Plopp!
Die Corona-Krise bringt Öl- und Gasfirmen ins Straucheln. Und endlich realisiert die Finanzwelt: Fossile Energien sind keine guten Investments – sondern nur eine Blase, die gerade platzt.
Von Simon Schmid (Text) und Borja Alegre (Animation), 28.08.2020
«Ölpreis unter null gefallen.» Als im April diese Meldung durchs Internet geht, denke ich nicht gross darüber nach. Kapriolen am Ölmarkt scheinen in diesen irren Zeiten nicht weiter verwunderlich. Zuvor hat bereits die Börse gecrasht, es bahnt sich die schlimmste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten an.
Erst im Hochsommer beginne ich zu ahnen, dass die fossile Industrie durch das Coronavirus tiefer getroffen ist. Über die Nachrichtenticker laufen nun die Halbjahresergebnisse von Kohle-, Erdöl- und Gasfirmen. Und sie sind schlecht – sehr schlecht. Doch was noch wichtiger ist: Fast alle Firmen deuten an, dass sich ihr Geschäft als Folge der Corona-Krise stark verändert hat. Dass es womöglich nie wieder so umfangreich sein wird wie zuvor.
Das sind gute Nachrichten fürs Klima. Denn wenn BP, Shell und Co. weniger fossile Rohstoffe fördern, gelangt weniger Treibhausgas in die Atmosphäre. Und das ist dringend nötig, um die globale Erwärmung aufzuhalten.
Offensichtlich sieht das nun auch die Finanzwelt ein. Denn die Börsenkurse von Firmen, die fossile Energie fördern, haben sich – anders als der Gesamtmarkt – nicht vom Coronavirus erholt. Immer mehr Investoren scheinen daran zu zweifeln, dass diese Branche in ihrer jetzigen Form noch lange so weitermacht.
Bringt die Corona-Pandemie also den Durchbruch für die Energiewende? Ist das der Moment, in dem der letzten Anlegerin klar wird, dass es Besseres zu tun gibt, als weiter Geld in die Förderung fossiler Rohstoffe zu stecken?
Diese Frage beschäftigt mich. So nehme ich Recherchen auf, schreibe Experten an, suche nach Daten. Und erinnere mich an eine Metapher, die Klimaschützerinnen und grüne Investoren schon lange benutzen. Es ist eine Idee, die viele Ökonominnen lange nicht ernst genommen haben – die aber sehr gut erklärt, was mit fossilen Energien auf dem Finanzmarkt gerade passiert.
Die Kohlenstoffblase.
Unverbrennbarer Kohlenstoff
Die Idee, dass es eine solche Blase gibt, geht auf Thinktanks wie Carbon Tracker zurück. Und auf einen Bericht, den die Organisation im Juli 2011 veröffentlicht hat. Das Cover des Berichts zeigt einen Ballon mit einem Kohlenstoffatom und eine Hand, die mit einer Nadel in den Ballon sticht.
Oben steht eine Frage: Schlummert im Finanzmarkt eine Kohlenstoffblase?
«Unburnable Carbon», wie das Papier hiess, war ein Durchbruch: für Mark Campanale, den studierten Agrarökonomen und ehemaligen Banker, der Carbon Tracker zwei Jahre zuvor gegründet hatte – und für die Theorie der Kohlenstoffblase. Sie besagt, dass weitsichtige Investoren besser die Hände von Kohle-, Öl- oder Gasfirmen lassen sollten. Denn die Rohstoffe, die sie besitzen, könnten sich wegen des Klimas als «unverbrennbar» herausstellen.
Und zwar aus folgendem Grund:
Wollen wir das 1,5-Grad-Ziel beim Klima einhalten, so dürfen wir maximal noch 495 Gigatonnen CO2 emittieren (Stand Anfang 2020).
Rohstoffunternehmen sitzen aber weltweit noch auf Kohle-, Öl- und Gasreserven mit einem Gegenwert von 2800 Gigatonnen CO2.
Das bedeutet, dass über 80 Prozent dieser Reserven niemals gefördert und verbrannt werden dürfen.
Die Kohlenstoffblase besagt also, dass Rohstoffunternehmen angesichts des Klimawandels auf einen Grossteil ihres künftigen Profits verzichten sollten.
