Binswanger

Das Muster des Todes

Die Corona-Pandemie breitet sich wieder stärker aus. Jetzt zeigt sich, warum das so gefährlich ist: Sie greift über auf ältere Menschen. Auch in der Schweiz.

Von Daniel Binswanger, 12.09.2020

Inzwischen sind wir also fröhlich auf dem Vierhunderter-Plateau angekommen – sofern die 528 Fälle von gestern nicht bereits das neue Mass der Dinge sein sollten. The sky is the limit! Die Covid-Ausbreitung, vor der die Wissenschaft seit Wochen pausenlos warnt, schreitet unerbittlich voran.

Es gibt dennoch ein paar gute Nachrichten.

Die erste: Es hat länger gedauert, als es denkbar gewesen wäre. Anfang Juli, als die Zahlen wieder deutlich anzuziehen begannen, warnte Matthias Egger, damals noch Leiter der wissenschaftlichen Covid-Taskforce des Bundesrates, schon in der zweiten Julihälfte könnten 400 tägliche Fälle erreicht werden. Doch es hat sich erwiesen, dass der Anstieg langsamer war, scheinbar unaufhaltsam zwar, aber bisher nicht von einer Dynamik, welche die Dinge unvermittelt ausser Kontrolle geraten liess.

Das dürfte viel mit der zweiten guten Nachricht zu tun haben: Die Behörden haben zwischenzeitlich doch so einiges getan. Zwar zögerlich, zwar relativ unkoordiniert und alles andere als frei von Wider­sprüchen. Aber die Masken­pflicht und ihre Ausweitung, die Redimensionierung der zulässigen Versammlungs­grössen, die konsequentere Durch­setzung der Quarantäne­pflichten – all das dürfte dazu beigetragen haben, den Anstieg der Fallzahlen zu verlangsamen. Nicht zu verhindern, aber wenigstens zu verlangsamen.

Zwar kommt es weiterhin dazu, dass Bundesbern sich plötzlich doch zu erratischen Allein­gängen hinreissen lässt. So etwa letzte Woche, als die Landes­regierung beschloss, die Stadien im Oktober wieder zu öffnen, auch die überdachten, und bis zu 60 Prozent ihrer Kapazität zu füllen. Und auch Alkohol soll ausgeschenkt werden. Das macht angesichts der bedrohlichen epidemiologischen Gesamt­situation sonst absolut niemand in Europa. Aber, hey: Sonderweg ist Sonderweg.

Der Bundesrat wird nun einmal von einer «wirtschafts­freundlichen», rechts­bürgerlichen Mehrheit dominiert – auch wenn das weder den Partei­präferenzen des Souveräns noch der Sitzverteilung im Parlament entspricht. In einer Pandemie, das beweisen nicht nur die USA, hat man halt die Regierung, die man hat. Dem Föderalismus sei Dank können ja theoretisch die Kantons­behörden alkoholisierten Super-Massen­veranstaltungen einen Riegel vorschieben. Was sie vielleicht sogar wagen werden – wenn wir erst einmal bei 600 oder 800 oder 1000 täglichen Ansteckungen sind.

Man könnte auch von einer idealen Welt träumen, einer einiger­massen rational regierten Welt, in der sämtliche heutigen Massnahmen getroffen worden wären, als die Fallzahlen noch bei 100 lagen. Als es noch viel leichter gewesen wäre, das Infektions­geschehen auf dem bestehenden Niveau zu stabilisieren. Mit minimalem wirtschaftlichem und menschlichem Schaden kommt durch eine Epidemie nur, wer frühzeitig handelt. Die helvetische Politik gehorcht jedoch weiterhin völlig anderen Gesetzen: Unsere Behörden müssen nach wie vor immer warten, bis die Fallzahlen wieder einen kräftigen Schub bekommen haben, bevor sie Massnahmen ergreifen können, ohne auf allzu grossen Widerstand zu stossen.

