«Wir haben die Wahl zwischen einem neofaschistischen Gangster und einem neoliberalen Desaster»

Cornel West, Professor für Afroamerikanische Geschichte und Philosophie, Theologe, Aktivist, Christ und Sozialist, gilt als einer der führenden schwarzen Intellektuellen in den USA. Die lange Geschichte von Rassismus und Gier hole das Land nun ein, sagt er im Hinblick auf die US-Präsidentschafts­wahlen. Ein Gespräch über Lynchmorde im 21. Jahrhundert, Black Lives Matter, Big Money, Disneyland, Präsident Donald Trump und warum Kandidat Joe Biden mit seiner rassistischen Vergangenheit und seiner neoliberalen Politik keine Alternative ist, das zerfallende und gewalttätige Land zu reformieren.

Von Daniel Ryser, 22.08.2020

«Ich empfehle, dass Sie sich heute Abend zu Hause hinsetzen und ‹A Love Supreme› von John Coltrane hören»: Cornel West. Sebastian Kim/August

Cornel West, in Portland zerren vermummte Bundes­agenten Menschen, die an Black-Lives-Matter-Protesten teilnehmen, in schwarze Autos ohne Nummern­schilder. Menschen verschwinden, Mütter demonstrieren. Präsident Donald Trump droht, einen rassistischen Polizeichef zitierend, mit noch mehr Gewalt und macht klar, dass er das Wahl­ergebnis im November nicht akzeptieren wird. Erleben wir in den USA gerade die Transformation einer Demokratie in einen autoritären Staat?
Im Weissen Haus sitzt ein neofaschistischer Gangster, der immer schon tief im autoritären Denken verhaftet war. Je verzweifelter Trump wird aus Angst, die Wahlen zu verlieren, desto mehr wendet er sich wieder seiner rechts­extremen, fremden­feindlichen Basis zu. Gleichzeitig will er die Proteste nutzen, indem er sich als Mann zu inszenieren versucht, der einen Status quo zu bewahren sucht vor Anarchisten, die alles in Schutt und Asche legen wollen. Und das ist ein wichtiger Punkt: Die Gewalt in diesem Land ist nicht neu. Die repressive Politik ist nicht neu. Was unter Trump anders ist: dass diese Gewalt und die Repression deutlich und ungeschminkt zutage treten. Diese massiven, orchestrierten Attacken durch den Staat auf Zivilisten, Bürgerinnen und Bürger. Das neofaschistische Element von Donald Trump manifestiert sich immer deutlicher, je näher die Wahlen kommen.

«Neofaschistischer Gangster» – können Sie das ausführen?
Ein Gangster ist jemand, der glaubt, dass er sich alles erlauben kann, und damit durchkommt. Keine Haftung. Keine Verantwortlichkeit. Er übernimmt selbst keine Verantwortung. Das ist es, was Gangster tun. Und das ist auch der Unterschied zwischen einem Gangster und einem Heuchler. Denn ein Heuchler weiss, dass es Standards gibt, die er nicht erfüllen kann. Es gibt gewisse Dinge, die man tun sollte, die er aber nicht tut. Du siehst hier die Kluft zwischen der Idee und der Realität. Der Gangster hingegen hat keine Standards. Trump wird alles tun, alles sagen, und dabei glauben, dass er damit davonkommt. Das ist: Gangster. Ein neofaschistischer Gangster wiederum ist einer, der die Herrschaft von Big Money befördert, von Militarismus, und der gleichzeitig die Schwächsten und Verletzlichsten der Gesellschaft zu Sünden­böcken erklärt, um sie zu terrorisieren, um sie einzuschüchtern, und das alles im Namen der Flagge, im Namen einer gewissen Art von Nationalismus, im Namen einer gewissen Art von billigem Patriotismus: America first! Mit dabei auf dem Fahrer­sitz: die Wall Street. Ebenfalls mit dabei: das US-Militär. Die imperiale Politik.

Zur Person

Cornel West, 67, ist Professor der Philosophie in Harvard, er lehrte auch in Yale, Paris, Princeton und am Union Theological Seminary in New York. Er schloss sein Studium magna cum laude ab, veröffentlichte 20 Bücher, ein Klassiker ist mittlerweile «Race Matters». Sein Filmdebüt gab West in «The Matrix Reloaded» (als «Councillor West»), und er nahm diverse Spoken-Word-Alben auf, unter anderem «Never Forget: A Journey of Revelations», bei dem unter anderem Prince und Talib Kweli mitwirkten.

