«Ich verstehe natürlich, dass ihre Sitzungen wichtiger sind als mein erstes Lächeln»
Die Schweiz entscheidet über zwei Wochen Vaterschaftsurlaub. Zu kurz kamen im Abstimmungskampf die eigentlichen Nutzniesser der Vorlage, die Neugeborenen. Wir trafen einen drei Wochen alten Säugling für ein ernstes Wörtchen.
Von Patrick Karpiczenko, 26.09.2020
Herr Säugling, schön, haben Sie den Weg zu uns gefunden.
Keine Ursache. Ich wurde gefahren und konnte unterwegs etwas schlafen.
Bevor wir loslegen. Möchten Sie etwas trinken?
Zu Milch würd ich jetzt nicht Nein sagen.
Die Milch ist leider aus.
Toll.
Sie haben die ersten drei Wochen Ihres Lebens gerade hinter sich – wie präsent war Ihr Vater?
Er tut sein Bestes. Er kauft ein. Er kocht. Sein Unterhaltungswert ist nicht von der Hand zu weisen. Er bildet gerade wertvolle Erinnerungen – ich freu mich für ihn. Aber in der Milchproduktion seh ich Defizite.
Reichen zwei Wochen?
Niemals. Aber es handelt sich um Schritte in die richtige Richtung. Babyschrittchen, wenn man so will. (Lacht. Grunzt. Furzt.)
Was wäre eine vernünftige Lösung?
Wenn es nach mir ginge, müssten meine Erzeuger gar nicht mehr den Raum verlassen. Aber ich verstehe natürlich, dass ihre Sitzungen wichtiger sind als mein erstes Lächeln. Das nordische Modell – eine bis zu zwei Jahre lange flexible Elternzeit – wär zum Beispiel eine grosse Entlastung.
Wie haben Sie den Abstimmungskampf erlebt?
Da ich nur drei Wochen alt bin, blieben mir ein Grossteil der Debatten erspart. Was mir dennoch Eindruck gemacht hat, sind die grossen Erwartungshaltungen.
Erwartungshaltungen?
Kaum habe ich meinen ersten Atemzug getan, werde ich von allen Seiten auf meinen Impact auf die Volkswirtschaft reduziert! Selbst über meine eigene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wird verhandelt. Dabei beschränkt sich mein Output im Moment lediglich auf Stuhlgang. Aber ich bin bereit, diesen voll und ganz wieder in die Wirtschaft fliessen zu lassen – zusammen mit all meinen liquiden Mitteln.
Dieses Wirtschaftsdenken. Stinkt Ihnen das?
Wenn hier etwas stinkt, dann war das wohl ich. Excusé.
Ist Ihr Vater jetzt wieder im Büro?
Ja. (Furzt)
Was bedeutet das für Sie, Herr Säugling?
Mich tangiert das nur indirekt. Aber das Pensum meiner Mutter hat sich auf einen Schlag verdoppelt. Ich werde nach zwei Wochen nicht magischerweise weniger anstrengend. Ohne Vater zu Hause bin ich für meine Mutter zum Vollzeitjob geworden. Ihr Beruf, ihre Hobbys, ihre Person – alles muss sie nun zurückstecken.
Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Ich plane ein Schläfchen, den einen oder anderen Impromptu-Schreikrampf und hoffe darauf, dass sich die Milchsituation verbessert.
Wir dachten jetzt eher an die langfristige Zukunft.
So weit plane ich nicht. Aber wenn meine Interessen und Neigungen dieselben bleiben wie heute, werde ich narkoleptischer Milchjunkie mit Hang zur Bulimie, aber das kann sich ja noch ändern.
Macht es überhaupt Sinn, im Jahr 2020 auf die Welt zu kommen? Die Aussichten sind ja nicht gerade rosig.
Sie sprechen den Klimawandel an. Ja, die Geburt war in der Tat ein Schock. Als ich realisierte, in was für Umstände ich hier geboren wurde, musste ich, ehrlich gesagt, laut hinausschreien.
Was raten Sie erwachsenen Paaren, die mit dem Gedanken spielen, ein Kind zu bekommen?
Wer am liebsten über Körperflüssigkeiten spricht, asoziale Tendenzen hat und Schlaf verachtet, dem wird auch ein Kind viel Freude bereiten.
An diesem Punkt beendete der Säugling das Interview. Er schlief ein.