Die Metapher, die Campanale und sein Klima-Thinktank vor neun Jahren populär gemacht haben, besitzt grosse Sprengkraft. Denn sie impliziert, dass fossile Firmen in einer 1,5-Grad-kompatiblen Welt viel weniger wert sind als in einer Welt, in der Klimaziele keine Rolle spielen. Und das heisst wiederum: Privatpersonen, Pensionskassen und Banken in aller Welt, die in diese Firmen investiert haben, könnten damit viel Geld verlieren.
Ich erreiche Campanale per Skype und frage ihn, wie umfangreich eigentlich die carbon bubble sei. «Alle, die auf irgendeine Art im fossilen Sektor drinhängen, sind betroffen», antwortet er. «Kohleminen, Öl- und Gasförderer, Engineeringfirmen, Kraftwerke, Raffinerien, Stahlwerke, Autohersteller.»
Campanale, der schon seit dreissig Jahren versucht, nachhaltige Investments voranzutreiben – in der Privatwirtschaft, für die Vereinten Nationen –, sitzt in seinem Londoner Homeoffice. Er isst gerade Salat, erzählt von Meetings mit Grossbanken, Firmenchefs und dem Papst, wirkt zufrieden. Kein Wunder: Die Realität hat sich seiner Theorie ein grosses Stück angenähert.
Alles nur Quatsch?
Lange Zeit hatte es nicht danach ausgesehen. Am Londoner Finanzplatz stiess die Vorstellung, dass grosse Teile der Kohle-, Öl- und Gasvorkommen für immer im Boden bleiben müssten, auf wenig Gegenliebe. «I think it’s a bollocks subject», sagte ein Finanzanalyst der «Financial Times», als Campanales Studie erschien. «Ich glaube, dieses Thema ist totaler Quatsch.»
Damals hatte sich das Finanzsystem soeben von einer anderen Krise erholt. Hunderte von Milliarden Dollar waren wegen fauler Subprime-Hypotheken in den Vereinigten Staaten flöten gegangen. Und nun sollte im Energiesektor eine weitere, möglicherweise noch viel grössere Blase schlummern?
Das war mehr, als sich die Investmentwelt vorstellen wollte – und konnte. Denn der Ölmarkt war zu dieser Zeit im Hoch: Bis zu 120 Dollar wurden pro Fass bezahlt – so viel wie fast nie zuvor. Ölaktien warfen Gewinn ab. Und im Gegensatz dazu kam die Klimapolitik nicht vom Fleck: Längst hatten sich Investorinnen daran gewöhnt, dass die jährlichen Uno-Konferenzen in Posen, Kopenhagen oder Cancún jeweils ohne nennenswerte Ergebnisse endeten.
So blieb die Kohlenstoffblase ein nebulöses Konzept – und wer sich mit ihr befasste, musste eine Schraube locker haben. Umso grösser war die Verwunderung, als Paul Spedding, Analyst bei der Grossbank HSBC, im Januar 2013 einen Bericht schrieb: «Oil & carbon revisited». In dem Papier stellte er die abenteuerliche These auf, dass Ölfirmen 40 bis 60 Prozent ihres Börsenwerts einbüssen könnten, falls sich deren Reserven im Zuge einer schärferen Klimapolitik tatsächlich als unverbrennbar herausstellen sollten.
Als ich ihn am Telefon auf die Studie anspreche, bittet mich Spedding als Erstes, ihm ein PDF davon zu schicken – bei seinem Weggang von HSBC hat er vergessen, eine elektronische Kopie mitzunehmen. Dann erzählt er: Kaum ein Bankkunde habe damals mit ihm sprechen wollen. «Die Aussichten für Öl- und Gasfirmen waren damals sehr bullish, sehr optimistisch.» Dass es so etwas wie Klimarisiken gibt, habe sich schlicht niemand vorstellen können.
Der Wind dreht
Spedding, dessen Szenario dieses Jahr ziemlich genau eingetroffen ist, lebt in Kent, südöstlich von London. Er ist pensioniert, aber nicht untätig: Carbon Tracker – die Organisation, die 2011 vor der Kohlenstoffblase warnte und seither viele Studien dazu publiziert hat – hat ihn als Berater verpflichtet.
Im richtigen Moment. Denn Mitte des letzten Jahrzehnts drehte plötzlich der Wind: Kepler Cheuvreux, Citigroup, UBS, wichtige Investmentbanken und Beraterfirmen befassten sich nun auf einmal mit stranded assets – also mit Finanzwerten, die aufgrund einer strengeren Klimapolitik «stranden» könnten. Sie brachten riesige Summen ins Spiel: 28 Billionen, 59 Billionen, ja sogar 100 Billionen Dollar an Investments könnten gefährdet sein.