Trumps Politik ist nichts weiter als ein verlängerter Arm der Wall Street: Man stellt sicher, dass wir keine Arbeiter­bewegungen, keine Gewerkschaften haben, die stark genug sind, mit dem Kapital in Verhandlungen zu treten. Und gleichzeitig werden die Schwächsten zu Sünden­böcken erklärt, und das sind in den USA zuallererst immer schwarze Menschen, dann Einwanderer, überproportional braune Einwanderer, und natürlich immer zuerst die jeweiligen Armen dieser Gruppen. Das ist es, was ich meine, wenn ich sage, Donald Trump ist ein neofaschistischer Gangster. Aber es ist nicht ein Begriff, der bloss ein Individuum bezeichnet. Es ist ein Begriff für ein bestimmtes Individuum, eingebettet in ein System, das auf Macht und Dominanz aufbaut. Donald Trump kam nicht aus dem Nichts. Dieses Land steht heute vor einschneidenden Momenten: zuerst einmal die Frage, ob Trump das Wahl­ergebnis akzeptiert oder nicht. Wenn er es nicht tut, nun, er hat viele Anhänger, von denen nicht wenige Waffen haben. Ich möchte gar nicht daran denken, was passieren wird. Gleichzeitig möchte ich aber auch nicht daran denken, was passiert, wenn wir den Beweis erhalten, dass dieses System wirklich nicht in der Lage ist, sich ansatz­weise selbst zu reformieren: wenn die Mörder von George Floyd nicht angeklagt werden.

Halten Sie das für realistisch, dass die Mörder nicht angeklagt werden? Das über 8-minütige Video der Ermordung, es ist eindeutig …
Es ist in den USA beinahe unmöglich, Polizisten ins Gefängnis zu schicken, wenn sie jemanden umgebracht haben. Die Anklagen liegen im Promille-Bereich. Der Mörder von Eric Garner beispiels­weise: keine Anklage. Wir müssen dafür kämpfen, dass Polizisten haften, dass sie zur Verantwortung gezogen werden, dass sie nach einem fairen Verfahren im Gefängnis landen. Damit die Botschaft klar ist: Wir nehmen das nicht mehr hin. Alles andere wäre eine Katastrophe. Wie häufig hat uns der Bürger­rechtler Al Sharpton schon Gerechtigkeit versprochen, nachdem wieder und wieder schwarze Menschen von Polizisten ermordet worden waren? Er konnte nicht liefern. Dieses System ist derart eng, derart repressiv; auch unter einem schwarzen Präsidenten, einem schwarzen Justiz­minister, schwarzen Bürger­meistern, schwarzen Polizei­chefs ist es nicht möglich, ihre Macht so einzusetzen, so zu reformieren, dass weniger schwarze Menschen getötet werden.

Was würde das heissen, das System zu reformieren?
Eine Revolution im Sinne von Dr. Martin Luther King Jr.: eine gewalt­freie Revolution, und mit Revolution meine ich eine fundamentale Verschiebung von Vermögen, Macht, Ressourcen und Würde hin zu den Arbeiterinnen, zu den Armen, legitimiert durch einen demokratischen Prozess. Wenn wir das in den nächsten Jahren nicht schaffen, enden wir vermutlich in einem weissen Backlash, der derart nieder­trächtig und teuflisch sein wird, dass er in nichts anderem enden kann als in einem autoritären Regime. Ich halte es nämlich durchaus für möglich, dass dieses Land zur Einsicht kommt, dass es nicht in der Lage ist, unsere Kinder, unsere Mütter, unsere Väter mit dem nötigen Respekt zu behandeln. Wenn eine Reform, eine friedliche Revolution dieses verfestigten Systems nicht möglich ist, gehen der Nieder­gang und das bedrohliche Abrutschen ins Chaos weiter.

Sie klingen nicht optimistisch.
Ich bin es nicht, my dear brother. Ich bin es nicht.

Warum, glauben Sie, hat der Mord an George Floyd durch einen Polizei­beamten nationale, schliesslich weltweite Proteste ausgelöst? Noch vor Anklage und Urteil.
Im Hintergrund steht der tief greifende spirituelle Zerfall und Nieder­gang des amerikanischen Imperiums. Wir unterhalten ausserhalb der eigenen Landes­grenzen über 800 Militär­basen – China und Russland kommen zusammen vielleicht auf 30 – und sind dabei nicht in der Lage, unsere eigenen Bürgerinnen und Bürger zu schützen, wir sind nicht in der Lage, ihre Rechte zu gewähr­leisten, wir sind nicht in der Lage, genügend Dienst­leistungen und Waren zur Verfügung zu stellen angesichts einer enormen ökonomischen Ungleichheit. Dann schlägt die Pandemie ein, und jetzt sieht man auf eine klare, rohe, direkte und brutale Art, dass dieses Land unfähig ist, als soziales Experiment zu funktionieren. Das ist, worum es geht: Es wird offenbar, dass die USA ein gescheitertes soziales Experiment sind.