Natürlich sind die Fallzahlen per se nicht das Mass aller Dinge. Heute wird mehr getestet als zu Beginn der Pandemie, und mit steigenden Testzahlen steigen auch die erfassten Infektionen.

Das bringt uns zur dritten und wichtigsten guten Nachricht: Die Positivitäts­raten haben sich stabilisiert und sinken tendenziell momentan wieder. Das dürfte ein Hinweis darauf sein, dass sich das reale Infektions­geschehen etwas verlangsamt hat – auch wenn das günstigere Verhältnis von durchgeführten Tests und gefundenen Ansteckungen sicherlich auch damit zu tun hat, dass in den letzten Wochen zunehmend Grippe- und Erkältungs­patienten zu Covid-Verdachts­fällen wurden. In der Woche vom 10. August lag die Positivitäts­rate bei 4,3 Prozent im Schweizer Durchschnitt, letzte Woche bei 3,3 Prozent. Das ist insofern ermutigend, als die Positivitäts­raten von Mitte Juni bis Mitte August kontinuierlich gestiegen waren und die wohlfeile Erklärung, steigende Fallzahlen würden nur durch grössere Testvolumen hervorgerufen, ad absurdum führten. Wird sich die Positivitäts­rate um die 3 Prozent stabilisieren oder gar weiter sinken? Es wäre zu hoffen.

Das weiterhin auch in sogenannten Qualitätsmedien zirkulierende Haupt­argument der Corona-Skeptiker ist allerdings ohnehin ein anderes, nämlich dass die Hospitalisierungen seit Juni kaum mehr zunehmen. Sowohl die Todesfälle als auch die Hospitalisierungen bleiben seit mehreren Wochen auf niedrigem Niveau sehr stabil. Letzte Woche starben im Schnitt jeden Tag zwei Personen an Covid. Lediglich zwanzig Patientinnen waren schweizweit in diesem Zeitraum in Intensiv­pflege. Warum also sollen wir uns Sorgen machen? Schliesslich sind nicht die Infektionen als solche ein Problem, sondern nur die angerichteten gesundheitlichen Schäden, also die schweren Verläufe, Hospitalisationen, Todesfälle und die Erkrankungen mit Langzeit­folgen. Was also soll das «Herbei­rechnen» einer Epidemie, wenn doch die Spitäler leer bleiben?

Bereits vor drei Wochen habe ich an dieser Stelle die Antwort zusammengefasst, welche die Basler Epidemiologin Emma Hodcroft auf diese Frage gab: Trotz niedriger Hospitalisations- und Todesraten sollten wir beunruhigt sein, weil die Ansteckungen zwar momentan überwiegend junge Menschen betreffen, die Gefahr aber gross ist – wie man von den Verläufen in anderen Ländern weiss –, dass das Virus aus diesem Infektions­reservoir nach einer gewissen Zeit auf andere Alters­kohorten überspringt und dann die schweren Verläufe und Todes­fälle rapide nach oben schnellen.

Hodcroft berief sich primär auf das Beispiel von Florida, das ab Ende Mai einen steilen Anstieg der Infektionen in den jungen Alters­kohorten erlebte, ohne dass es zunächst vermehrt zu schweren Fällen gekommen wäre. Dramatisch veränderte sich die Situation in Florida dann allerdings in den ersten Juliwochen. Das Virus griff plötzlich in grosser Zahl auf ältere Menschen über. Spitäler und Leichen­hallen begannen sich zu füllen.

Als Reaktion auf die Warnung von Hodcroft schrieb mir eine wichtige Schweizer Exekutiv­politikerin in einer persönlichen Nachricht: «Florida? Wird da nicht die Komplexität des Phänomens Pandemie etwas allzu heftig reduziert?» Florida mit der Schweiz vergleichen? Das sei doch an den Haaren herbei­gezogen und nicht zielführend.