Zu dieser Zeit, sagt Paul Spedding, seien mehrere Dinge passiert. Drei davon machten in der Finanzindustrie besonderen Eindruck:
Der Ölpreiscrash: Ab August 2014 fiel der Ölpreis. Und zwar rasch: Innerhalb weniger Monate wurden statt 100 nur noch 50 Dollar pro Fass bezahlt. Dies, weil aus den USA grosse Mengen an Schieferöl auf den Markt gelangt waren und die Nachfrage mit dem Angebot nicht mehr mithalten konnte. Der Ölpreis sank – und auch jener von Kohle und Gas.
Mark Carney: Der Gouverneur der Bank of England hielt im September 2015 eine viel beachtete Rede. Darin skizzierte er die Idee, dass Firmen künftig Rechenschaft über ihre Klimabilanz ablegen und darlegen sollten, wie sie den Übergang auf netto null Emissionen schaffen. Die Idee fand Anklang – und mündete in der Gründung von Initiativen wie der TCFD-Taskforce für klimabezogene Offenlegungen und dem NGFS-Netzwerk für ein grüneres Finanzsystem, die von einflussreichen Finanzunternehmen und Regulatoren wichtiger Länder getragen werden.
Die Pariser Klimakonferenz: Im Dezember 2015 bekräftigen die Staaten ihre Absicht, die globale Erwärmung auf deutlich unter 2 Grad Celsius zu beschränken. Der Pariser Vertrag gilt als Durchbruch in der globalen Klimapolitik und hat viele Länder dazu veranlasst, ambitioniertere Klimaziele zu verfolgen und den Ausbau der erneuerbaren Energien zu forcieren.
Je länger die 2010er-Jahre dauerten, desto deutlicher wurde, dass bei der Energie etwas Grundlegendes in Bewegung gerät. Länder wie Grossbritannien oder Deutschland begannen nun, Wind- und Solarkraftwerke im grossen Stil zu installieren. Das liess die Herstellungskosten alternativer Energien weiter fallen. Sie wurden konkurrenzfähig – und damit zu einer echten Alternative.
Genauso schnell, wie die Stromproduktion aus Wind, Sonne und Erdgas zunahm, ging jene aus Kohlekraftwerken zurück – der klimaschädlichsten Art, Strom zu produzieren. Die Aktionärinnen dieser Anlagen bekamen dies mit voller Härte zu spüren: Wer Anfang des Jahrzehnts in amerikanische Kohleaktien investiert hatte, war bereits 2016 praktisch sein ganzes Vermögen los.
Ausserhalb von China und Indien gehen heute fast keine Kohlekraftwerke mehr ans Netz. Im Gegenteil: Über das vergangene Jahrzehnt wurden in den OECD-Ländern viele davon stillgelegt. Neue Solar- und Windkraftanlagen zu bauen, ist heute sogar günstiger, als bestehende Kohlekraftwerke zu betreiben.
Das erste Opfer der Energiewende, der erste geplatzte Teilbereich der Kohlenstoffblase stand damit bereits im alten Jahrzehnt fest: Kohle.
Dann kam das neue Jahrzehnt – und brachte einen weiteren Einschnitt.
Covid-19
Auf welche Art dieser Einschnitt folgen würde, sah niemand kommen. Auch nicht Eric Markowitz und seine Kollegen bei Worm Capital, einem Hedgefonds aus San Diego. «Die Revolution mit erneuerbaren Energien ist eine Multi-Billionen-Dollar-Gelegenheit», schrieben sie ihren Investorinnen im Dezember. Die Energiewende sei eine immense Chance für kluge Anleger.
Markowitz und seine Mitstreiter hatten den richtigen Riecher. Doch die von ihnen ausgerufene Revolution kam in unerwarteter Gestalt: als Pandemie.
Das Coronavirus, das seit Anfang Jahr um den Planeten geht, hat bedeutende Teile der Weltwirtschaft lahmgelegt. Flugverkehr, Transport und Tourismus sind eingebrochen; Firmen auf der ganzen Welt erlitten plötzlich Verluste.
