2014 erteilte der Bundesrat ein Verhandlungs­mandat – man fuhr nach Brüssel und setzte sich an einen Tisch mit der EU. Fünf Jahre später war ein unterschrifts­bereiter Vertrag ausgehandelt. Doch in der Schweiz stellten sich die SVP, Teile der CVP und vor allem auch die Gewerkschaften quer. Die Sozialpartner fürchten um den Lohnschutz.

Bundesrat Cassis versprach, er finde einen «Reset-Knopf» – und sucht noch immer danach. Doch weil die SVP in der Zwischen­zeit ihre Begrenzungs­initiative lanciert hatte, legte man das Rahmen­abkommen auf Eis: Wäre sie angenommen worden, wäre der Vertrag sowieso obsolet gewesen.

Die Stimmbevölkerung sagte Nein – und so ist der Rahmen­vertrag mit der EU wieder das brennendste Polit­eisen im Feuer. Und just jetzt soll offenbar der Schmied ausgetauscht werden. Am Mittwoch entscheidet der Bundesrat, ob dem bisherigen Chef­unterhändler Roberto Balzaretti das Dossier entzogen wird. Kellenberger will nicht über seinen Freund Balzaretti und einen möglichen Nachfolger reden, betont jedoch: «Roberto ist ein sehr guter Unter­händler und leistet ausgezeichnete Arbeit.»

Jakob Kellenberger, ist die Schweiz derzeit ein Zwerg oder ein Riese?
Wieso meinen Sie?

In Ihrem Buch «Wo liegt die Schweiz? Gedanken zum Verhältnis CH-EU» von 2014 prägten Sie den Satz: «Bald schrumpfen wir uns peinlich klein, bald blasen wir uns auf, was noch peinlicher ist.»
Es kommt ganz auf das Gegenüber an. Im Verhältnis zur EU neigen wir zum Aufblasen, gegenüber den USA zur Verzwergung.

Jetzt streitet die Schweiz wieder einmal über das Rahmen­abkommen mit der EU – eine Never-ending-Story. Was zum Teufel ist da los?
Ach. (seufzt) Das Rahmen­abkommen ist kein existenzielles Drama. Es hat den Zweck, die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU zu erleichtern und das von der Schweiz gewünschte bilaterale Zusammen­arbeits­modell zu festigen. Genau das macht es. Nicht mehr, nicht weniger.

Das Ding liegt seit zwei Jahren unterschrifts­bereit auf dem Tisch.
Darum werden der Bundesrat und sein Chef­unterhändler Roberto Balzaretti bald in Brüssel vorstellig werden und die Punkte besprechen, bei denen es Klärungsbedarf gibt.

Ist die Schweiz zu harmoniesüchtig?
Hören Sie: Ohne eine minimale Harmonie mit der EU mag ich mir die Zukunft der Schweiz nicht vorstellen. Ein Blick auf die Landkarte und in die Zahlen genügt, um die wirtschaftliche, geografische, kulturelle Bedeutung der EU zu erkennen. Aber ja, die Harmonie­bedürftigkeit ist ein Schweizer Problem.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie «Leute am Werk sahen, die einen heiklen Punkt nur scheu am Schluss anzusprechen wagten, um dann der Presse zu berichten, wie kräftig sie auf die Trommel hauten».
(lacht) Ich habe ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Harmonie nie als hilfreich empfunden, auch privat nicht. Gerade ein Unter­händler muss Spannungen über eine längere Zeit aushalten. Trotzdem hat die Harmonie­bedürftigkeit nicht dazu geführt, dass wir ohne Not wichtige Ziele preisgegeben haben. Obwohl: Im Verhältnis zu den USA hat die Schweiz das ewige Bank­geheimnis in Rekord­zeit aufgegeben, weil sie verhindern wollte, dass eine Grossbank vor ein Gericht muss.

