«Vernunft ist heute unpopulär»
Das Rahmenabkommen mit der EU gilt in weiten Teilen der Schweizer Politik als klinisch tot. Doch Jakob Kellenberger, pensionierter Spitzendiplomat und jahrelang «Mister Bilaterale», stört jetzt die Vorbereitungen zur Beerdigung.
Ein Interview von Cinzia Venafro, 13.10.2020
Jakob Kellenberger, der jahrzehntelang die Schweiz in der Welt vertrat und die Bilateralen I mit der EU aushandelte, hat für seinen Lebensabend ein Bergdorf gewählt: das Örtchen Château-d’Œx in den Waadtländer Alpen. Der 75-jährige Spitzendiplomat schliesst gern die Augen, bevor er eine Frage beantwortet. Dann aber formuliert er präzise und so sattelfest wie eh und je.
Um in der vertrackten Geschichte des EU-Rahmenabkommens noch einen Überblick zu haben, braucht es Sattelfestigkeit. 2014 erteilte der Bundesrat ein Verhandlungsmandat – man fuhr nach Brüssel und setzte sich an einen Tisch mit der EU. Fünf Jahre später war ein unterschriftsbereiter Vertrag ausgehandelt. Doch in der Schweiz stellten sich die SVP, Teile der CVP und vor allem auch die Gewerkschaften quer. Die Sozialpartner fürchten um den Lohnschutz.
Bundesrat Cassis versprach, er finde einen «Reset-Knopf» – und sucht noch immer danach. Doch weil die SVP in der Zwischenzeit ihre Begrenzungsinitiative lanciert hatte, legte man das Rahmenabkommen auf Eis: Wäre sie angenommen worden, wäre der Vertrag sowieso obsolet gewesen.
Die Stimmbevölkerung sagte Nein – und so ist der Rahmenvertrag mit der EU wieder das brennendste Politeisen im Feuer. Und just jetzt soll offenbar der Schmied ausgetauscht werden. Am Mittwoch entscheidet der Bundesrat, ob dem bisherigen Chefunterhändler Roberto Balzaretti das Dossier entzogen wird. Kellenberger will nicht über seinen Freund Balzaretti und einen möglichen Nachfolger reden, betont jedoch: «Roberto ist ein sehr guter Unterhändler und leistet ausgezeichnete Arbeit.»
Jakob Kellenberger, ist die Schweiz derzeit ein Zwerg oder ein Riese?
Wieso meinen Sie?
In Ihrem Buch «Wo liegt die Schweiz? Gedanken zum Verhältnis CH-EU» von 2014 prägten Sie den Satz: «Bald schrumpfen wir uns peinlich klein, bald blasen wir uns auf, was noch peinlicher ist.»
Es kommt ganz auf das Gegenüber an. Im Verhältnis zur EU neigen wir zum Aufblasen, gegenüber den USA zur Verzwergung.
Jetzt streitet die Schweiz wieder einmal über das Rahmenabkommen mit der EU – eine Never-ending-Story. Was zum Teufel ist da los?
Ach. (seufzt) Das Rahmenabkommen ist kein existenzielles Drama. Es hat den Zweck, die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU zu erleichtern und das von der Schweiz gewünschte bilaterale Zusammenarbeitsmodell zu festigen. Genau das macht es. Nicht mehr, nicht weniger.
Das Ding liegt seit zwei Jahren unterschriftsbereit auf dem Tisch.
Darum werden der Bundesrat und sein Chefunterhändler Roberto Balzaretti bald in Brüssel vorstellig werden und die Punkte besprechen, bei denen es Klärungsbedarf gibt.
Ist die Schweiz zu harmoniesüchtig?