Ein gescheitertes soziales Experiment?
Wenn Sie Ihre Bürger nicht beschützen können. Wenn Sie nicht genügend Waren und Dienst­leistungen zur Verfügung stellen können. Und wenn Sie nicht in der Lage sind – was ja eigentlich am allerwichtigsten für eine funktionierende Demokratie ist –, ein starkes öffentliches Leben zu gewähr­leisten, ein Gefühl der Menschen, gemeinsam Teil eines Ganzen zu sein. In den USA besitzt 1 Prozent 40 Prozent unseres Vermögens. Und das in einem militarisierten National­staat mit einer Polizei, die in schwarzen Communitys äusserlich nicht zu unterscheiden ist von einer Besatzungs­macht; mit einer Kultur des völligen Ausverkaufs, der Privatisierung, der Ökonomisierung, wo alles und jeder käuflich ist, wo sich alles um Spektakel dreht statt um Erhaltung und Sorge, um Pflege und Gemeinschaft. Das öffentliche Leben existiert in den USA nicht mehr. 40 Prozent der Amerikaner leben in Armut oder an der Armuts­grenze. Und das im reichsten Land der Welt. Ein gescheitertes soziales Experiment bedeutet, dass es kein öffentliches Leben gibt, kein gemeinsames Interesse am Allgemein­wohl. Die Gemein­güter sind zerschlagen. Jeder ist auf sich allein gestellt, Beispiel Gesundheits­vorsorge. Das öffentliche Bildungs­system: verwüstet. Die öffentliche Konversation: Beschimpfungen. Alexandria Ocasio-Cortez, die grossartige fortschrittliche Kongress­frau: Sie wird entehrt und verbal abgewertet von zwei Kongressmännern, einer beschimpft sie, der andere steht daneben und sagt kein Sterbens­wörtchen, und das ist nur die Spitze eines riesigen Eisbergs. Wir befinden uns in einem korrupten System privatisierter Medien. Die völlige Polarisierung des Landes ist zementiert und besteht fast ausschliesslich aus Beschimpfungen, statt dass man ernsthaft und sokratisch in Dialogen um Argumente ringt, wo es letztlich auch immer darum geht, was uns als Gesellschaft eigentlich verbindet. Stattdessen: ein zerstörter Raum mit öffentlichen Lynch­morden. Bruder Floyd. Eine polarisierte Bürgerschaft in einem zerfallenden Imperium. Die «Gangsterisierung» Amerikas.

Wenn Sie von «Gangsterisierung» sprechen – was meinen Sie damit?
Gangster an der Macht. Wenn Sie an den Mord an George Floyd denken, müssen Sie bestimmte Verbindungen im Auge behalten: die Verbindung von Polizei­macht und ihren Verbrechen mit Wall-Street-Macht und deren Verbrechen, hin zum Pentagon, seiner Macht und seinen Verbrechen. Der Militarismus, der Materialismus, der Narzissmus, der Egoismus, sie alle hängen zusammen und sind voneinander abhängig, und damit stehen wir in meinem Land an einem sehr tristen und traurigen Punkt, my brother. Einem Punkt, wo White Supremacy letztlich zur fundamentalen Angelegenheit wird: Denn die Gangsterisierung dieser Gesellschaft, die unverantwortliche Überschwemmung durch Gier, Hass und Angst in jeder Sphäre des Landes, sie war in den USA immer Ausdruck weisser Vorherrschaft. Die Verletz­lichsten in dieser Kette sind unsere wertvollen schwarzen Trans­menschen: Sie werden auch in unseren eigenen Gemeinschaften angespuckt, zusammen­geschlagen, verfolgt, ermordet, verschwinden einfach von der Bild­fläche. Greifst du die Schwächsten an, greifst du Jesus an. Das ist meine christliche Tradition.

Wovon sprechen wir, wenn wir von Black Lives Matter sprechen?
Black Lives Matter – die Bewegung wurde 2013 gegründet – ist letztlich ein weiteres Kapitel, ein weiterer Abschnitt der schwarzen Freiheits­bewegung. Black Lives Matter ist ein Kampf um schwarze Selbst­bestimmung. Um schwarzen Selbst­respekt. Um schwarze Selbst­verteidigung. Black Lives Matter bedeutet letztlich einen grundsätzlichen und lang­wierigen Kampf gegen weisse Vorherrschaft und ist gleichzeitig eine Bekräftigung schwarzer Menschlichkeit, eine Bekräftigung schwarzer Schönheit, eine Bekräftigung schwarzer Intelligenz und eine Bekräftigung schwarzer Ehrsamkeit und schwarzen Anstands. Dieser Kampf, Black Lives Matter, den wir auf den Strassen gegen den Neofaschismus und den Neoliberalismus ausfechten, vereint alle Haut­farben, alle Geschlechter. Und er steht im Zeichen der Schwachen, der Verletzlichen, der Verfolgten, der Unterdrückten, der Entehrten, der Entwerteten, der Entrechteten, der Ausgebeuteten. Das bedeutet nicht, dass ich die Reichen hasse. Es bedeutet, dass ich ihre Undifferenziertheit verachte, ihre Achtlosigkeit und Gier. Denn auch wenn diese schlechten Eigenschaften kein Privileg der Reichen sind, so bedeuten sie im Kontext von Reichtum, dass sie eingebunden sind in ein imperiales System, ein räuberisches kapitalistisches System, ein System weisser Vorherrschaft, ein patriarchales System, ein homophobes System, ein transphobes System, häufig auch ein antijüdisches System, ein antimuslimisches System, ein antimexikanisches System.