Da ist die Schweiz eingeknickt.
Das war das grösste Einknicken der Schweizer Souveränität, das ich in meiner Karriere erlebt habe. Ich kann den Entscheid in Anbetracht der Sachlage, der Macht­verhältnisse und der robusten amerikanischen Verhandlungs­methoden gleichwohl nachvollziehen. Man soll den Fall nur nie in Souveränitäts­predigten vergessen.

Zur Person

Der gebürtige Appenzeller Jakob Kellenberger trat 1974 in den diplomatischen Dienst der Schweiz ein. Er leitete als Chef­unterhändler die Verhandlungen mit der EU zu den Bilateralen I. 2000 bis 2012 war er Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Kellenberger ist Ehren­doktor der Universität Basel und wurde mit dem Ehren­zeichen des Deutschen Roten Kreuzes geehrt. 2003 und 2012 wurde er mit einem Swiss Award ausgezeichnet.

EU-Kommissions­präsidentin Ursula von der Leyen hat am Tag, als die Schweiz die SVP-Begrenzungs­initiative ablehnte, gesagt: «Ich freue mich, dass der Schweizer Bundesrat nun zügig vorankommen kann.» Da lässt Brüssel ordentlich die Muskeln spielen.
Ja. Frau von der Leyen hat gelegentlich eine lockere Ausdrucks­weise, auch EU-intern. Die Idee des Bundesrats ist – so meine Hoffnung –, dieses Rahmen­abkommen so schnell wie möglich abzuschliessen. Wir tun so, als ob es die EU gewesen wäre, welche das Verhältnis zur Schweiz bilateral regeln wollte. Dieses Beziehungs­modell entspricht einem schweizerischen Wunsch. Es ist schwer verständlich, wie rasch dies in gewissen Kreisen bei jeder Meinungs­verschiedenheit vergessen geht.

Die Schweiz ist Bittstellerin?
Ich mag das Wort im Zusammen­hang mit Verhandlungen nicht. Die Schweiz hängt stärker von der EU ab als die EU von der Schweiz. Das leuchtet jedem bei einem Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse ein. Die EU erhält auch etwas im Gegenzug. Dieser Vertrag festigt das Verhältnis, das die Schweiz seit Jahren zur EU wünscht – nämlich eine bilaterale Zusammenarbeit.

Ist Scheitern überhaupt eine Option? Sie schreiben in Ihrem Buch, eine Verhandlung könne nur zum Erfolg führen, wenn sie scheitern dürfe.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses Rahmen­abkommen nicht zustande kommt. Ich nehme die Stellung­nahmen und Profilierungs­bedürfnisse wahr. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die Schweiz die bilaterale Zusammen­arbeit mit der EU, die sie so wollte, wegen eines Abkommens ohne dramatische Änderungen in der Beziehung aufs Spiel setzen sollte.

Wenn es keine so dramatische Bedeutung hat, kann es auch scheitern.
Nein, das glaube ich nicht. Scheitert das Rahmen­abkommen, zerbröckelt der Wert der bilateralen Markt­zugangs­abkommen, weil diese nicht mehr aktualisiert werden. Neue Hindernisse zum EU-Binnen­markt sind die Folge. Eine Maschine, die in der Schweiz hergestellt und geprüft wird, müsste in der EU beispiels­weise neu getestet werden. Und das macht diese Maschine am Ende teurer. Wenig beachtet wird, dass die Zusammen­arbeits­bereitschaft der EU allgemeiner, nicht nur bei Markt­zutritts­abkommen, abnehmen könnte.

Ist die EU denn wirklich nicht mehr zu Nach­verhandlungen bereit, oder ist es einfach part of the game, dass sie das behauptet?
Die EU ist gelassener als die Schweiz. Der Bundes­rat wünscht ein paar Klar­stellungen. Brüssel hat sich diesem Wunsch nicht verschlossen, will aber keine neuen Verhandlungen. Die Begriffe «Klärungen» und «Verhandlungen» siedeln sich für mich im Übrigen in einer Grauzone an. Warten wir das Ergebnis dieser Klärungs­versuche ab. Brüssel hat noch andere externe und interne Probleme. Man kann davon ausgehen, dass nicht so bald etwas Neues auf dem Tisch liegen wird, wenn die Schweiz das Abkommen verwirft.

