«Was will ich erfahren? Etwas Wesentliches»
Die Schweizer Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach war ständig auf Reisen, unermüdlich, getrieben. Nebst ihren Texten hinterliess sie ein beeindruckendes fotografisches Werk, das nun im Klee-Museum in Bern entdeckt werden kann.
Von Alexis Schwarzenbach, 29.09.2020
Ende Februar starb Peter Öhman in der Nähe von Stockholm. Obwohl kurz vor dem Lockdown schon zahlreiche Flüge ausfielen, liess ich es mir nicht nehmen, an der Beerdigung meines schwedischen Lieblingsonkels teilzunehmen. Auf Instagram teilte ich ein Porträt von Peter, das seine Tante Annemarie Schwarzenbach im Sommer 1937 von ihm als Sechsjährigem gemacht hatte. Scheinbar mühelos war es der Fotografin gelungen, den humorvollen und grosszügigen Charakter ihres Neffen einzufangen. Peter steht beim Kuhstall des elterlichen Guts vor einer Reihe Strassenschilder, die für ein Stadtentwicklungsprojekt seines Vaters angefertigt worden waren. Mit beiden Händen umfasst er einige der Holzstangen, seine dünnen Beine sind parallel dazu ausgerichtet, den Kopf dreht er strahlend zur Tante. Das Bild des Kindes fängt sehr präzise den Schalk und Humor ein, der die Persönlichkeit von Peter immer ausgezeichnet hat.
Alexis Schwarzenbach ist Historiker, Ausstellungskurator, Professor an der Universität Luzern und Grossneffe von Annemarie Schwarzenbach. Er hat mehrere wissenschaftliche Publikationen zu seiner Familiengeschichte geschrieben, unter anderem «Auf der Schwelle des Fremden», den Begleitband zur 2008 von ihm kuratierten Ausstellung über Annemarie Schwarzenbach.
Das Porträt ist in der sorgfältig kuratierten Ausstellung «Aufbruch ohne Ziel. Annemarie Schwarzenbach als Fotografin» zu sehen, die der Kunsthistoriker Martin Waldmeier im Zentrum Paul Klee in Bern ausgerichtet hat. Die mit einer überzeugenden, eigenständigen Haltung gestaltete Schau zeigt das Bild in der Abteilung «Kleine Begegnungen». Hier liegt der Fokus auf einem der grossen Talente von Annemarie Schwarzenbach: Sie hatte die Gabe, überall auf der Welt Menschen auf Augenhöhe zu begegnen – sie zu beobachten, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie schliesslich mit Respekt und Würde abzulichten, auch wenn sie oft aus völlig anderen Welten stammten als die Fotografin selbst.
Dabei ging sie im wörtlichen Sinn immer wieder vor ihrem Gegenüber in die Knie, vor allem wenn das Gegenüber kleiner war als die 176 Zentimeter grosse Schweizerin. Besonders deutlich wird das bei ihren zahlreichen Kinderporträts, zum Beispiel einem 1937 in den Südstaaten der USA porträtierten Baumwollpflücker. Er war etwa so alt wie ihr Neffe Peter, den sie im gleichen Jahr abgelichtet hat. Der von unten aufgenommene Junge mit ausgefranster Mütze und ängstlichem Blick lässt sichtbar werden, was Annemarie Schwarzenbach von den Lebensumständen der amerikanischen Sharecropper hielt: «Sie erhalten vom Plantagenbesitzer ein Stück Land, ein Maultier, Gerät, eine Hütte und Kredit in seinem Laden. Die Hälfte der Ernte soll ihnen gehören. Aber sie bekommen fast nie etwas. Ein Sharecropper – besonders wenn er ein Schwarzer ist –, der sich herausnehmen würde, sein Konto zu kontrollieren, würde von der Plantage vertrieben oder unter irgendeinem Vorwand von der Polizei gefasst – wenn man ihn nicht einfach lynchte. Dieses System ist der Ersatz, den die Herrenschicht der angelsächsischen Aristokraten nach der Niederlage im Bürgerkrieg für die Einrichtung der Sklaverei gefunden hat.»