Was meint die mit der Bewegung verbundene Forderung «Defund the Police», also der Polizei die Mittel zu entziehen?
In Kontext von Black Lives Matter ist die Forderung, der Polizei die Mittel zu streichen, unerlässlich. Denn das Verhältnis in den USA zwischen dem Staat, angefangen bei der Polizei, und armen schwarzen Communitys ist übel. Das Verhältnis ist derart übel, dass die einzige Interaktion zwischen armen, schwarzen Communitys und der Polizei häufig aus Polizei­gewalt besteht, aus Miss­handlung und Mord.

Die Mittel streichen – was bedeutet das genau?
Der Polizei die Mittel zu streichen, ist ein Aufruf, dass ein signifikanter Teil der Ressourcen, die jetzt zur Polizei gehen, in Jobs investiert werden, in anständiges Wohnen und in gute Bildung. In Los Angeles zum Beispiel fliessen 53 Prozent des lokalen Budgets zur Polizei. Landes­weit sind es 53 Cent jedes budgetierten Dollars, also mehr als die Hälfte von allem, was in diesem Land budgetiert wird, die zum beziehungs­weise durch das Pentagon fliessen. Und die Forderung, der Polizei die Mittel zu streichen, geht Hand in Hand mit der Forderung, dem Pentagon die Mittel zu streichen. Sie geht Hand in Hand mit der Forderung, Wall Street zu regulieren, wo die Gier regelrecht Amok läuft. Die Forderung meint aber nicht eine völlige Demontage der Polizei. Sie bedeutet, über ein neues Konzept öffentlicher Sicherheit nachzudenken. Über ein anderes Gefängnis­system nachzudenken. Darüber nachzudenken, eine andere Beziehung aufzubauen zwischen Communitys und der Polizei. Die Forderung bedeutet, dass öffentliche Sicherheit etwas anderes bedeuten muss als Polizisten, die Türen eintreten und schwarze Frauen ermorden wie Breonna Taylor in Louisville.

Sie bezeichnen die Ermordung von George Floyd als «öffentlichen Lynch­mord». Als Professor für Afro­amerikanische Studien sind Sie ein Mann der Worte und ein Mann der Geschichte. Ich nehme an, Sie wählen den Begriff der Lynch­justiz sehr bewusst. Eine andere namhafte Professorin und Juristin, Michelle Alexander, bezeichnet in ihrem «New York Times»-Bestseller «The New Jim Crow – Masseninhaftierung und Rassismus in den USA» das privatisierte amerikanische Gefängnis­system als moderne Form von Sklaverei und Rassen­trennung: Obwohl weisse US-Bürger mit Abstand am meisten Drogen konsumieren, sind 80 Prozent der Menschen, die deswegen verhaftet werden, Schwarze oder Latinos. Oder in den US-Gefängnissen: Dort sitzen 2,2 Millionen Menschen. 40 Prozent davon sind schwarze Männer, obwohl diese nur 6 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Kranken die USA daran, dass das Land seine rassistische Vergangenheit nicht aufgearbeitet hat?
Wir erlebten unter der US-Verfassung 85 Jahre Sklaverei. Danach weitere 100 Jahre Neo-Sklaverei in Form von Rassen­trennung durch die Jim-Crow-Gesetze (Gesetze zur Rassentrennung von 1877 bis 1964; Anm.­d. Red). 50 Jahre lang erlebten wir systematisch Lynch­morde: Alle zweieinhalb Tage wurde in den USA ein schwarzer Mann, eine schwarze Frau, ein schwarzes Kind gelyncht. Und Lynchen ist in diesem Land nach wie vor kein Bundes­verbrechen. Das ist Ausdruck anhaltender weisser Vorherrschaft. Auch wenn sie Rückschläge hinnehmen musste. Ich möchte auf keinen Fall den Kampf jener herunter­spielen, die gegen die weisse Vorherrschaft in diesem Land gekämpft haben, inklusive der bedeutenden Zahl weisser Brüder und Schwestern. Denn dieser Kampf ist in der Tat eine moralische und spirituelle Angelegenheit, keine Frage der Hautfarbe.

Sie sagen «Ausdruck anhaltender weisser Vorherrschaft» …
Und damit habe ich Ihre Frage beantwortet, my dear brother. Die USA haben sich ihrer Geschichte nicht gestellt. Schauen Sie, was uns all die grossen Künstler des 19. und 20. Jahr­hunderts in ihren Werken vermittelt haben – die Emily Dickinsons, Louis Armstrongs, Stephen Sondheims, Mark Twains ihrer Zeit: Diese Künstler würden sagen, dass die USA im Vergleich zu anderen Staaten einzigartig darin sind, wie leicht sie von vermeintlicher Unschuld zu Korruption gesprungen sind, ohne zwischen­durch einen Zustand der Reife erlangt zu haben.

Können Sie das ausführen?
Die USA wurden immer reicher, wurden immer mächtiger, aber sie sind nie erwachsen geworden. Denn wenn du erwachsen wirst, verlässt du irgendwann die Peter-Pan-Mentalität, die dich glauben lässt, du seist für immer jung. Wenn du erwachsen wirst, verlässt du das Disney-World-Empfindungs­vermögen, deine eigene kleine Minstrel-Show und Dauerspass­berieselung, wo am Ende nur Geld und Erfolg zählen. Der amerikanische Traum hat sich auf das Streben nach materiellen Gütern reduziert statt auf das Formen von Charakter und Seele.