Hören Sie: Ohne eine minimale Harmonie mit der EU mag ich mir die Zukunft der Schweiz nicht vorstellen. Ein Blick auf die Landkarte und in die Zahlen genügt, um die wirtschaftliche, geografische, kulturelle Bedeutung der EU zu erkennen. Aber ja, die Harmoniebedürftigkeit ist ein Schweizer Problem.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie «Leute am Werk sahen, die einen heiklen Punkt nur scheu am Schluss anzusprechen wagten, um dann der Presse zu berichten, wie kräftig sie auf die Trommel hauten».
(lacht) Ich habe ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Harmonie nie als hilfreich empfunden, auch privat nicht. Gerade ein Unterhändler muss Spannungen über eine längere Zeit aushalten. Trotzdem hat die Harmoniebedürftigkeit nicht dazu geführt, dass wir ohne Not wichtige Ziele preisgegeben haben. Obwohl: Im Verhältnis zu den USA hat die Schweiz das ewige Bankgeheimnis in Rekordzeit aufgegeben, weil sie verhindern wollte, dass eine Grossbank vor ein Gericht muss.
Da ist die Schweiz eingeknickt.
Das war das grösste Einknicken der Schweizer Souveränität, das ich in meiner Karriere erlebt habe. Ich kann den Entscheid in Anbetracht der Sachlage, der Machtverhältnisse und der robusten amerikanischen Verhandlungsmethoden gleichwohl nachvollziehen. Man soll den Fall nur nie in Souveränitätspredigten vergessen.
Der gebürtige Appenzeller Jakob Kellenberger trat 1974 in den diplomatischen Dienst der Schweiz ein. Er leitete als Chefunterhändler die Verhandlungen mit der EU zu den Bilateralen I. 2000 bis 2012 war er Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Kellenberger ist Ehrendoktor der Universität Basel und wurde mit dem Ehrenzeichen des Deutschen Roten Kreuzes geehrt. 2003 und 2012 wurde er mit einem Swiss Award ausgezeichnet.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat am Tag, als die Schweiz die SVP-Begrenzungsinitiative ablehnte, gesagt: «Ich freue mich, dass der Schweizer Bundesrat nun zügig vorankommen kann.» Da lässt Brüssel ordentlich die Muskeln spielen.
Ja. Frau von der Leyen hat gelegentlich eine lockere Ausdrucksweise, auch EU-intern. Die Idee des Bundesrats ist – so meine Hoffnung –, dieses Rahmenabkommen so schnell wie möglich abzuschliessen. Wir tun so, als ob es die EU gewesen wäre, welche das Verhältnis zur Schweiz bilateral regeln wollte. Dieses Beziehungsmodell entspricht einem schweizerischen Wunsch. Es ist schwer verständlich, wie rasch dies in gewissen Kreisen bei jeder Meinungsverschiedenheit vergessen geht.
Die Schweiz ist Bittstellerin?
Ich mag das Wort im Zusammenhang mit Verhandlungen nicht. Die Schweiz hängt stärker von der EU ab als die EU von der Schweiz. Das leuchtet jedem bei einem Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse ein. Die EU erhält auch etwas im Gegenzug. Dieser Vertrag festigt das Verhältnis, das die Schweiz seit Jahren zur EU wünscht – nämlich eine bilaterale Zusammenarbeit.
Ist Scheitern überhaupt eine Option? Sie schreiben in Ihrem Buch, eine Verhandlung könne nur zum Erfolg führen, wenn sie scheitern dürfe.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses Rahmenabkommen nicht zustande kommt. Ich nehme die Stellungnahmen und Profilierungsbedürfnisse wahr. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die Schweiz die bilaterale Zusammenarbeit mit der EU, die sie so wollte, wegen eines Abkommens ohne dramatische Änderungen in der Beziehung aufs Spiel setzen sollte.
Wenn es keine so dramatische Bedeutung hat, kann es auch scheitern.
