Briefing aus Bern

Bundesplatz geräumt, Bundesrichter gewählt – und kein Maulkorb für Daniel Koch

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (116).

Von Dennis Bühler, Adrienne Fichter, Bettina Hamilton-Irvine, Carlos Hanimann und Cinzia Venafro, 24.09.2020

«Ist der Nause am Schlafen?! Das ist unterste Schublade hier!» Der Zürcher SVP-National­­rat Mauro Tuena blickte ungläubig, aber irgendwie auch fasziniert auf den Bundes­platz. Hunderte Klima­aktivistinnen vor sich, die in der letzten Sessions­woche öffentlichen Raum vor dem Bundes­haus besetzen. Illegal – denn Kund­gebungen und Demonstrationen auf dem Bundes­platz sind seit den 1920er-Jahren während des Rats­betriebs verboten.

Auffallend: Die Aktivisten gaben sich redlich Mühe, nebst dem Demonstrations­verbot nicht noch weitere Gesetze zu brechen. Überall auf dem Platz prangten selbst gemalte Schilder mit der Aufschrift: «Bitte: Masken­pflicht. 1,5 Meter Abstand. Hände desinfizieren. Kein Alk/keine Drogen. Respektvoll sein.»

Mit der Besetzung griffen die Aktivistinnen, die, wie Berns Stadt­präsident Alec von Graffenried irgendwie bewundernd bemerkte, «sehr gut organisiert sind», auf das Kampf­mittel des zivilen Ungehorsams zurück. «Unsere scheinbare Demokratie hat Instrumente, welche für die Lösung der Klima­krise nicht geeignet sind. Wir brauchen ein neues Verständnis von Demokratie, welches die Interessen aller von der Klima­krise betroffenen Personen einbezieht», sagt eine Sprecherin der Klimajugend dazu.

Und so kam die links-grüne Stadt­regierung ziemlich in die Bredouille: Einerseits sympathisiert sie mit dem Anliegen der Demonstranten. Andererseits wäre sie dafür verantwortlich, dass auf dem Bundes­platz Recht und Ordnung herrscht. So forderten rechte Politikerinnen bereits am ersten Tag der Besetzung: «Nehmt Bern den Bundesplatz weg!»

Klimajugend auf dem Bundesplatz: Nach mehreren Ultimaten beginnt die Berner Polizei Dienstag­nacht mit der Räumung. Goran Basic

In der Nacht von Sonntag auf Montag waren sie angerückt. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch erklangen dann die Kreis­sägen der Feuer­wehr, welche die Klimaaktivisten losschneiden mussten. Denn einige hatten sich an ihre Velos gekettet. Singend liessen sie sich wegtragen. Im Wissen, erreicht zu haben, was sie wollten: Aufmerksamkeit!

Kaum waren sie weg, stimmten im Bundeshaus zuerst der Nationalrat und dann auch der Ständerat dem Antrag der Einigungskonferenz zum revidierten CO2-Gesetz zu, welches somit jetzt bereit ist für die Schluss­abstimmung. Es sieht einen Klima­fonds vor, gespeist von Lenkungs­abgaben. Sie stammen unter anderem aus einer Flugticket­abgabe und Abgaben auf Benzin und Heizöl. So soll die Schweiz ihr Ziel erreichen, die Treibhaus­gas­emissionen bis 2030 gegenüber 1990 zu halbieren. Der Klima­jugend geht das Gesetz allerdings viel zu wenig weit. Obwohl sie bereits entschieden hatte, auf ein Referendum dagegen zu verzichten, zieht sie ein solches nun wieder in Betracht – auch wenn sie dafür mit der SVP zusammen­spannen müsste, der das CO2-Gesetz wieder viel zu weit geht.