Hat der Bundesrat zu unterwürfig verhandelt?
Nein, wieso soll er unterwürfig verhandelt haben?

Weil plötzlich Streitpunkte zur Verhandlungs­masse wurden, bei denen innen­politisch die Mehrheit sagt, sie seien keine Verhandlungs­masse. Beispiels­weise die Unions­bürgerschaft oder der Lohnschutz.
Meinen Sie denn, in der EU hätte es intern nicht auch Bevölkerungen, die vielleicht mit diesem oder jenem Punkt nicht einverstanden sind? Nochmals: Dieses Rahmen­abkommen ist sehr gut ausgehandelt. Lassen Sie uns ein Beispiel rauspicken: die Entsende­richtlinie im Protokoll 1.

Also das Prinzip: gleicher Lohn für gleiche Arbeit.
Die EU hat begriffen, wie fundamental wichtig der Lohn­schutz für die Schweiz ist. Der Schweiz ist es gelungen, die EU auf die Wichtigkeit des Prinzips «gleicher Lohn für gleiche Arbeit» zu sensibilisieren. Das Ergebnis davon ist ein sehr gutes Protokoll 1, das in zwei Punkten sogar über die EU-Entsende­richtlinie hinausgeht. So etwas schaffen nur gute Verhandler.

Daniel Lampart, der Chef­ökonom des Gewerkschafts­bunds, sagt, ein Schweizer Schreiner werde durch das Rahmen­abkommen in die Sozial­hilfe getrieben, weil wir am Ende polnische Löhne haben werden.
Ich bin nicht der Einzige, der diese Auffassung nicht teilt. Natürlich ist die Schweiz besonders exponiert wegen ihres Lohn- und Sozial­schutz­niveaus. Aber ich bin überzeugt davon, dass die Entsende­richtlinie das verhindert. As simple as that. Glauben Sie mir: Der Lohn und der Sozial­schutz der Arbeit­nehmer sind mir sehr wichtig. Das war schon bei den Bilateralen I so. Und er ist auch den EU-Mitglieds­staaten sehr wichtig. Lohn­schutz ist ein EU-Grund­satz. Er ist ein so weitverbreitetes Anliegen, dass wir sicher sein können, dass die Prophezeiungen von Herrn Lampart nicht eintreffen werden.

Das Rahmen­abkommen sieht bei Streitigkeiten ein Schieds­gericht vor, bei dem ein Schweizer, ein EU-Mitglied und ein zu wählendes Mitglied dabei sind. Dieses Schieds­gericht untersteht dem Europäischen Gerichts­hof. Die SVP argumentiert: Das sei etwa so, wie wenn die Schweiz und Deutschland Fussball spielten und der Schieds­richter wäre ein Deutscher.
Dieser Vergleich ist komplett falsch. Wenn sich die Schweizer vorstellen, dass jemand anderes als der Europäische Gerichts­hof das EU-Recht auslegen soll, haben wir wirklich ein Problem. Wir wollten bilaterale Markt­zugangs­verträge, die auf EU-Recht basieren. Wer soll das Recht denn sonst auslegen?