Einen Sektor traf dies besonders hart: fossile Energien. Wie hart, ist über die vergangenen Wochen begreifbar geworden, als die europäischen Öl- und Gasunternehmen nach und nach ihre Zahlen veröffentlichten.
Shell: Bereits im Frühjahr hatte die niederländische Öl- und Gasfirma ihre Dividende gekürzt – das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg. Nun hat sie in ihrer Bilanz über 17 Milliarden Dollar abgeschrieben. Dies, weil sie für die Zukunft mit deutlich weniger Einnahmen rechnet als bisher.
BP: Die britische Gesellschaft hat nach einem Milliardenverlust ihre Dividende halbiert und ebenfalls über 17 Milliarden Dollar abgeschrieben.
Total: Das französische Unternehmen hat zahlreiche Explorationsprojekte begraben und Abschreiber über 8 Milliarden Dollar verbucht.
Eni: Die italienische Energiegruppe hat aus denselben Gründen wie Shell, BP und Total insgesamt 4 Milliarden Dollar abgeschrieben.
Auch in den USA haben Energieproduzenten miserable Zahlen verkündet. So fuhr etwa die Ölfirma Chevron den grössten Verlust seit drei Jahrzehnten ein. Exxon Mobil deutete an, bis zu 20 Prozent ihrer Öl- und Gasreserven könnten bald nicht mehr als «sicher» gelten – und deshalb zu stranded assets werden. Weil sie nicht mehr das nötige Finanzgewicht auf die Waage bringt, flog die Ölförderin sogar aus dem berühmten Dow-Jones-Aktienindex.
Von Texas bis North Dakota gehen derweil viele mittelgrosse Unternehmen pleite, die in den letzten Jahren in Schieferöl und Fracking investiert haben, Aktivitäten, die inzwischen nicht mehr profitabel sind. Dienstleister wie Halliburton oder Schlumberger erlitten Einbussen. Und die Kohlefirma Peabody musste sogar den grössten Verlust in ihrer Geschichte hinnehmen.
Für Eric Markowitz, zuständig für die Forschung bei Worm Capital, kommt all dies wie gerufen. Sein Fonds hat gegen Kohleunternehmen und Gaskraft gewettet – und stattdessen in Tesla investiert. Die Aktien des Elektroauto-Herstellers sind dieses Jahr fast um das Vierfache gestiegen. Derweil sind die Börsenkurse von fossilen Energiefirmen getaucht – und haben sich, anders als der restliche globale Aktienmarkt, nicht mehr von der Corona-Krise erholt.
«Viele Menschen wünschen sich, dass die Dinge so bleiben, wie sie sind», sagt Eric Markowitz. «Doch diese Mentalität birgt ein grosses Risiko.»
Wir sprechen via Zoom. An der amerikanischen Westküste ist soeben der Tag angebrochen. Mir gegenüber sitzt ein Typ im T-Shirt und mit verstrubbelten Haaren – nicht gerade der Hedgefonds-Manager, wie er im Bilderbuch steht. Markowitz war früher Journalist, hat für den «New Yorker» Recherchen über das amerikanische Gefängnis-Business angestellt. Jetzt analysiert er die Energiewende – und versucht daraus Profit zu schlagen. Mit Erfolg: Sein Portfolio hat dieses Jahr über 150 Prozent vorwärtsgemacht.
Ganz im Gegensatz zu Finanzanlagen in die fossile Industrie. Für sie ist das Jahr 2020 zu einer Art Lehman-Moment geworden: Ähnlich wie 2008 bei den Investmentbanken wird nun breiten Investorenkreisen schlagartig bewusst, dass es sich nicht lohnt, Öl- und Gasfirmen weiter Geld hinterherzuwerfen.
Erstaunlich ist, dass diese Erkenntnis so lange auf sich warten liess. Ölfirmen sind Profitmaschinen – davon ging ehrlich gesagt auch ich lange aus: Wer in Exxon und Co. investiert, versündigt sich am Klima, sahnt aber ab.
Tatsache ist jedoch, dass der fossile Sektor schon länger mies abschneidet. Wer zu Beginn des Jahres 2014 etwa in US-Energieaktien investierte, wurde über die folgenden sechs Jahre hinweg kontinuierlich abgehängt – und besitzt nun 78 Prozent weniger als jemand, die einfach in den Gesamtmarkt investierte.
Offensichtlich hinkt die Wahrnehmung also der Realität hinterher. Und auf dem Finanzmarkt findet schon lange ein schleichender Sinneswandel statt.