So sagte Auto­liebhaber Mauro Tuena zur Republik, während er noch immer luft­schnappend nach dem Berner CVP-Sicherheits­direktor Nause ruft: «Erstens lasse ich mir nie mehr von diesem Nause eine Park­busse geben in dieser Stadt, die solch illegales Treiben derart lange duldet. Und zweitens: Das Referendum gegen das CO2-Gesetz ist sicher. Ich werde persönlich um jede Unterschrift kämpfen.»

Und so kommt es, wer weiss, vielleicht gar zur unheiligen Allianz zwischen Klima­jugend und SVP. Wer sich dann wo und an wem ankettet?

Und damit zum Briefing aus Bern.

Wahl der Bundesrichter: Auch SVP-Richter wird bestätigt

Worum es geht: Das Parlament hat am Mittwoch­morgen alle bisherigen Bundes­richter wieder­gewählt, darunter auch SVP-Richter Yves Donzallaz (mit 177 von 239 gültigen Stimmen). Die SVP hatte zuvor angekündigt, ihren eigenen Richter nicht wieder­zuwählen, da seine Urteile teilweise nicht der Partei­linie entsprachen.

Warum Sie das wissen müssen: Die Abwahl­empfehlung der SVP hat in den vergangenen Tagen grundsätzliche Diskussionen über den Rechtsstaat ausgelöst. Die Grünen forderten gar den Ausschluss der SVP aus der Regierung, weil sie die Gewalten­trennung missachte. Die SP wollte die Richter­wahl verschieben. An Fahrt gewann auch die Debatte über die Partei­zugehörigkeit der Richterinnen, ihre kurze Amts­dauer und die damit verbundene Abhängigkeit von Parlament und Parteien. In der Warte­schlaufe steht in diesem Zusammen­hang die Justiz­initiative, die verlangt, dass Richter per Los­entscheid gewählt werden.

Wie es weitergeht: Die Bundes­richterinnen sind für die Amts­periode von 2021 bis 2026 im Amt. Die Debatte um Druck­versuche auf Richterinnen, ihre Partei­zugehörigkeit und ihre Unabhängigkeit dürfte weitergehen.

Transparenz-Initiative: Nationalrat will keinen Gegenvorschlag

Worum es geht: Der National­rat hat einem Gegen­vorschlag zur Transparenz­initiative aus dem Ständerat eine Absage erteilt. Mit diesem wollte die kleine Kammer dem Volks­begehren den Wind aus den Segeln nehmen. Dass der National­rat andere Pläne hat, bedauerte Nadine Masshardt, SP-National­rätin und Co-Präsidentin der Initiative: «Die Transparenz der Politik­finanzierung würde die Demokratie und das Vertrauen der Bürger in die Politik stärken», sagte sie.

Warum Sie das wissen müssen: Partei­spenden können in der Schweiz anonym getätigt werden. Dies will die Transparenz­initiative ändern: Komitees und Parteien sollen ihre Finanzen offen­legen müssen – und Spenden ab 10’000 Franken deklarieren. Diverse inter­nationale Organisationen kritisieren die Schweiz für ihr intransparentes System in Sachen Partei­finanzierung – das Europarat-Gremium Greco bezeichnet es als «ungenügend».

Wie es weitergeht: Der indirekte Gegen­entwurf zur Transparenz­initiative geht nun zurück in den Ständerat. Sagt dieser dann auch Nein und bleibt der Nationalrat bei seiner Absage, kommt die Initiative ohne Gegen­vorschlag vors Volk – voraussichtlich nächstes Jahr.

Datenschutzgesetz droht kurz vor dem Ziel zu scheitern

Worum es geht: Es wurde bis auf den letzten Zenti­meter gefeilscht. Und jetzt, drei Jahre nachdem das Parlament darüber zu debattieren begann, könnte die Revision des Daten­schutz­gesetzes verworfen werden. Uneinig sind sich die beiden Kammern vor allem beim Profiling – also der automatisierten Verarbeitung von Personen­daten zu Persönlichkeits­profilen. Davon spricht man, wenn etwa Online­shops tracken, wie ihre Nutzer surfen, und ihnen darauf basierend eine Kauf­empfehlung abgeben. Eine Mehrheit des National­rats wollte keinerlei Bedingungen daran knüpfen, während der Ständerat will, dass für Profiling «mit hohem Risiko» eine Einwilligung nötig wäre. Das wäre etwa bei Bonitäts­einschätzungen der Fall.