CVP-Präsident Gerhard Pfister sagt, die Rolle des Gerichts­hofs sei «toxisch». Und Alt-Bundesrat Johann Schneider-Ammann meint, eine «faktische Unterstellung des Schiedsgerichts unter den Europäischen Gerichtshof» gehe zu weit.
Ich teile diese Einschätzungen nicht. Die Rechts­grundlage des EU-Binnen­markts ist das EU-Recht, für dessen Übernahme das Rahmen­abkommen Regeln enthält. Also ist es doch normal, dass der Europäische Gerichts­hof bei einer Auslegungs­frage seines eigenen Rechts zum Zug kommt. Weniger höre ich etwas sehr Wichtiges: Die Schweiz kann den verbindlichen Auslegungs­entscheid im Gemischten Ausschuss ablehnen. Sie hat allerdings Ausgleichs­massnahmen zu akzeptieren. Ein Schieds­gericht befindet über deren Verhältnis­mässigkeit. Es ist aber sowieso fragwürdig, über etwas zu streiten, das eine absolute Ausnahme sein wird. Man macht aus einer Kleinigkeit ein Riesen­ding. Streitigkeiten werden in aller Regel im Gemischten Ausschuss beigelegt.

Wie referendumsfähig ist das Rahmen­abkommen? Kann man das mit Präzisierungen so festnageln, dass die Bevölkerung zustimmen wird?
Man muss das Volk fragen: Welche Bedeutung gibt die Schweiz dem diskriminierungs­freien Zugang zum EU-Binnen­markt? Und das in einer Zeit, in der die Globalisierung in der Defensive ist und die Chancen eines Zugangs zu anderen Märkten abnehmen könnten. Und über 50 Prozent unserer Exporte in die EU gehen. Das wird viele Leute zum Nachdenken bringen. Ich bin gespannt, wie nach einer Ablehnung argumentiert würde und welche Vorschläge für eine Alternative kämen. Und vor allem wäre ich gespannt, welche Leute bereit wären, einen neuen, für die EU akzeptablen Vertrag auszuhandeln.

Sie schreiben über Ihre Verhandlungen mit der EU: «Mit Angst wird von allen Seiten argumentiert, auch auf die Gefahr hin, sich zu blamieren.» Droht sich das jetzt zu wiederholen?
(lacht) Da haben Sie recht. Bei der EWR-Abstimmung baute man eine Droh­kulisse mit irreparablen Schäden für die Wirtschaft auf. Und diese Schäden sind nicht eingetroffen, nicht zuletzt dank der Bilateralen I. Darum muss diese Diskussion jetzt unbedingt vernunft­getrieben sein. Ich weiss, Vernunft ist unpopulär heute. Aber ich bin von der alten Garde, für mich ist die Ausübung von Vernunft wichtig für die Glaubwürdigkeit.

Die Unionsbürger­richtlinie im Rahmen­abkommen ist der pinkfarbene Elefant im Raum, weil das Abkommen diese nicht explizit ausschliesst. Mit ihr könnten aber EU-Bürgerinnen in die Schweizer Sozial­werke einwandern. Die Gegner behaupten, da ticke eine Zeitbombe.
Zunächst finde ich den Begriff der «Einwanderung in die Schweizer Sozial­werke» aufgeblasen und entsprechend unangemessen. Es trifft dagegen zu, dass um den Begriff der «Erwerbs­tätigkeit» noch Klärungs­bedarf besteht. Mit pinkfarbenen Elefanten und Zeit­bomben bin ich weniger vertraut.

Wieso hat man denn bei einer Detail­frage, die innen­politisch derart ausgeschlachtet werden kann, der EU nicht von Anfang an klarmachen können, dass das hoch problematisch ist für die Schweizer?
Wer behauptet, der EU seien die Probleme im Zusammen­hang mit der Unionsbürger­richtlinie nicht mehr als klargemacht worden? Sie ist übrigens einer der Gegenstände, wo die Schweiz noch Klärungen wünscht, vor allem über den Begriff der «Erwerbstätigkeit».