«Die carbon bubble platzt nicht über Nacht. Sie lässt über Jahrzehnte kontinuierlich Luft ab», sagt Eric Markowitz, als ich ihn darauf anspreche.
Das hat etwas, denke ich. Vielleicht ist die Kohlenstoffblase doch kein Ballon, in den jemand mit einer Nadel sticht. Aber einer mit offenem Ventil – der wild durch die Gegend saust, bevor er irgendwann platt am Boden landet.
Billiges Öl
Noch ist es jedoch nicht ganz so weit. Dieses Jahr strömte zwar ziemlich viel Luft aus der Blase. Gemäss der jüngsten Studie von Carbon Tracker stecken aber noch immer 30 Billionen Dollar in der fossilen Wirtschaft: in Explorations- und Handelsfirmen, Schifffahrtsgesellschaften, Gaskraftwerken. Die Förderinfrastruktur im engeren Sinn ist 10 Billionen Dollar schwer.
Wie sich all dies weiter entwickelt, hängt von einer Frage ab: Was passiert mit der Kohle, dem Öl und dem Gas, das unter der Erde lagert?
Einer, der dies einschätzen kann, ist Luke Parker. Seine Aufgabe bei der Consultingfirma Wood Mackenzie ist es, alle Erdöl- und Gasfelder auf der Erde zu kennen – und sich Gedanken über deren ökonomische Perspektiven zu machen. Kürzlich haben Parker und seine Leute eine Modellrechnung dazu erstellt. Ihr Fazit: Die Corona-Krise hat den Wert der weltweiten Vorkommen um 1,6 Billionen Dollar geschmälert. Das entspricht gemäss den Kalkulationen von Wood Mackenzie einer Reduktion um ganze 25 Prozent.
Parker arbeitet in Edinburgh – in der Hauptstadt von Schottland, in der im August normalerweise Besucherinnen des Kulturfestivals die Plätze verstopfen. Wegen Corona ist die Stadt dieses Jahr ziemlich leer. «2020 ist ein sehr wichtiger Moment», erklärt Parker per Telefon. «Ein fundamentaler Wandel findet im Öl- und Gassektor statt. Und die Investorenwelt realisiert das.»
Man versteht Parkers Rechnung – und überhaupt die finanzielle Mechanik hinter der Kohlenstoffblase –, indem man zwei Faktoren betrachtet.
Die Nachfrage: Bisher wurden auf der Welt jeden Tag etwa 100 Millionen Fass Öl verbraucht. Diese Nachfrage brach in der Corona-Krise ein. Während der Lockdowns wurden nur rund 70 Millionen Fass nachgefragt. Fürs ganze Jahr rechnet die Internationale Energieagentur (IEA) mit 92 Millionen Fass pro Tag. Auf dem Ölmarkt, wo selbst kleinste Veränderungen grosse Ausschläge hervorrufen, ist das ein Schock. Und ein Vorgeschmack auf die Zukunft: Auch in den kommenden Jahren dürfte die Nachfrage wegen der schlechten Wirtschaftslage und der Reiserestriktionen gedämpft bleiben. Und über die kommenden Jahrzehnte könnte die Nachfrage klimabedingt sinken: So beträgt etwa der weltweite Ölverbrauch gemäss dem IEA-Szenario «nachhaltige Entwicklung», das mit einer 1,8-Grad-Erwärmung kompatibel ist, im Jahr 2040 noch 67 Millionen Fass.
Der Preis: Sinkt die Nachfrage nach Öl, so sinkt auch dessen Preis. Das hat mit den Förderkosten zu tun: Länder wie Saudiarabien oder der Iran können Öl sehr billig aus dem Boden pumpen, zu 30 Dollar pro Fass und weniger. In Russland, Brasilien oder den USA wird dies teurer, hier gehen die Kosten bis 60 Dollar. Mit über 80 Dollar am teuersten ist die Förderung aus Tiefwasser- oder Ölsandvorkommen, beispielsweise in Kanada. Bis vor der Corona-Krise wurden wegen des weltweiten Benzindurstes auch diese teuren Quellen angezapft – so kam ein hoher Marktpreis zustande. Geht die Nachfrage nun zurück, werden diese Quellen nicht mehr gebraucht und der Ölpreis orientiert sich an den günstigeren Quellen.