Dass ein Museum auch seinem Forschungsauftrag nachkommen kann, zeigt ein weiteres Kapitel der Ausstellung. Titelgebend ist der 1933 entstandene Film «Neue Erde» des niederländischen Regisseurs Joris Ivens, der die Trockenlegung grosser Teile der Zuidersee zelebriert. Martin Waldmeier hat entdeckt, dass Annemarie Schwarzenbach den Film 1934 am Allunionskongress der Sowjetschriftsteller in Moskau gesehen hat. Beeindruckt hatte sie damals geschrieben: «Die Aufnahmen von der Arbeit sind von grosser Schönheit. Man meint hier, dass es richtig ist, die Technik, die solche Werke vollbringt, zu lieben. Man sieht, nachdem das Meer besiegt worden ist, die ‹Neue Erde›, noch schwer und feucht, noch unfruchtbar, wie aus dem Urmeer emporgetaucht. Über die einbrechenden Schollen geht in der Dämmerung der erste Mensch. Nach zehn Jahren Arbeit wird die erste Ernte eingebracht, Häuser erheben sich am Rand unendlicher Felder. Garben werden aufgehäuft, breite Mähmaschinen fahren durch das aufrauschende Korn.»
Die Schattenseiten der Modernisierung
Auf ihren Reisen durch vier Kontinente traf Annemarie Schwarzenbach immer wieder auf Modernisierungsprojekte ähnlichen Ausmasses und hat ihrerseits die «Neue Erde» in Bilder gefasst. In Ankara beobachtete sie, wie die Türkei eine neue Hauptstadt aus dem Boden stampfte, in den USA dokumentierte sie riesige hydroelektrische Anlagen, im französischen Kongo fotografierte sie die kürzlich fertiggestellte Eisenbahnlinie, die die Hafenstadt Pointe-Noire mit der Hauptstadt Brazzaville verband.
Obwohl sie die Vorteile solcher Vorhaben durchaus anerkannte, rückte sie auch die Schattenseiten der global fortschreitenden Modernisierung in den Blickpunkt. Während die begeisterte Autofahrerin in Athens, Tennessee, einen Autofriedhof fotografierte, auf dem ausrangierte Fords wie tote Insekten auf dem Rücken liegen, muten ihre Aufnahmen von zerstörten Landschaften im industrialisierten Nordosten der USA wie Visionen einer Zukunft an, auf die wir in Zeiten des Klimawandels erneut zuzusteuern scheinen.
Die an Zeitgenossen jeglichen Alters und jeglicher Herkunft genuin interessierte Fotografin richtete ihre Kamera aber auch immer wieder auf den Untergang traditioneller Lebensformen und das menschliche Leid, das mit dem Fortschritt einherging, den die Europäer bis in die hintersten Winkel der Erde trugen. Besonders deutlich wird dies auf einer Aufnahme, die Annemarie Schwarzenbach 1941 in der ostkongolesischen Provinz Kivu gemacht hat. Es ist das Porträt eines Arbeiters des Bergbauunternehmens Mines Grands Lacs. Der aus heutiger Perspektive seltsam androgyn anmutende Kongolese trägt nicht nur europäische Kleidung, auf seinem Kurzarmpullover prangt gross das Kürzel der Firma, die seinen Körper dazu benutzte, der angloamerikanischen Kriegsindustrie afrikanisches Erz zuzuführen.
Das Unterwegssein als Ziel
Im Kapitel «Zwischen den Kontinenten» legt die Ausstellung den Fokus auf die Reisende Annemarie Schwarzenbach, die im Nomadentum die für sie ideale Daseinsform erkannte. Fotografisch hielt sie ihr Lebensgefühl nicht nur durch die berühmten Aufnahmen ihrer Autos und der Strassen fest, auf denen sie unter anderem von Genf nach Kabul fuhr, sondern auch, indem sie andere Reisende im Limbo zwischen den Welten porträtierte.
Auf der Rückfahrt von Amerika 1937 machte sie eine Reihe eindrücklicher Aufnahmen von Mitreisenden, die bisher noch nie veröffentlicht worden sind. Dies vermutlich deswegen, weil die Richtung nicht zu stimmen schien, die diese offensichtlich wenig privilegierten Menschen einschlugen – vom vermeintlich sicheren Amerika zurück in das auf einen neuen Weltkrieg zusteuernde Europa.