Nein, das glaube ich nicht. Scheitert das Rahmenabkommen, zerbröckelt der Wert der bilateralen Marktzugangsabkommen, weil diese nicht mehr aktualisiert werden. Neue Hindernisse zum EU-Binnenmarkt sind die Folge. Eine Maschine, die in der Schweiz hergestellt und geprüft wird, müsste in der EU beispielsweise neu getestet werden. Und das macht diese Maschine am Ende teurer. Wenig beachtet wird, dass die Zusammenarbeitsbereitschaft der EU allgemeiner, nicht nur bei Marktzutrittsabkommen, abnehmen könnte.
Ist die EU denn wirklich nicht mehr zu Nachverhandlungen bereit, oder ist es einfach part of the game, dass sie das behauptet?
Die EU ist gelassener als die Schweiz. Der Bundesrat wünscht ein paar Klarstellungen. Brüssel hat sich diesem Wunsch nicht verschlossen, will aber keine neuen Verhandlungen. Die Begriffe «Klärungen» und «Verhandlungen» siedeln sich für mich im Übrigen in einer Grauzone an. Warten wir das Ergebnis dieser Klärungsversuche ab. Brüssel hat noch andere externe und interne Probleme. Man kann davon ausgehen, dass nicht so bald etwas Neues auf dem Tisch liegen wird, wenn die Schweiz das Abkommen verwirft.
Hat der Bundesrat zu unterwürfig verhandelt?
Nein, wieso soll er unterwürfig verhandelt haben?
Weil plötzlich Streitpunkte zur Verhandlungsmasse wurden, bei denen innenpolitisch die Mehrheit sagt, sie seien keine Verhandlungsmasse. Beispielsweise die Unionsbürgerschaft oder der Lohnschutz.
Meinen Sie denn, in der EU hätte es intern nicht auch Bevölkerungen, die vielleicht mit diesem oder jenem Punkt nicht einverstanden sind? Nochmals: Dieses Rahmenabkommen ist sehr gut ausgehandelt. Lassen Sie uns ein Beispiel rauspicken: die Entsenderichtlinie im Protokoll 1.
Also das Prinzip: gleicher Lohn für gleiche Arbeit.
Die EU hat begriffen, wie fundamental wichtig der Lohnschutz für die Schweiz ist. Der Schweiz ist es gelungen, die EU auf die Wichtigkeit des Prinzips «gleicher Lohn für gleiche Arbeit» zu sensibilisieren. Das Ergebnis davon ist ein sehr gutes Protokoll 1, das in zwei Punkten sogar über die EU-Entsenderichtlinie hinausgeht. So etwas schaffen nur gute Verhandler.
Daniel Lampart, der Chefökonom des Gewerkschaftsbunds, sagt, ein Schweizer Schreiner werde durch das Rahmenabkommen in die Sozialhilfe getrieben, weil wir am Ende polnische Löhne haben werden.
Ich bin nicht der Einzige, der diese Auffassung nicht teilt. Natürlich ist die Schweiz besonders exponiert wegen ihres Lohn- und Sozialschutzniveaus. Aber ich bin überzeugt davon, dass die Entsenderichtlinie das verhindert. As simple as that. Glauben Sie mir: Der Lohn und der Sozialschutz der Arbeitnehmer sind mir sehr wichtig. Das war schon bei den Bilateralen I so. Und er ist auch den EU-Mitgliedsstaaten sehr wichtig. Lohnschutz ist ein EU-Grundsatz. Er ist ein so weitverbreitetes Anliegen, dass wir sicher sein können, dass die Prophezeiungen von Herrn Lampart nicht eintreffen werden.
Das Rahmenabkommen sieht bei Streitigkeiten ein Schiedsgericht vor, bei dem ein Schweizer, ein EU-Mitglied und ein zu wählendes Mitglied dabei sind. Dieses Schiedsgericht untersteht dem Europäischen Gerichtshof. Die SVP argumentiert: Das sei etwa so, wie wenn die Schweiz und Deutschland Fussball spielten und der Schiedsrichter wäre ein Deutscher.