Im Zuge der Energiewende sinkt also sowohl die Nachfrage als auch der Preis von Öl und anderen fossilen Rohstoffen. Und genau hier setzt Parker an: Seine Studie untersucht, wie stark der Profit geschmälert wird, der mit Öl- und Gasvorkommen erzielt werden kann – und wie sich in der Folge deren Wert mindert, wenn der langfristige Preis von Öl von 60 auf 50 Dollar fällt.
Dass dies passieren könnte, hielten die Konzernchefs der Ölbranche noch bis vor kurzem für ausgeschlossen. «Wir haben keine Wahl», sagte Shell-CEO Ben van Beurden noch im Oktober: Seine Firma müsse mehr Geld als bisher in langfristige Ölprojekte stecken. Inzwischen hat Shell die Hälfte (!) ihres Börsenwerts eingebüsst und die Ausgaben zurückgeschraubt. Und auch beim Ölpreis ist die Firma vorsichtiger geworden: Für 2022 rechnet sie nicht mehr mit 60, sondern mit 50 Dollar pro Fass – genau wie Parker in seinem Modell.
«Was wir hier sehen, ist erst der Anfang», sagt Parker. «Die ganze Welt bewegt sich derzeit nur in eine Richtung: hin zu alternativen Energien. Mehr und mehr Öl- und Gasfirmen werden daher ihren Geschäftsausblick revidieren.»
Als Nachzügler gelten die amerikanischen Firmen. Viele von ihnen haben noch keine Klimaziele angekündigt. Als Vorreiterin profiliert hat sich dagegen BP: Dort rechnet Bernard Looney, der im Februar das Steuer als CEO übernahm, nicht nur für die nächsten zwei Jahre, sondern gleich bis Mitte Jahrhundert mit tieferen Ölpreisen. Und er verspricht einen strategischen U-Turn: Bis 2030 will die Firma 40 Prozent weniger Öl und Gas fördern und stattdessen mehr erneuerbare Energie produzieren als ganz Grossbritannien im Moment.
Aktuell notiert der Ölpreis bei 45 Dollar – vom Crash im April, der kurzzeitig zu negativen Preisen führte, hat sich der Markt also erholt. Auch über die kommenden Monate hinweg sei ein leichter Anstieg möglich, sagt Luke Parker. Doch er ist überzeugt: Die fossilen Riesen müssen umsatteln, diversifizieren, sich gänzlich neu erfinden. «Aus Big Oil wird Big Energy.»
Die grüne Investmentwelt
Die Veränderungen gehen auch am Schweizer Finanzplatz nicht vorbei. Ob in Zürich oder in Genf: Fast keine Bankenkonferenz kommt mehr ohne Workshops zu klimaverträglichen und nachhaltigen Investitionen aus.
Das erzählt mir Jan Poser. Er war einer der ersten Wirtschaftsexperten, denen ich zu Beginn meiner Journalistenlaufbahn Fragen gestellt habe. Damals figurierte er bei J. Safra Sarasin schlicht als Chefökonom. Inzwischen trägt er zwei Titel: Chefstratege und Nachhaltigkeitschef. Ein Wink an die Kunden – um zu zeigen, wie ernst man es bei Sarasin mit dem Thema meint.
Poser zählt fünf Gründe auf, warum die Rohstoffpreise tief bleiben:
Der Transportsektor wird sich nach Covid-19 nur langsam erholen: wegen der Virusangst und weil wir gelernt haben, digital zu kommunizieren.
Die Konjunkturprogramme, die in der EU angeschoben werden und die US-Präsidentschaftskandidat Joe Biden ins Auge fasst, sind grün gefärbt.
Viele Menschen und Regierungen haben inzwischen eingesehen, dass die Dekarbonisierung der Wirtschaft absolut notwendig ist.
Die Öl- und Gaslager sind voll – und werden das noch eine Weile lang sein, weil das Hahnzudrehen bei Bohrlöchern selbst Geld kostet.
Bei manchen Firmen (wie Exxon Mobil) grassiert die Angst, dass sich ihre Reserven entwerten, daher pumpen sie heute, so viel sie können.
Stimmt die Analyse, so schaufelt sich die fossile Industrie nun ihr eigenes Grab. Und die fossile Ära geht noch rascher zu Ende als bisher angenommen.