Sie schreiben in Ihren Erinnerungen an die EWR-Abstimmung, dass jene, die am lautesten dagegen gekämpft hatten, also Christoph Blocher und die SVP, dann am wenigsten an den konstruktiven Verhandlungen zu den Bilateralen I mitmachten. Also keine Verantwortung übernahmen.
Das ist richtig. Versetzen wir uns ins Jahr 1992: Damals herrschte nach dem EWR-Nein grosse Angst, weil man sie zuvor propagiert hatte. Dann hiess es in die Richtung von Kellenberger: Los, sofort Verhandlungen für die Bilateralen I aufnehmen und so den Schaden möglichst klein halten. Die EU hat sich bitten lassen. Zwischen unseren ersten Bemühungen zu verhandeln und der effektiven Aufnahme sind zwei Jahre verstrichen. Aber ja, die Partei, die immer einen bilateralen Ansatz wollte, hat nicht mitgemacht. Weil die SVP gar keinen bilateralen Weg will, sondern einen selektiven bilateralen Weg. Einen Weg, wo nur über Gegen­stände verhandelt wird, die vor allem die Schweiz interessieren.

Pressekonferenz zur Europäischen Gemeinschaft und zum EWR im Mai 1992: Delegations­vorsteher Jakob Kellenberger und die Bundes­räte Jean-Pascal Delamuraz und René Felber (von links). Rolf Schertenleib/Keystone

Die SVP betreibt also Rosinenpicker­politik mit der EU?
Jawohl. Bilaterale Verträge, wenn es der Schweiz passt, wie beim Abbau wirtschaftlicher Handels­hemmnisse. Keine Verträge bei der Freizügigkeit von Personen. Die SVP vergisst, dass es ein Geben und ein Nehmen ist. Und dass unser Gegenüber die grösste oder zweitgrösste Welt­handels­macht ist.

Vor gut drei Jahren sagten Sie, der Boden der EU sei «morsch geworden». Wie fest ist der Boden jetzt, gegen Ende 2020?
Die EU ist in einer heiklen Phase. Ihr Ehrgeiz ist es, einer der globalen Player zu sein, auch politisch. Und wenn man sieht, dass sie für ein Corona-Aufbau­programm 750 Milliarden beschliessen könnte, wird klar: Da ist auch sehr viel Geld. Auf der anderen Seite hat die EU nicht zuletzt als Folge der Erweiterungen seit 2004 ein Solidaritäts­problem zwischen den Staaten.

Wie meinen Sie das?
Artikel 2 im Vertrag über die Europäische Union fordert von den Mitglieds­staaten Rechts­staatlichkeit. Sie ist ein Kern der EU. Aber Ungarn und Polen stellen sie infrage. Das Gleiche gilt für die Solidarität: Man darf von einer Union wie der EU erwarten, dass sie eine gemeinsame Asyl- und Migrations­politik hat. Man darf erwarten, dass sich alle Mitglieds­staaten beteiligen und schutz­bedürftige Menschen aufnehmen. Auch das geschieht im Falle gewisser Mitglieds­staaten nicht. Nun ist die Rats­diskussion über die letzten Kommissions­vorschläge abzuwarten. Die EU muss endlich eine klarere Sprache gegenüber diesen Mitglieds­staaten finden. Die Nicht­beachtung dieser Grundsätze muss spürbare Folgen haben, sonst schwächt sich die EU enorm.

Wo ist der europäische Gedanke 2020 geblieben? Am Anfang der Pandemie blockierte beispiels­weise Deutschland Schutz­material, während in Italien Tausende Menschen starben.
Das waren negative Beispiele in der Anfangs­phase der Pandemie. Die EU hat sich sehr stark gebessert. Aber ja: Der National­staat ist auch in der EU ein starkes politisches Gefäss geblieben. In dramatischen Situationen muss man immer mit nationalen Reaktionen rechnen. Es gibt zwar ein ganz anderes Gemeinschafts­gefühl als vor siebzig Jahren. Es wäre aber übertrieben zu sagen, auf dieses sei immer Verlass.

Die EU ist kein United States of Europe.
Nein, sie ist etwas zwischen Bundes­staat und Staatenbund.