Das reichste Land der Welt, die grösste Militär­macht in der Geschichte – ein einziges Disneyland?
James Baldwin hat gesagt, du kannst nicht Urheber massiver Verwüstung sein und dich gleichzeitig unschuldig fühlen. In der Unschuld liegt das Verbrechen. Wir sprechen hier über eine spirituelle und existenzielle Ebene, an die uns unsere Künstler immer wieder erinnert haben: Es ist Zeit, erwachsen zu werden. Eugene O’Neill mit «Der Eismann kommt» zum Beispiel, eine Anklage­schrift zur amerikanischen Zivilisation: Wir sprechen zwar ständig über Freiheit, schrieb O’Neill, aber eigentlich dreht sich in diesem Land alles um Gier. Die Gier wird den Weg weisen. Und irgendwann wird diese Gier uns einholen. Man erntet, was man sät.

Sie sagen, dieser Moment ist nun gekommen?
Das amerikanische Imperium steht heute an diesem Punkt, wo uns die eigene Geschichte, die Gier, einholt. Ökonomisch, spirituell, politisch, sozial. Das Virus, das in unserem Land regelrecht Amok läuft, offenbart deutlich: Wir verfügen über kein Gesundheits­system, das den Bürgerinnen und Bürgern liefert, was sie brauchen. Und Donald Trump ist kein Witz. Er ist die andere Seite des amerikanischen Imperiums: all der Narzissmus. Die Unfähigkeit, erwachsen zu werden. Die Unfähigkeit mitzufühlen. Die Unfähigkeit, die Welt mit Sorgfalt und auf lange Sicht zu betrachten. Donald Trump steht für die andere Seite Amerikas, wo Menschen glauben, dass jeder Moment ein PR-Moment ist. Dass jeder Moment ein Moment der Selbst­vermarktung ist. Trump repräsentiert jenen bedeutsamen Teil amerikanischer Kultur, der ihn geschaffen hat. Er ist die andere Seite Amerikas, das Gegenbild von Dr. Martin Luther King Jr., das Gegenbild von Rabbi Abraham Joshua Heschel, von der Frauen­rechtlerin und Pazifistin Dorothy Day, des Linguisten Noam Chomsky. Diese Gegen­stimmen sind leider nicht stark genug, um Trumps Amerika effektiv zurück­zudrängen. Und so erscheint nun ein Mann namens Joe Biden als moderater Mann der Mitte am Firmament, doch dieser Mann ist keine signifikante Antwort auf die traurigen Vorgänge in diesem Land. Die Welt zerfällt. Die Mitte hält nicht mehr.

In einem Interview mit MSNBC sprachen Sie von einer massiven Führungskrise in beiden Parteien. Ist Joe Biden der falsche Mann, das System zu reformieren?
Joe Biden ist das System, my dear brother. Joe Biden ist ein neoliberales Desaster.

Sie selbst haben inzwischen empfohlen, ihn zu wählen.
Das zeigt, wo wir gelandet sind: Wir haben die Wahl zwischen einem neofaschistischen Gangster und einem neoliberalen Desaster. Deswegen empfehle ich, zumindest in den swing states unbedingt Biden zu wählen. Denn ja, ein neoliberales Desaster ist besser als eine neofaschistische Katastrophe. Diese Wahl wirft aber auch tatsächlich die ernsthafte Frage auf, ob dieses System überhaupt die Kraft hat, sich zu reformieren. Es ist dermassen korrupt, dysfunktional. Die Eliten sind so wahnsinnig gierig, ohne Idee und Vision. Sie machen einen Fehler, wenn Sie glauben, Donald Trump sei eine Einzelmaske.

Die Stimme erheben für den Mann mit Courage: Cornel West wirbt für Bernie Sanders als Präsident (Davenport, Iowa, Januar 2016). Danny Wilcox Frazier/VII/Redux/laif

Sie haben vor 12 Jahren Barack Obama unterstützt. Heute und vor 4 Jahren haben Sie im Vorwahl­kampf Bernie Sanders unterstützt. Wäre der Senator aus Vermont in Ihren Augen eine echte Antwort gewesen auf den Status quo?
Bernie Sanders hätte einen Unterschied gemacht. Nicht dass er eine Revolution vom Zaun gerissen hätte. Aber es wäre ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. Denn er hatte die Courage, sich frontal mit der Wall Street anzulegen. Er hatte die Courage, sich ohne Zurück­haltung auf unsere militärischen Ausgaben einzuschiessen. Er hatte sogar die Courage, unsere Aussen­politik zu kritisieren, unsere innige Freundschaft mit Saudiarabien und den schrecklichen und boshaften Krieg im Jemen. Oder seine Kritik an Netanyahu und Israel: Sanders, selbst ein jüdischer Bruder, war gewillt, hier eine kritische Position zu beziehen, was in den USA auf dieser politischen Ebene eine völlige Ausnahme ist. Die Deutlichkeit seiner Kritik, aber auch seine Ideen und Visionen – es hat in diesem Land nie eine vergleichbare Präsidentschafts­kandidatur gegeben. Und exakt deshalb habe ich eng mit Bruder Bernie zusammen­gearbeitet und ihn 2016 mit 115 Auftritten unterstützt und 2020 mit 125 Auftritten. Wir sehen uns in 4 Jahren wieder.