«Die exponentielle Zunahme von erneuerbaren Energien bringt eine enorme Verschiebung», sagt Poser. Nach dem Lockdown arbeitet er nun wieder öfter in seinem Büro in der Zürcher Enge. Und verschickt von dort aus Videos an Kunden, in denen er den green recovery erklärt – den grünen Aufschwung nach der Corona-Krise. «Die Energiewende ist kaum aufzuhalten», sagt er. «Selbst die optimistischsten Prognosen werden regelmässig übertroffen.»
Bezeichnend dafür ist eine Mitteilung, welche die IEA im Juni herausgab. Darin steht, dass der Absatz von Autos mit Verbrennungsmotoren in der Corona-Krise eingebrochen ist – während Elektroautos weiter gekauft werden. Rechnet man die Angaben der IEA hoch, so könnten bereits in zehn Jahren mit Elektroautos gegen 20 Millionen Fass Öl pro Tag gespart werden. Das wäre ein Fünftel des jetzigen Verbrauchs. Und ein Anzeichen dafür, dass sich die Energiezukunft deutlich von der Vergangenheit unterscheiden wird.
Die Investmentbranche versucht gerade, mit dieser Zukunft klarzukommen. Das ist nicht ganz einfach: Um gemäss der Kohlenstoffblasen-Theorie zu investieren, müssten Finanzanalystinnen eigentlich sämtliche Modelle, mit denen sie den Preis von Wertpapieren bisher berechnet haben, in den Papierkorb werfen. Und nochmals ganz von vorne beginnen: Wie viel CO2 darf noch in die Atmosphäre gelangen? Was heisst das für eine bestimmte Firma? Welche Chancen bringt ihr die Energiewende – und welche Risiken?
Standardisierte Methoden, um all dies zu quantifizieren, gibt es noch nicht. Doch eine Einsicht scheint sich unter Anlegern auf der ganzen Welt immer stärker durchzusetzen: Die Natur ist ein relevanter Investmentfaktor.
Von der grössten Pensionskasse in Grossbritannien über die Rentenanstalt der kalifornischen Beamtinnen bis zur Pensionskasse der Stadt Zürich haben Grossinvestoren angekündigt, aus fossilen Investments auszusteigen, Netto-null-Investments anzustreben oder eine Klimastrategie zu verfolgen. Allein in der Schweiz sind inzwischen über eine Billion Franken nachhaltig angelegt, dreimal mehr als vor zwei Jahren. Global sind es noch zigmal mehr.
Bereits heute ist das Volumen nachhaltiger Investments damit mindestens so gross wie die fossile Wirtschaft. Und das ist wahrscheinlich erst der Anfang.
Und jetzt?
Erkenntnis kommt in Schüben. Das bestätigt sich am Finanzmarkt immer wieder: Bis sich eine Idee durchsetzt – eine neue Art, auf Unternehmen zu blicken, eine neue Vorstellung davon, was wichtig ist und was nicht –, können Jahrzehnte vergehen. Doch plötzlich ist alles anders – und eine Theorie, an die lange nur Enthusiastinnen glaubten, ergibt für die ganze Welt Sinn.
Auch ich hätte nicht gedacht, dass die Kohlenstoffblase so rasch platzen würde. Dass sie das irgendwann tun würde, schien aus Klimasicht zwar schon immer schlüssig – und aus Sicht der Menschheit auch rational. Doch das Problem war: Eigennützige, kurzfristig denkende Akteure hatten am Finanzmarkt kein Interesse, freiwillig dieser kollektiven Rationalität zu folgen. Kohle-, Öl- und Gasfirmen waren aus ihrer Sicht schlicht zu lukrativ.
Die Pandemie hat diese Logik durchbrochen. Gewinnbringend zu investieren und das Klima zu schützen, ist kein Widerspruch mehr. Sondern ein und dasselbe Anliegen. Wer sein Vermögen erhalten will, zieht es daher aus der fossilen Industrie ab und steckt es lieber in klimafreundliche Technologie. Das ist besser für die Umwelt und obendrein ein kleineres Risiko.
Und genau hier liegt der Knackpunkt – die eigentliche Einsicht, welche die Corona-Krise bereithält: Risiken muss man ernst nehmen. Egal ob sie die Gesundheit einzelner Menschen oder jene des ganzen Planeten betreffen.
In einer früheren Version schrieben wir im Zusammenhang mit der Förderinfrastruktur von 10 Milliarden Dollar. Richtig muss es heissen 10 Billionen Dollar. Wir entschuldigen uns für den Fehler.