Dieser Vergleich ist komplett falsch. Wenn sich die Schweizer vorstellen, dass jemand anderes als der Europäische Gerichtshof das EU-Recht auslegen soll, haben wir wirklich ein Problem. Wir wollten bilaterale Marktzugangsverträge, die auf EU-Recht basieren. Wer soll das Recht denn sonst auslegen?
CVP-Präsident Gerhard Pfister sagt, die Rolle des Gerichtshofs sei «toxisch». Und Alt-Bundesrat Johann Schneider-Ammann meint, eine «faktische Unterstellung des Schiedsgerichts unter den Europäischen Gerichtshof» gehe zu weit.
Ich teile diese Einschätzungen nicht. Die Rechtsgrundlage des EU-Binnenmarkts ist das EU-Recht, für dessen Übernahme das Rahmenabkommen Regeln enthält. Also ist es doch normal, dass der Europäische Gerichtshof bei einer Auslegungsfrage seines eigenen Rechts zum Zug kommt. Weniger höre ich etwas sehr Wichtiges: Die Schweiz kann den verbindlichen Auslegungsentscheid im Gemischten Ausschuss ablehnen. Sie hat allerdings Ausgleichsmassnahmen zu akzeptieren. Ein Schiedsgericht befindet über deren Verhältnismässigkeit. Es ist aber sowieso fragwürdig, über etwas zu streiten, das eine absolute Ausnahme sein wird. Man macht aus einer Kleinigkeit ein Riesending. Streitigkeiten werden in aller Regel im Gemischten Ausschuss beigelegt.
Wie referendumsfähig ist das Rahmenabkommen? Kann man das mit Präzisierungen so festnageln, dass die Bevölkerung zustimmen wird?
Man muss das Volk fragen: Welche Bedeutung gibt die Schweiz dem diskriminierungsfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt? Und das in einer Zeit, in der die Globalisierung in der Defensive ist und die Chancen eines Zugangs zu anderen Märkten abnehmen könnten. Und über 50 Prozent unserer Exporte in die EU gehen. Das wird viele Leute zum Nachdenken bringen. Ich bin gespannt, wie nach einer Ablehnung argumentiert würde und welche Vorschläge für eine Alternative kämen. Und vor allem wäre ich gespannt, welche Leute bereit wären, einen neuen, für die EU akzeptablen Vertrag auszuhandeln.
Sie schreiben über Ihre Verhandlungen mit der EU: «Mit Angst wird von allen Seiten argumentiert, auch auf die Gefahr hin, sich zu blamieren.» Droht sich das jetzt zu wiederholen?
(lacht) Da haben Sie recht. Bei der EWR-Abstimmung baute man eine Drohkulisse mit irreparablen Schäden für die Wirtschaft auf. Und diese Schäden sind nicht eingetroffen, nicht zuletzt dank der Bilateralen I. Darum muss diese Diskussion jetzt unbedingt vernunftgetrieben sein. Ich weiss, Vernunft ist unpopulär heute. Aber ich bin von der alten Garde, für mich ist die Ausübung von Vernunft wichtig für die Glaubwürdigkeit.
Die Unionsbürgerrichtlinie im Rahmenabkommen ist der pinkfarbene Elefant im Raum, weil das Abkommen diese nicht explizit ausschliesst. Mit ihr könnten aber EU-Bürgerinnen in die Schweizer Sozialwerke einwandern. Die Gegner behaupten, da ticke eine Zeitbombe.
Zunächst finde ich den Begriff der «Einwanderung in die Schweizer Sozialwerke» aufgeblasen und entsprechend unangemessen. Es trifft dagegen zu, dass um den Begriff der «Erwerbstätigkeit» noch Klärungsbedarf besteht. Mit pinkfarbenen Elefanten und Zeitbomben bin ich weniger vertraut.
Wieso hat man denn bei einer Detailfrage, die innenpolitisch derart ausgeschlachtet werden kann, der EU nicht von Anfang an klarmachen können, dass das hoch problematisch ist für die Schweizer?