Jetzt klingen Sie fast schon optimistisch.
Wir dürfen den Glauben an eine friedliche Transformation nicht verlieren, denn ansonsten sind wir in ernsthaften Schwierigkeiten. Ich bin selbst ein Mann des Blues. Als solcher pflege ich einen vertrauten Umgang mit den Katastrophen, die uns im Leben und überall auf der Welt begleiten. Dissidenten in Gefängnissen. Verfolgung von jüdischen, muslimischen, christlichen Minderheiten. Neofaschisten in Regierungen in den USA, in Ungarn, Brasilien, Indien. Ökologischer Kollaps. Ökonomische Ungleichheit. Nukleare Bedrohungen. Mit all diesem Schrecken trotzdem irgendwie klarzukommen, bedeutet, ein Mann oder eine Frau des Blues zu sein. Es bedeutet, Kummer zu akzeptieren, aber niemals dem Kummer und damit den Katastrophen das Feld zu überlassen.

Was empfehlen Sie?
Ich empfehle, dass Sie sich heute Abend zu Hause hinsetzen und «A Love Supreme» von John Coltrane hören. Oder Aretha Franklin oder Nina Simone. Oder «What’s Going On» von Marvin Gaye. Diesen Menschen schlug so viel Hass entgegen, aber sehen Sie, was diese Menschen dem Hass entgegen­gesetzt haben? Liebe. Die schwarze Geschichte in den USA ist eine Geschichte von love warriors im Angesicht von Hunderten Jahren Hass und Gewalt. Wenn ich sage, dass ich trotz der inspirierenden Proteste nicht wirklich optimistisch bin, dann deshalb, weil die erhebliche Chance besteht, dass die Proteste komplett zerschlagen werden, sollten sie zu einer ernsthaften Heraus­forderung für dieses verfaulte System heranwachsen. Die Repression in diesem Land ist so massiv, unsere Polizei ist als Folge unserer jüngsten Kriege derart martialisch hochgerüstet, dass eine fundamentale Veränderung nicht möglich scheint. Auch nicht eine friedliche. Die Folge ist, my brother, und das ist eine traurige Entwicklung, dass trotz der Proteste, dass trotz des grossen Engagements der Menschen, die reale Chance besteht, dass sich die Gesellschaft noch stärker entpolitisiert. Wir können ja schon jetzt im November nur mit zugehaltener Nase das kleinere Übel wählen. Denn der Status quo, den Joe Biden repräsentiert, ist keine Alternative. Der Status quo verwaltet auch ohne Donald Trump die Ermordung und Tötung und Miss­handlung und Ausbeutung so vieler Menschen.

Was ist es denn, was Sie Joe Biden vorwerfen?
Bruder Biden lobte sich in der Vergangenheit, als Senator Architekt jenes rassistischen Gefängnis­systems zu sein, das die Bürger­rechtlerin Michelle Alexander als neue Form der Sklaverei bezeichnet hat. Wir sprechen hier vom grössten Massen­inhaftierungs­system in der modernen Welt, mit dem sehr viele Menschen sehr viel Geld verdienen und das speziell arme schwarze und arme braune Menschen trifft, die in diesen Gefängnissen, egal wie man es rechnet, völlig überproportional vertreten sind.

Sie sagen, Joe Biden ist also letztlich ein Repräsentant exakt jenes Systems, gegen das die Black-Lives-Matter-Bewegung demonstriert?
Biden spielte bei den jeweiligen Verschärfungen, die zu diesem riesigen Gefängnis­system führten, eine zentrale Rolle. Er schrieb in den Achtzigern an den Gesetzen mit, die schwarze Gemeinschaften regelrecht zerstörten und zu Hundert­tausenden neuen Inhaftierten führten. Joe Biden kooperierte bei dieser Arbeit mit einem der ehemaligen Haupt­kämpfer für die Rassen­trennung, dem Südstaaten-Rassisten Strom Thurmond, für den er sogar eine emotionale Grabrede hielt. Biden war früher selbst ein Befürworter der Rassentrennung. Biden war ebenso ein vehementer Befürworter des Krieges gegen den Irak, der eine halbe Million Menschen das Leben gekostet hat. Er verliert bis heute darüber nicht ein einziges leises Wort, als würden diese wertvollen irakischen Leben einfach nichts bedeuten. Biden, neoliberales Desaster, das er ist, spielte selbst eine zentrale Rolle beim Zerfall des US-Empires. Und mit Zerfall meine ich, die Menschlichkeit der Armen und der Arbeiter aus dem Blick verloren zu haben, in den USA und überall auf der Welt. Das Einzige, was für den Kandidaten Biden spricht, ist Donald Trump.