Warum Sie das wissen müssen: Wenn Schweizer Unter­nehmen die Daten von Personen ohne deren Wissen und Einverständnis verarbeiten können, dann sei das ein Rück­schritt zum Gesetz von 1992, warnte Justiz­ministerin Karin Keller-Sutter (FDP). Doch die FDP-Fraktion wider­spricht ihrer eigenen Bundes­rätin, indem sie die Haltung vertritt, Bedingungen für das Profiling würden einen unnötigen «Swiss Finish» bedeuten, also strenger als die EU-Verordnung DSGVO ausfallen. Diese Argumentation ist jedoch nicht haltbar, da die Schweizer Daten­schutz­gesetz­revision nach aktuellem Stand nicht EU-kompatibel wäre: Gemäss DSGVO ist die Verarbeitung von Personen­daten per se nicht erlaubt. In der Schweiz dagegen ist Daten­verarbeitung generell zulässig. Im Gegensatz zur EU-Verordnung fehlt in der Schweizer Daten­schutz­revision zudem ein Widerspruchs­recht von Bürgerinnen zur Verarbeitung von persönlichen Daten. Das ist insofern relevant, als dass die EU derzeit auch die Gleich­wertigkeit des Daten­schutz­niveaus der Schweiz überprüft. Eine Entscheidung hätte diesen Sommer fallen sollen, wurde aber vertagt.

Wie es weitergeht: Weil beide Kammern an ihren Lösungen fest­halten, kommt heute Donnerstag die Einigungs­konferenz zum Zug. Bereits jetzt droht eine unheilige Allianz von SVP, SP und Grünen im National­rat damit, die Vorlage in der Schluss­abstimmung abzulehnen. Kommt keine Revision zustande und wird der Schweiz deshalb die EU-Äquivalenz entzogen, droht Rechts­unsicherheit für die Schweizer Unternehmen.

Bundesrat: Kassen sollen keine Prämien auf Vorrat erheben

Worum es geht: Um 0,5 Prozent steigen die Kranken­kassen­prämien im nächsten Jahr. Das sei der dritt­kleinste Anstieg der letzten 20 Jahre, sagte Gesundheitsminister Alain Berset. Derweil fordert der Bundesrat von den Kranken­kassen, dass diese nicht mehr Prämien auf Vorrat erheben. Denn weil die Kassen Prämien jeweils aufgrund von Schätzungen berechnen, lagern derzeit rund 8 Milliarden auf den Konten der Versicherer. Laut Gesetz müssen die Prämien aber den effektiven Kosten entsprechen. Der Bundesrat macht nun also Druck: In seinen Augen sind die Reserven viel zu hoch.

Warum Sie das wissen müssen: Die Kranken­kassen­prämien sind eines der politisch aufgeladensten Themen. Derzeit sind zwei Initiativen in der Pipeline, welche die Kosten regulieren wollen. Die sogenannte CVP-Kostenbremse-Initiative ist eingereicht. Und die SP wartet darauf, dass ihre Prämien-Entlastungs-Initiative ins Parlament kommt. Diese verlangt, dass Prämien künftig nicht mehr als 10 Prozent des Haushalts­budgets betragen dürfen.

Wie es weitergeht: Der Bundesrat kann die Kranken­kassen nicht zwingen, ihre eigenen Reserven abzubauen. Doch nutzen sie den Spiel­raum, den ihnen der Bundesrat durch diese Verordnungs­änderung gibt, könnten die Prämien in den nächsten ein bis zwei Jahren sogar sinken. Und die Kassen könnten die Rück­erstattungen an ihre Kunden nicht mehr als Marketing­botschaft nutzen: Schliesslich steht den Versicherten dieses Geld zu.