Wer behauptet, der EU seien die Probleme im Zusammenhang mit der Unionsbürgerrichtlinie nicht mehr als klargemacht worden? Sie ist übrigens einer der Gegenstände, wo die Schweiz noch Klärungen wünscht, vor allem über den Begriff der «Erwerbstätigkeit».
Sie schreiben in Ihren Erinnerungen an die EWR-Abstimmung, dass jene, die am lautesten dagegen gekämpft hatten, also Christoph Blocher und die SVP, dann am wenigsten an den konstruktiven Verhandlungen zu den Bilateralen I mitmachten. Also keine Verantwortung übernahmen.
Das ist richtig. Versetzen wir uns ins Jahr 1992: Damals herrschte nach dem EWR-Nein grosse Angst, weil man sie zuvor propagiert hatte. Dann hiess es in die Richtung von Kellenberger: Los, sofort Verhandlungen für die Bilateralen I aufnehmen und so den Schaden möglichst klein halten. Die EU hat sich bitten lassen. Zwischen unseren ersten Bemühungen zu verhandeln und der effektiven Aufnahme sind zwei Jahre verstrichen. Aber ja, die Partei, die immer einen bilateralen Ansatz wollte, hat nicht mitgemacht. Weil die SVP gar keinen bilateralen Weg will, sondern einen selektiven bilateralen Weg. Einen Weg, wo nur über Gegenstände verhandelt wird, die vor allem die Schweiz interessieren.
Die SVP betreibt also Rosinenpickerpolitik mit der EU?
Jawohl. Bilaterale Verträge, wenn es der Schweiz passt, wie beim Abbau wirtschaftlicher Handelshemmnisse. Keine Verträge bei der Freizügigkeit von Personen. Die SVP vergisst, dass es ein Geben und ein Nehmen ist. Und dass unser Gegenüber die grösste oder zweitgrösste Welthandelsmacht ist.
Vor gut drei Jahren sagten Sie, der Boden der EU sei «morsch geworden». Wie fest ist der Boden jetzt, gegen Ende 2020?
Die EU ist in einer heiklen Phase. Ihr Ehrgeiz ist es, einer der globalen Player zu sein, auch politisch. Und wenn man sieht, dass sie für ein Corona-Aufbauprogramm 750 Milliarden beschliessen könnte, wird klar: Da ist auch sehr viel Geld. Auf der anderen Seite hat die EU nicht zuletzt als Folge der Erweiterungen seit 2004 ein Solidaritätsproblem zwischen den Staaten.
Wie meinen Sie das?
Artikel 2 im Vertrag über die Europäische Union fordert von den Mitgliedsstaaten Rechtsstaatlichkeit. Sie ist ein Kern der EU. Aber Ungarn und Polen stellen sie infrage. Das Gleiche gilt für die Solidarität: Man darf von einer Union wie der EU erwarten, dass sie eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik hat. Man darf erwarten, dass sich alle Mitgliedsstaaten beteiligen und schutzbedürftige Menschen aufnehmen. Auch das geschieht im Falle gewisser Mitgliedsstaaten nicht. Nun ist die Ratsdiskussion über die letzten Kommissionsvorschläge abzuwarten. Die EU muss endlich eine klarere Sprache gegenüber diesen Mitgliedsstaaten finden. Die Nichtbeachtung dieser Grundsätze muss spürbare Folgen haben, sonst schwächt sich die EU enorm.
Wo ist der europäische Gedanke 2020 geblieben? Am Anfang der Pandemie blockierte beispielsweise Deutschland Schutzmaterial, während in Italien Tausende Menschen starben.
Das waren negative Beispiele in der Anfangsphase der Pandemie. Die EU hat sich sehr stark gebessert. Aber ja: Der Nationalstaat ist auch in der EU ein starkes politisches Gefäss geblieben. In dramatischen Situationen muss man immer mit nationalen Reaktionen rechnen. Es gibt zwar ein ganz anderes Gemeinschaftsgefühl als vor siebzig Jahren. Es wäre aber übertrieben zu sagen, auf dieses sei immer Verlass.