Black Lives Matter formierte sich 2013. Damals war Joe Biden Vizepräsident von Barack Obama, dem ersten afro­amerikanischen US-Präsidenten. Ist es ein Zufall, dass sich diese Bewegung für schwarze Selbst­bestimmung, diese Bewegung gegen strukturellen Rassismus und Polizei­gewalt ausgerechnet unter dem ersten schwarzen Präsidenten manifestierte?
Nein. Es ist alles andere als ein Zufall. Wie ich Ihnen sagte: Unter Donald Trump manifestiert sich einfach sehr deutlich, was brodelte.

Wie meinen Sie das: Es ist kein Zufall?
Weil sie uns im Stich gelassen haben.

Wer hat Sie im Stich gelassen?
Black faces in high places – schwarze Gesichter in hohen Ämtern. Deshalb ist es alles andere als ein Zufall, dass Black Lives Matter unter Obama aufkam.

Sie haben damals Obama im Wahl­kampf unterstützt.
You are right, my brother. Damn right. 2007 unterhielt ich mich erstmals mit Bruder Barack. Er fragte mich, ob ich mit ihm arbeiten wolle, ob ich ihn mit öffentlichen Auftritten unterstützen wolle. Wir sprachen lange über sein Verhältnis zum Vermächtnis von der Bürger­rechtlerin Fannie Lou Hamer, von Martin Luther King Jr. Es war ein ehrliches und gutes Gespräch, und ich habe ihn danach öffentlich unterstützt und zweimal gewählt.

Was ist passiert?
Seine Präsidentschaft folgte der Logik dieses Systems, in dem es letztlich egal ist, welche Haut­farbe der Kopf des Imperiums hat. Wenn ich sage, man hat uns im Stich gelassen, dann meine ich, dass Obama geschwiegen hat dazu, dass es eine direkte Verbindung gibt zwischen den Verbrechen der Polizei auf Amerikas Strassen, zwischen den Verbrechen der Wall Street und den Verbrechen des Pentagons. Es ist nicht konsistent, gleichzeitig Martin Luther King Jr. zu zitieren und Menschen foltern zu lassen.

Sie werfen Trump vor, ein Mann von Big Money zu sein. Und Obama?
Wo waren Obamas Ansprachen gegen Armut? Wo waren die Ansprachen gegen die massive Polizei­gewalt? Wo waren die Ansprachen gegen den Industrie-Gefängnis-Komplex? Gegen Jim Crow? Gegen die Drohnen­angriffe? Stattdessen rettete Obama, als er an die Macht kam, als Erstes mit einem Bail-out die Wall Street. Wall Street statt Main Street, das war die Botschaft. Er machte der Wall Street klar, dass er sie beschützen wird. All diese massiven Verbrechen, welche diese Leute begangen haben – Insider­handel, Markt­manipulation, Betrug, räuberische Kredite: Wie viele dieser Wall-Street-Kriminellen sind im Gefängnis gelandet? Lassen Sie es mich Ihnen sagen: kein einziger.

Stattdessen?
Obama ernannte mit Eric Holder den ersten schwarzen Justiz­minister der USA. Holder aber ist auch ein Mann, der von Covington & Burling kam, einer Anwalts­kanzlei, die zum Beispiel Goldman Sachs zu ihrer Kundschaft zählte. Holder war ein Wall-Street-Mann. Und so verhielt er sich auch.

Sie sagen, Obama hat das Land nicht vorangebracht?
Obama hat die Drohnen­angriffe verzehnfacht. Von knapp 50 unter seinem Vorgänger Bush auf weit über 500. Er segnete persönlich Todes­listen ab, mit denen Menschen ohne ordentliches Gerichts­verfahren exekutiert wurden, darunter erstmals auch gezielt US-Bürger, der erste von ihnen im Jemen. Kein rechts­staatliches Verfahren. Kein Schuld­beweis. Ist das noch demokratisch oder schon autoritär?

Und dann manifestierte sich Black Lives Matter?
Ja, denn gleichzeitig, während Wall Street einen Freipass bekam, ging das Morden auf Amerikas Strassen weiter. Auch unter Obama wurden weiterhin jedes Jahr Hunderte junge schwarze Menschen – anders als junge weisse Menschen – von der Polizei ermordet. Und so fühlten sich die Menschen im Stich gelassen: ein Schwarzer an der Spitze des US Empire, mit seinem Grips und seiner Pose, seiner grossartigen Frau, den beiden Kids, deren Schwarz­sein fast schon zum Symbol dafür wurde, dass wir Fortschritt machten. Es sah auf den ersten Blick tatsächlich nach Fortschritt aus. Aber wenn man genauer hinschaute, war dem nicht so.