Nachtzüge: Gegenwehr gegen die Ausbau­pläne der SBB

Worum es geht: Die SBB wollen in Kooperation mit den Österreichischen Bundes­bahnen (ÖBB) künftig mehr Nachtzug­verbindungen anbieten – sofern sie dafür Geld aus dem staatlichen Klimafonds erhalten. Das ärgert die Konkurrenten im Fernreise­bereich. Die Rede ist von «inakzeptabler Wettbewerbsverzerrung». Auch im Parlament kommt es zu Widerstand: 60 National­räte haben ein Postulat des Aargauer SVP-Politikers Benjamin Giezendanner unterzeichnet, der den Bundesrat auffordert, den Plan der SBB sofort zu stoppen. Giezendanner will verhindern, dass Geld aus dem Klima­fonds des neuen CO2-Gesetzes zu den SBB-Nacht­zügen fliesst.

Warum Sie das wissen müssen: Der nächtliche Passagier­transport ist seit jeher defizitär, weshalb die SBB seit 2008 keine eigenen Nacht­züge mehr anbieten und auch die Deutsche Bahn aus dem Geschäft ausgestiegen ist. Wegen der Klima­erwärmung kamen inner­europäische Billig­flüge zuletzt aber immer stärker in Verruf. Bereits bieten SBB und ÖBB Nacht­züge nach Berlin, Hamburg, Prag, Wien, Budapest, Graz und Zagreb an; in einem Jahr soll eine Verbindung nach Amsterdam hinzukommen, spätestens 2024 dann auch nach Rom und Barcelona. Die SBB rechnen mit einem Verlust von 30 Millionen Franken pro Jahr.

Wie es weitergeht: Die Regierung hat nun bis zur nächsten Session Zeit, zum Postulat Stellung zu beziehen; im Dezember wird der National­rat darüber befinden. Sagt er Ja, muss der Bundes­rat dem Parlament innert zwei Jahren einen Bericht zum Postulat vorlegen.

Schluss: Frage der Woche

Daniel Koch ist überall. Auch nach seiner Amtszeit weiss sich der ehemalige Mister Corona noch medien­wirksam in Szene zu setzen: Er inszeniert sich in Magazin-Homestorys, fährt Langlauf auf Rasen, sprintet im Anzug, tritt am Zürcher Filmfestival auf, schreibt ein Buch. Doch seine Omnipräsenz freut längst nicht alle: Ob Koch nicht einmal die Schnauze halten könne, fragt der SVP-Nationalrat Jean-Luc Addor den Bundes­rat in der parlamentarischen Frage­stunde. Wobei er das Ganze natürlich weit höflicher formuliert: Wäre es nicht angebracht, so Addor, dass der Bundesrat Koch nun an seine Pflicht, sich zurückzuhalten, erinnert? Nein, wäre es nicht, antwortet Gesundheitsminister Alain Berset ähnlich höflich in einer offiziellen Stellung­nahme: «Nun, da er sich im Ruhe­stand befindet, steht es ihm frei, seine persönliche Meinung zu äussern, sofern er die Verpflichtungen des Amts­geheimnisses respektiert, die nach dem Ende seines Dienstes bestehen bleiben.» Während Koch jetzt also den bundes­rätlichen Segen hat, auf alle Ewigkeit in der Öffentlichkeit zu bleiben, hat das Bundes­amt für Gesundheit mit Kochs Nachfolger das gegenteilige Problem: Stefan Kuster verabschiedet sich überraschender­weise bereits nach wenigen Monaten wieder, wie am Mittwoch bekannt wurde. «Auf seinen Wunsch hin», sagt das BAG, alles andere ist unklar. Und wird es möglicher­weise auch bleiben, denn dass der ruhige und sachliche Kuster noch ein Enthüllungs­buch schreiben wird, ist eher unwahrscheinlich.

Illustration: Till Lauer