Sie waren damals aus patriotischen Gründen für einen EU-Beitritt der Schweiz. Hand aufs Herz: Sind Sie heute froh, ist die Schweiz nicht dabei?
(überlegt lange) Aus wirtschaftlichen, geografischen, kulturellen und historischen Gründen ist der Platz der Schweiz in der EU. Zum jetzigen Zeit­punkt würde ich aber im Unterschied zu 1992 kein Beitritts­gesuch stellen. Die derzeitige Lage der EU ist zu unübersichtlich. Die Zukunfts­aussichten sind durch die seit 2004 erfolgten Erweiterungen unsicherer geworden. Aber ich bleibe der Meinung, dass es im schweizerischen Interesse wäre, in der EU mitzuentscheiden. Die Schweiz liegt, wo sie liegt.

Jetzt können wir wenigstens mitreden.
Es gibt aber einen wichtigen Unterschied zwischen Mitentscheiden und Mitreden.

Kommen wir kurz weg von der Welt­politik und blicken wir auf Ihren Nacht­tisch. Sie haben ja ursprünglich Literatur und Philosophie studiert. Was liegt dort gerade?
Ou Sie, da herrscht eine riesige Sauordnung. (lacht) Meine Frau Elisabeth sagt immer, ich soll endlich Ordnung schaffen. Literarisch lese ich gerade von Peter von Matt «Die tinten­blauen Eidgenossen», sehr empfehlens­wert, gut geschrieben und intelligent. Und von Ricarda Huch über die Geschichte des Römischen Reiches Deutscher Nation, im Moment bin ich bei Band drei, bis zur Auflösung des Reiches 1806. Dann liegt da «Der Stechlin» von Fontane, aber den hab ich schon etwa fünfmal gelesen. Der beruhigt mich immer.

Jetzt stehen wir kurz vor den US-Wahlen. Ist es naiv zu glauben, dass die Welt mit einem US-Präsidenten Joe Biden weniger Angst vor einem Welt­krieg haben müsste?
Trump versucht, sich als Friedens­fürst zu konstruieren. Denken Sie an die Abkommen, die er zwischen Israel, den Emiraten und Bahrain förderte, oder die Abmachung mit den Taliban über die Bedingungen eines Abzugs ausländischer Truppen aus Afghanistan. Trotzdem bin ich überzeugt, dass Trump und seine globale Politik eine grosse Gefahr für den Welt­frieden sind. Sie kennt keinen respect de la différence. Trumps Welt­politik akzeptiert nicht, dass es Staaten und Menschen gibt, die sich verschieden organisieren und unterschiedliche Prioritäten haben. Das Beharren auf der Einhaltung der Menschen­rechte ist richtig. Glaub­würdig sind Lektionen aber nur, wenn die USA dies vorleben. Die Zeiten des Imperialismus sind vorbei, besonders wenn er einseitig auf militärischer und wirtschaftlicher Macht beruht. Mein Gefühl ist, das Biden die kleinere Gefahr für den Weltfrieden ist.

Sie glauben «an die Kraft des präzisen Wortes», schreiben Sie. «Als Diplomat ist es überhaupt kein Problem, hart zu sein, aber ein riesiges Problem, wenn man jemanden beleidigt.» Wie geht es Ihnen, wenn Sie sehen, wie Biden und Trump sich gegenseitig beschimpfen?
In der spanischen Literatur sagt der Held oft «te hablo como me hablas» – «Ich spreche mit dir so wie du mit mir». Biden hat also leider keine Wahl. Sie können keinen zivilisierten Ton aus vergangenen Zeiten durchstehen. Darum muss man vor der Konfrontation für sich festlegen, wo das eigene Anstands­minimum liegt.