Die EU ist kein United States of Europe.
Nein, sie ist etwas zwischen Bundesstaat und Staatenbund.
Sie waren damals aus patriotischen Gründen für einen EU-Beitritt der Schweiz. Hand aufs Herz: Sind Sie heute froh, ist die Schweiz nicht dabei?
(überlegt lange) Aus wirtschaftlichen, geografischen, kulturellen und historischen Gründen ist der Platz der Schweiz in der EU. Zum jetzigen Zeitpunkt würde ich aber im Unterschied zu 1992 kein Beitrittsgesuch stellen. Die derzeitige Lage der EU ist zu unübersichtlich. Die Zukunftsaussichten sind durch die seit 2004 erfolgten Erweiterungen unsicherer geworden. Aber ich bleibe der Meinung, dass es im schweizerischen Interesse wäre, in der EU mitzuentscheiden. Die Schweiz liegt, wo sie liegt.
Jetzt können wir wenigstens mitreden.
Es gibt aber einen wichtigen Unterschied zwischen Mitentscheiden und Mitreden.
Kommen wir kurz weg von der Weltpolitik und blicken wir auf Ihren Nachttisch. Sie haben ja ursprünglich Literatur und Philosophie studiert. Was liegt dort gerade?
Ou Sie, da herrscht eine riesige Sauordnung. (lacht) Meine Frau Elisabeth sagt immer, ich soll endlich Ordnung schaffen. Literarisch lese ich gerade von Peter von Matt «Die tintenblauen Eidgenossen», sehr empfehlenswert, gut geschrieben und intelligent. Und von Ricarda Huch über die Geschichte des Römischen Reiches Deutscher Nation, im Moment bin ich bei Band drei, bis zur Auflösung des Reiches 1806. Dann liegt da «Der Stechlin» von Fontane, aber den hab ich schon etwa fünfmal gelesen. Der beruhigt mich immer.
Jetzt stehen wir kurz vor den US-Wahlen. Ist es naiv zu glauben, dass die Welt mit einem US-Präsidenten Joe Biden weniger Angst vor einem Weltkrieg haben müsste?
Trump versucht, sich als Friedensfürst zu konstruieren. Denken Sie an die Abkommen, die er zwischen Israel, den Emiraten und Bahrain förderte, oder die Abmachung mit den Taliban über die Bedingungen eines Abzugs ausländischer Truppen aus Afghanistan. Trotzdem bin ich überzeugt, dass Trump und seine globale Politik eine grosse Gefahr für den Weltfrieden sind. Sie kennt keinen respect de la différence. Trumps Weltpolitik akzeptiert nicht, dass es Staaten und Menschen gibt, die sich verschieden organisieren und unterschiedliche Prioritäten haben. Das Beharren auf der Einhaltung der Menschenrechte ist richtig. Glaubwürdig sind Lektionen aber nur, wenn die USA dies vorleben. Die Zeiten des Imperialismus sind vorbei, besonders wenn er einseitig auf militärischer und wirtschaftlicher Macht beruht. Mein Gefühl ist, das Biden die kleinere Gefahr für den Weltfrieden ist.
Sie glauben «an die Kraft des präzisen Wortes», schreiben Sie. «Als Diplomat ist es überhaupt kein Problem, hart zu sein, aber ein riesiges Problem, wenn man jemanden beleidigt.» Wie geht es Ihnen, wenn Sie sehen, wie Biden und Trump sich gegenseitig beschimpfen?
In der spanischen Literatur sagt der Held oft «te hablo como me hablas» – «Ich spreche mit dir so wie du mit mir». Biden hat also leider keine Wahl. Sie können keinen zivilisierten Ton aus vergangenen Zeiten durchstehen. Darum muss man vor der Konfrontation für sich festlegen, wo das eigene Anstandsminimum liegt.