«Chaos oder Gemeinschaft» – das war eine zentrale Aussage von Martin Luther King Jr. Kürzlich starb mit John Lewis die letzte Schlüssel­figur der schwarzen Bürger­rechts­bewegung der Sechziger. Auch Barack Obama hielt eine Trauer­rede. Der Mann, dem Sie vorwerfen, mit seinen ausser­gerichtlichen Tötungen, seinen Kriegen, seiner neoliberalen Wall-Street-Politik die Ideale Kings verraten zu haben. Die Medien lobten Obamas Rede. In Zeiten von Trump müsse jeder Amerikaner, jede Amerikanerin diese Rede hören oder lesen, so der Tenor. Obama sagte, John Lewis habe «dieses Land ein wenig näher zu unseren höchsten Idealen gebracht», und fügte an: «Der Marsch ist nicht vorbei.» Wie beurteilen Sie das? Geht das alles zusammen?
Bruder John Lewis ist ein gutes Beispiel dafür, wie kompliziert die Dinge liegen. John Lewis war einer der grossen Freiheits­kämpfer des 20. Jahr­hunderts. Ein moralischer Referenz­punkt unserer Tage. Aber jener John Lewis vor 50 Jahren, der im Freiheits­kampf von Rassisten fast umgebracht worden wäre, war ein anderer John Lewis als der neoliberale Politiker, der er am Ende war. Wir dürfen nie vergessen, was wir John Lewis schulden für das Opfer, das er als Freiheits­kämpfer persönlich erbracht hat. Der Mann war ein grosser Geist. Als Politiker aber war er wie die meisten Politiker des demokratischen Establishments ein Gefangener des Neoliberalismus. Lewis, möge er in Frieden ruhen, ist ein Beispiel dafür, dass selbst unsere grössten Helden seltsame Wege einschlagen können, dass auch unsere Helden Gefangene werden können des Mainstreams – unserer neoliberalen Politik, in der man nicht mehr über die Verbrechen der Wall Street spricht, nicht mehr über Drohnen­angriffe, über Todes­listen, über die Bomben, die Unschuldige töten in Libyen, in Afghanistan, in Pakistan, im Jemen, im Irak. In der man nicht mehr über den Über­wachungs­staat spricht, der im Namen des Espionage Act Menschen jagt und zerstört – Edward Snowden, Julian Assange. Selbst unsere schwarzen Politiker, die in den Sechzigern Helden waren, die bereit waren, ihr Leben zu geben und denen wir verbunden sind, weil sie spirituelle Grössen sind, wurden als Politiker Gefangene des neoliberalen Projekts. Sie arrangierten sich mit dem ungerechten Status quo und verloren somit einen Teil ihres Feuers.

Die Medien haben Obama vor allem zu Beginn seiner Präsidentschaft sehr stark zugejubelt. Heute, was angesichts von Donald Trump natürlich auch nicht wahnsinnig verwunderlich ist, sehnen sie sich regelrecht nach ihm zurück. Was halten Sie davon?
Die Medien haben bei der einseitigen Verklärung die entscheidende Rolle gespielt. Entweder man hat den Mut, diese Dinge zu benennen, oder man verliert sich in Einseitigkeit, wie die etablierten Medien gegenüber Barack Obama: Bevor Obama Präsident wurde, waren sie seine Cheerleader. Und danach fiel es ihnen schwer, ihn nur ansatz­weise zu kritisieren. Jene von uns, die ihn während seiner Amtszeit kritisiert haben, wurden dämonisiert, abgewertet, marginalisiert. Dabei haben wir bloss daran erinnert, dass wir der Wahrheit und der Gerechtigkeit verpflichtet sind, egal, welche Hautfarbe der Präsident hat. Ich spreche zu Ihnen als revolutionärer Christ. Als solcher bin ich Internationalist. Ich bin der Überzeugung, ein Leben in Zürich hat denselben Wert wie ein Leben im Irak, ein Leben in Buenos Aires, ein Leben in Nairobi, ein Leben in Chicago. Ich erlaube es dem Nationalismus nicht, mich blind zu machen für die Menschlichkeit anderer Leute. Dasselbe gilt in Bezug auf Klassen. Ich bin der Überzeugung, dass Rockefellers Kinder denselben Wert haben wie die Kinder armer weisser Kinder und die Kinder armer schwarzer Kinder.

In einem Ihrer Werke, dem Buch «Race Matters», schreiben Sie, die Frage der race sei in den USA eine tägliche Frage von Leben und Tod. Auch für Sie selbst. Können Sie das ausführen?
Ich kenne keine schwarze Person, die nicht schon willkürlich von der Polizei angehalten wurde. Jeden Tag stehst du auf, gehst du zu deinem Auto – und du weisst es nicht. Es kann passieren. Und dasselbe gilt für deine Kinder. Stellen Sie sich vor, was es heisst, Ihren Liebsten zu erklären, warum sie auf diese Art und Weise wahr­genommen werden, warum sie so behandelt werden. In einer Zivilisation weisser Vorherrschaft ist schwarze Liebe ein Verbrechen. Denn wenn Sie die Menschen wirklich lieben und deshalb den Umstand hassen, dass diese Menschen so unfair behandelt werden, und Sie sich deshalb entscheiden, etwas dagegen zu unternehmen, dann leben Sie unter Todes­drohungen. Ich lebe mit Todes­drohungen seit 1991. Ich muss damit leben, davon auszugehen, jeden Tag ermordet zu werden, weil ich versuche, die Tradition von Martin Luther King Jr. aufrechtzuerhalten. Das ist meine eigene amerikanische Realität.