Hat der russische Präsident Wladimir Putin ein Anstands­minimum? Sie haben ihn mehrmals getroffen.
Viermal, einmal nur zu zweit. Und einmal habe ich mit ihm verhandelt über den Zugang zu den gefangenen Tschetschenen, ein anderes Mal über den Zugang in Südossetien. Und ja, mir gegenüber war er stets anständig und höflich. Und er hat immer sein Wort gehalten. «Ja» war «Ja», und «Nein» war «Nein», nicht üblich in diesen Zeiten. In Teilen der westlichen Presse findet eine eigentliche Putin-Hetze statt. Und auf welche Beweise ist ein Teil der Hetze gestützt? Warum nicht auch versuchen, die russischen Heraus­forderungen zu verstehen? Verstehen heisst ja nicht einverstanden sein. Ja, klar, Russland ist ein autoritäres System. Aber wir wissen auch, was für Früchte demokratische Systeme hervor­bringen können.

Inwiefern?
Herr Trump ist ein Ergebnis eines demokratischen Systems, Herr Bolsonaro und Herr Johnson auch. Und sie kennen das Verhältnis dieser Herren zur Wahrheit und zur Wahrhaftigkeit. Was nicht bedeutet, dass ich grund­sätzliche Zweifel an der Überlegenheit der Demokratie als Staats­form hätte.

Entlockt selbst dem Kremlchef ein Lächeln: IKRK-Präsident Jakob Kellenberger trifft Wladimir Putin im März 2000 in Moskau. Yuri Kochetkov/epa photo/Keystone

Wie muss ich mir ein Treffen mit Putin vorstellen? Gibt es da eine menschliche Ebene?
(überlegt lange) Ja, ich glaube schon. Als ich ihn im Jahr 2000 im Kreml traf, als er gerade Präsident geworden war, wusste ich: Ich brauche etwas, um mit ihm eine Beziehung herzustellen. Ich erinnerte mich, dass Putin die deutsche Sprache gern hat. Also sprach ich Deutsch. Ich vergesse das Lächeln nie, das dabei über sein Gesicht glitt. Verhandelt haben wir mit Übersetzern. Und am Schluss kam er zu mir und sagte auf Deutsch: «Ich sehe, Sie haben in Zürich studiert. Da war ich leider noch nie.» Die guten Beziehungen zu Herrn Putin erleichterten übrigens die Tätigkeit des IKRK in der Russischen Föderation.

Hadern Sie aus heutiger Perspektive mit diesen Begegnungen? Gerade wenn man jetzt sieht, dass Putin Oppositionelle mit Nerven­gift angreift?
Aber wer weiss das? Wo liegen die Beweise, dass Putin das angeordnet hat? Ich bin nicht bereit, einfach einem Politiker oder einem Zeitungs­artikel zu glauben, der behauptet, der Anschlag habe auf Befehl von Putin stattgefunden. Über den Herrn Putin wird ja wirklich nur Schlechtes gesagt.

Aber jetzt fordern sogar Berlin und Paris Sanktionen gegen Russland, wegen des Mord­versuchs an Nawalny. Lässt Sie das nicht umdenken?
Die Möglichkeit von EU-Sanktionen ändert nichts an meiner Erwartung hand­fester Beweise. Welche Sanktionen hat die EU übrigens gegen Saudi­arabien ergriffen? Angeblich auf dessen Anweisungen soll Herr Khashoggi ermordet worden sein. Wendet die EU in ihrer Sanktionen­politik überall die gleichen Kriterien an, folgt sie mehrheitlich dem Beispiel der USA oder spielen gewisse Interessen hinein?

Sie waren viel in Kriegs­gebieten unterwegs und hatten dabei stets einen Gedicht­band in der Tasche. Gedichte würden Ihnen eine Form von Geborgenheit geben. Welcher Text hat das bei Ihnen geschafft?
Gedichte sind Schrift­stücke von Leuten mit einem enormen Ahnungs­vermögen, die starke Gefühle form­sicher zum Ausdruck bringen. Sie behandeln auch Probleme mit Nachdruck und Zurück­haltung, die einen selbst beschäftigen können. Zum Beispiel García Lorcas «Còrdoba lejana y sola». Es ist ein Gedicht über den ausweglosen Kampf, ein Ziel zu erreichen. Ein sehr schönes Gedicht. Lorca ist einer der Grossen des 20. Jahr­hunderts – und wurde von den Franco-Faschisten ermordet.