Hat der russische Präsident Wladimir Putin ein Anstandsminimum? Sie haben ihn mehrmals getroffen.
Viermal, einmal nur zu zweit. Und einmal habe ich mit ihm verhandelt über den Zugang zu den gefangenen Tschetschenen, ein anderes Mal über den Zugang in Südossetien. Und ja, mir gegenüber war er stets anständig und höflich. Und er hat immer sein Wort gehalten. «Ja» war «Ja», und «Nein» war «Nein», nicht üblich in diesen Zeiten. In Teilen der westlichen Presse findet eine eigentliche Putin-Hetze statt. Und auf welche Beweise ist ein Teil der Hetze gestützt? Warum nicht auch versuchen, die russischen Herausforderungen zu verstehen? Verstehen heisst ja nicht einverstanden sein. Ja, klar, Russland ist ein autoritäres System. Aber wir wissen auch, was für Früchte demokratische Systeme hervorbringen können.
Inwiefern?
Herr Trump ist ein Ergebnis eines demokratischen Systems, Herr Bolsonaro und Herr Johnson auch. Und sie kennen das Verhältnis dieser Herren zur Wahrheit und zur Wahrhaftigkeit. Was nicht bedeutet, dass ich grundsätzliche Zweifel an der Überlegenheit der Demokratie als Staatsform hätte.
Wie muss ich mir ein Treffen mit Putin vorstellen? Gibt es da eine menschliche Ebene?
(überlegt lange) Ja, ich glaube schon. Als ich ihn im Jahr 2000 im Kreml traf, als er gerade Präsident geworden war, wusste ich: Ich brauche etwas, um mit ihm eine Beziehung herzustellen. Ich erinnerte mich, dass Putin die deutsche Sprache gern hat. Also sprach ich Deutsch. Ich vergesse das Lächeln nie, das dabei über sein Gesicht glitt. Verhandelt haben wir mit Übersetzern. Und am Schluss kam er zu mir und sagte auf Deutsch: «Ich sehe, Sie haben in Zürich studiert. Da war ich leider noch nie.» Die guten Beziehungen zu Herrn Putin erleichterten übrigens die Tätigkeit des IKRK in der Russischen Föderation.
Hadern Sie aus heutiger Perspektive mit diesen Begegnungen? Gerade wenn man jetzt sieht, dass Putin Oppositionelle mit Nervengift angreift?
Aber wer weiss das? Wo liegen die Beweise, dass Putin das angeordnet hat? Ich bin nicht bereit, einfach einem Politiker oder einem Zeitungsartikel zu glauben, der behauptet, der Anschlag habe auf Befehl von Putin stattgefunden. Über den Herrn Putin wird ja wirklich nur Schlechtes gesagt.
Aber jetzt fordern sogar Berlin und Paris Sanktionen gegen Russland, wegen des Mordversuchs an Nawalny. Lässt Sie das nicht umdenken?
Die Möglichkeit von EU-Sanktionen ändert nichts an meiner Erwartung handfester Beweise. Welche Sanktionen hat die EU übrigens gegen Saudiarabien ergriffen? Angeblich auf dessen Anweisungen soll Herr Khashoggi ermordet worden sein. Wendet die EU in ihrer Sanktionenpolitik überall die gleichen Kriterien an, folgt sie mehrheitlich dem Beispiel der USA oder spielen gewisse Interessen hinein?
Sie waren viel in Kriegsgebieten unterwegs und hatten dabei stets einen Gedichtband in der Tasche. Gedichte würden Ihnen eine Form von Geborgenheit geben. Welcher Text hat das bei Ihnen geschafft?