Weil sich die Ausstellung vom linearen, biografischen Fokus löst, den fast alle bisherigen Auseinandersetzungen mit Annemarie Schwarzenbach eingeschlagen haben, wird der Blick frei auf das, was für die Autorin am Reisen so bedeutsam war: nicht das Ziel, sondern das Unterwegssein an sich. Einer Freundin schrieb sie 1938: «Was ist es, das mich immer zu neuem Aufbruch treibt? Was will ich erfahren? Etwas Wesentliches.»
Das fotografische Werk von Annemarie Schwarzenbach befindet sich in der Nationalbibliothek in Bern. Zusammen mit dem literarischen Nachlass hatte ihre Erbin Anita Forrer der Eidgenossenschaft 1980 über 7000 Aufnahmen ihrer Freundin geschenkt. Der Grossteil der Aufnahmen ist lediglich in Form von Negativen oder kleinformatigen Kontaktabzügen erhalten. Davon zeigt die Ausstellung eine Auswahl. Um das fotografische Werk zu würdigen, mussten jedoch auch grossformatige Ausstellungsprints hergestellt werden. Dafür konnte das Team des Zentrums Paul Klee auf Digitalisate zurückgreifen, die in den 2000er-Jahren mit Mitteln der Stiftung Memoriav erstellt worden waren. In einem aufwendigen Prozess wurden die Daten, die dem heutigen State of the Art bei der Digitalisierung historischer Fotobestände längst nicht mehr entsprechen, vom Museum so gut aufbereitet, dass bei den allermeisten Neuabzügen eine Tonalität und Tiefenschärfe erreicht wird, die der Qualität der Originalaufnahmen gerecht werden.
Auf unzähligen Ebenen
Eines der besten Resultate wurde bei einem Selbstporträt erzielt, das Annemarie Schwarzenbach 1937 in Knoxville, Tennessee, von sich machte. Sie hatte sich vor dem Schaufenster eines Lampenladens aufgestellt, in dem die Vorteile neuer Glühbirnen von General Electric angepriesen wurden. Auf unzähligen Bildebenen kann man nicht nur in das Geschäft hineinsehen, sondern auch die Fotografin selbst und das, was sich in ihrem Rücken abspielt, betrachten. Annemarie Schwarzenbach trägt, wie auf allen ihren Südstaatenreisen, statt Hosen einen unauffälligen langen Rock. Hinter ihr steht ein schwarzer Ford, vielleicht ihr eigener, auf der gegenüberliegenden Strassenseite wirbt eine Tankstelle für Motorenöl der Marke Esso.
Der Nachlass von Annemarie Schwarzenbach war, zumindest bis zum 100. Geburtstag der Autorin im Jahr 2008, einer der meistkonsultierten im Schweizerischen Literaturarchiv. Auch wenn inzwischen fast alles, was dort an Texten vorhanden ist, ausgewertet und publiziert worden ist, zeigt die Berner Ausstellung, dass es noch immer Dinge zu entdecken gibt. Auf einem der Briefumschläge, mit denen die Fotojournalistin 1941 in Lissabon ihre Negative für Bildredaktionen in der Schweiz thematisch ordnete, hielt sie fest: «Alles Material unbedingt mit meinem Namen publizieren.»
Annemarie Schwarzenbach wollte nicht nur als Schriftstellerin wahr- und ernst genommen werden, sondern auch als Fotografin. Knapp 80 Jahre später ist ihr dies mit einer beeindruckenden Werkschau im Zentrum Paul Klee endlich gelungen.
«Aufbruch ohne Ziel. Annemarie Schwarzenbach als Fotografin», Zentrum Paul Klee, Bern, bis zum 3. Januar 2021. Katalog: Nina Zimmer, Martin Waldmeier, Zentrum Paul Klee (Hrsg.), «Aufbruch ohne Ziel. Annemarie Schwarzenbach als Fotografin», Lars Müller, Zürich 2020, 144 Seiten, 85 Abbildungen, ca. 30 Franken.