Sie sind nun 75-jährig. Haben Sie je im Leben mit sich selbst gehadert?
Hadern? Ja, viel. Das ist nun aber wirklich sehr persönlich. Das bespreche ich praktisch nur mit meiner Frau. Und das hilft. Sie kann die Proportionen herstellen und relativieren. Elisabeth hat den Sinn fürs Wesentliche.

Ihre Frau ist Pfarrers­tochter. Sie aber glauben nicht an Gott, sind Agnostiker.
Ich habe viele Glaubens­diskussionen mit meiner Frau. Ich kann gut nachvollziehen, warum Leute gläubig sind. Als Agnostiker habe ich nicht das Bedürfnis, die Bedeutung des Glaubens herunter­zuspielen. Ich bin einfach nicht gläubig. Ich interessiere mich aber sehr für verschiedene Religionen und Weltanschauungen.

Viele Menschen werden im Alter religiöser oder spiritueller.
Das kann man bei mir nicht sagen.

Auch nicht im Pandemie­jahr 2020, in dem das Vergängliche für viele Menschen näher scheint?
Ich bin gesund geblieben und dankbar dafür. Jeden zweiten Tag wird gejoggt. Wie üblich. Ich habe die Vorschriften befolgt. Corona hat in mir nichts verändert.

Wie stellen Sie sich den Tod vor?
Ach, den stelle ich mir gar nicht vor. Er beschäftigt mich auch nicht. Obwohl, objektiv, müsste er wohl.

Haben Sie Mühe mit dem Ruhestand?
Viele Menschen haben ein grosses Problem, wenn sie von einer Position, die Einfluss und Sichtbarkeit bot, ins Leere fallen. Ich hatte das nicht. Da hilft auch die Tatsache, dass Elisabeth und ich einst gemeinsam Literatur studierten. Wir haben sehr viel Stoff, um darüber zu sprechen.

Ganz untätig sind Sie ja heute auch nicht.
Diesem Lebens­abschnitt Sinn zu geben, ist eine grosse Heraus­forderung. Und eigentlich ist mir das gelungen. Ich bin Präsident von Swisspeace, im Vorstand des Zentrums für humanitären Dialog in Genf und leite auf Spanisch ein Seminar über humanitäres Völker­recht an der Universität in Salamanca. Bis 2018 war ich auch Gast­professor am «Institut de hautes études internationales et du développement» in Genf. Zudem schreibe ich. Und vielleicht wird noch etwas draus. Und vergessen Sie den Sport nicht. In zwei Monaten ist endlich der Schnee fürs Langlaufen wieder da!

Ihre Töchter leben mit deren Familien in Manchester und in Dublin. Was sind Sie für ein Grossvater?
Ein abwesender. Und mit Corona ist es mit der Reiserei noch schwieriger. Ich habe mir keine Rollen­vorstellung gemacht über das Grossvatersein.

Ihre Töchter haben Ihnen einst viele Vorwürfe gemacht, weil sie so abwesend waren. Haben Sie sich mit ihnen versöhnt?
Ja. Oder sie haben sich mit mir versöhnt. Aber ich muss mir eingestehen: Die enge Beziehung zwischen der Mutter und den Töchtern und der Grossmutter und den Enkeln ist das starke Band in der Familie. Bei uns in der Familie ist Elisabeth der starke Baum.

Was wären Sie ohne Ihre Frau Elisabeth geworden?
Ich glaube, das Gleiche. Wenn ich anerkenne, dass Elisabeth der starke Baum in der Familie ist, dann heisst es nicht, dass nicht auch Platz ist für einen Mann mit einer eigenen Persönlichkeit.