Gedichte sind Schriftstücke von Leuten mit einem enormen Ahnungsvermögen, die starke Gefühle formsicher zum Ausdruck bringen. Sie behandeln auch Probleme mit Nachdruck und Zurückhaltung, die einen selbst beschäftigen können. Zum Beispiel García Lorcas «Còrdoba lejana y sola». Es ist ein Gedicht über den ausweglosen Kampf, ein Ziel zu erreichen. Ein sehr schönes Gedicht. Lorca ist einer der Grossen des 20. Jahrhunderts – und wurde von den Franco-Faschisten ermordet.
Sie sind nun 75-jährig. Haben Sie je im Leben mit sich selbst gehadert?
Hadern? Ja, viel. Das ist nun aber wirklich sehr persönlich. Das bespreche ich praktisch nur mit meiner Frau. Und das hilft. Sie kann die Proportionen herstellen und relativieren. Elisabeth hat den Sinn fürs Wesentliche.
Ihre Frau ist Pfarrerstochter. Sie aber glauben nicht an Gott, sind Agnostiker.
Ich habe viele Glaubensdiskussionen mit meiner Frau. Ich kann gut nachvollziehen, warum Leute gläubig sind. Als Agnostiker habe ich nicht das Bedürfnis, die Bedeutung des Glaubens herunterzuspielen. Ich bin einfach nicht gläubig. Ich interessiere mich aber sehr für verschiedene Religionen und Weltanschauungen.
Viele Menschen werden im Alter religiöser oder spiritueller.
Das kann man bei mir nicht sagen.
Auch nicht im Pandemiejahr 2020, in dem das Vergängliche für viele Menschen näher scheint?
Ich bin gesund geblieben und dankbar dafür. Jeden zweiten Tag wird gejoggt. Wie üblich. Ich habe die Vorschriften befolgt. Corona hat in mir nichts verändert.
Wie stellen Sie sich den Tod vor?
Ach, den stelle ich mir gar nicht vor. Er beschäftigt mich auch nicht. Obwohl, objektiv, müsste er wohl.
Haben Sie Mühe mit dem Ruhestand?
Viele Menschen haben ein grosses Problem, wenn sie von einer Position, die Einfluss und Sichtbarkeit bot, ins Leere fallen. Ich hatte das nicht. Da hilft auch die Tatsache, dass Elisabeth und ich einst gemeinsam Literatur studierten. Wir haben sehr viel Stoff, um darüber zu sprechen.
Ganz untätig sind Sie ja heute auch nicht.
Diesem Lebensabschnitt Sinn zu geben, ist eine grosse Herausforderung. Und eigentlich ist mir das gelungen. Ich bin Präsident von Swisspeace, im Vorstand des Zentrums für humanitären Dialog in Genf und leite auf Spanisch ein Seminar über humanitäres Völkerrecht an der Universität in Salamanca. Bis 2018 war ich auch Gastprofessor am «Institut de hautes études internationales et du développement» in Genf. Zudem schreibe ich. Und vielleicht wird noch etwas draus. Und vergessen Sie den Sport nicht. In zwei Monaten ist endlich der Schnee fürs Langlaufen wieder da!
Ihre Töchter leben mit deren Familien in Manchester und in Dublin. Was sind Sie für ein Grossvater?
Ein abwesender. Und mit Corona ist es mit der Reiserei noch schwieriger. Ich habe mir keine Rollenvorstellung gemacht über das Grossvatersein.
Ihre Töchter haben Ihnen einst viele Vorwürfe gemacht, weil sie so abwesend waren. Haben Sie sich mit ihnen versöhnt?
Ja. Oder sie haben sich mit mir versöhnt. Aber ich muss mir eingestehen: Die enge Beziehung zwischen der Mutter und den Töchtern und der Grossmutter und den Enkeln ist das starke Band in der Familie. Bei uns in der Familie ist Elisabeth der starke Baum.
Was wären Sie ohne Ihre Frau Elisabeth geworden?
Ich glaube, das Gleiche. Wenn ich anerkenne, dass Elisabeth der starke Baum in der Familie ist, dann heisst es nicht, dass nicht auch Platz ist für einen Mann mit einer eigenen Persönlichkeit.