Dass es leider doch zielführend sein dürfte, hat sich in den letzten Tagen weiter bestätigt. Die Einschläge kommen näher: Auch in Frankreich – insbesondere in Marseille und Paris – und in Spanien – insbesondere in Madrid – lässt sich exakt dasselbe Phänomen beobachten. Das Virus hat sich dort zunächst in den jungen Bevölkerungs­gruppen ausgebreitet, die Hospitalisations­raten sind lange tief geblieben. Bis die Lage jetzt gekippt ist.

Am Mittwoch gaben die Spitäler von Marseille bekannt, dass sie wieder Spezial­kapazitäten für Covid-19-Patienten aufbauen müssen. In den voran­gehenden sieben Tagen hatte sich die Zahl der Fälle in Marseille, die Intensiv­betreuung benötigen, auf 53 verdoppelt. Wer sich fragt, wie es dazu kommen konnte, dass in der Mittelmeer­stadt die schweren Verläufe plötzlich wieder dramatisch zunehmen, braucht sich nur die sogenannte Heatmap der Infektions­häufigkeit pro Alters­gruppe für die Region Bouches-du-Rhône anzusehen. Es ist derselbe Verlauf zu beobachten wie im Juni in Florida: Erst gehen die Infektionen hauptsächlich bei den 20- bis 30-Jährigen hoch, und an einem bestimmten Punkt greifen sie über.

Die Heatmap von Paris sieht quasi identisch aus, auch wenn Marseille eine Woche «weiter» ist. Die Pariser Spitäler haben ebenfalls mit der Planung für einen neuen Corona-Betrieb begonnen. In Madrid sind inzwischen 17 Prozent der Spitalbetten von Covid-Patienten belegt. Die demografische Struktur der Epidemie-Entwicklung in der spanischen Hauptstadt präsentiert sich genau wie in Marseille und Paris.

Sicherlich: Die Schweiz ist nicht Florida, Genf ist nicht Marseille, Zürich ist nicht Madrid. Es hat sich nun aber bereits mehrfach gezeigt, dass der Verlauf in Florida einem Muster folgte, das sich in Europa bestätigt. Wir können den Sonderfall so lange zelebrieren, wie wir wollen – die Gesetze der Virologie machen an den Landes­grenzen nicht halt. Wer heute noch im Ernst behaupten will, in der Schweiz werde das Überspringen auf ältere Bevölkerungs­gruppen nicht stattfinden, sollte schon extrem starke Argumente haben.

Womit wir bei den wirklich schlechten Nachrichten wären.

Die jüngsten Entwicklungen weisen in der Schweiz leider genau in die zu befürchtende Richtung: Das zunehmende Überspringen auf ältere Bevölkerungs­gruppen hat sich bereits angebahnt. So wurde diese Woche gleich aus drei Pflege­heimen vermeldet – in Siviriez, Bulle und Elgg –, dass es zu gravierenden Infektions­ereignissen mit bisher acht Todesopfern gekommen ist. Nicht umsonst sagte Stefan Kuster, der Covid-19-Zuständige des BAG, bei einer Medien­konferenz am Donnerstag, man beobachte mit grosser Besorgnis «einen Trend hin zu älteren Menschen». Auch dem wöchentlichen Lagebericht des BAG ist zu entnehmen, dass sich der Alters­median der Infizierten seit Mitte August wieder nach oben verschiebt.

Abgerundet wird das ungemütliche Bild schliesslich von einem exzellenten Beitrag des «Tages-Anzeiger»-Datenteams, das die Heatmap für besonders exponierte Schweizer Kantone erstellt hat. Der Ansatz zu einer französischen Entwicklung ist augenfällig.

«Wunschvorstellungen und Verdrängung werden uns nicht helfen», schrieb Emma Hodcroft bereits vor über drei Wochen. Was seither geschehen ist, bestätigt ihre Warnungen. Allerhöchste Zeit, mit dem Verdrängen endlich aufzuhören.

Illustration: Alex Solman