Die Früchte des Zorns
Gemäss dem Kanun, dem uralten Gewohnheitsrecht der Albaner, sind Frauen von der Blutrache ausgenommen. Warum musste Marija trotzdem sterben? Blutrache in Albanien, Teil 2.
Eine Reportage von Franziska Tschinderle (Text) und Roland Schmid (Bilder), 19.08.2020
«Kommt in mein Büro», sagt der Schlichter kurz angebunden am Telefon und legt auf, ohne uns zu erklären, wo dieses Büro liegt. Nachdem wir im Zentrum von Shkodra, einer Stadt im Nordwesten Albaniens, herumgefragt haben, stellt sich heraus, dass Nikoll Shullani gar kein Büro hat, sondern an einem wackeligen Tisch in einer Bar namens Fiesta arbeitet, die mit lauter Popmusik beschallt und von Rauchschwaden durchzogen ist. Wir haben November, und eine Kältewelle ist hereingebrochen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis in den Bergen nordöstlich von Shkodra Schnee fällt.
Zu Teil 1: «Das dunkle Gesetz»
Der Kanun ist das jahrhundertealte Gewohnheitsrecht der Albaner. Das darin festgeschriebene Verständnis von Ehre, seine Vorschriften zur Gastfreundschaft, aber auch zur Selbstjustiz. Die Blutrache ist ein zentrales Motiv im Kanun. Wie konnte sich eine derart brutale Tradition bis heute halten?
Nikoll Shullani ist ein Mann Mitte 60, der dicke Hals verschwindet in einem bis oben zugeknöpften, schwarzen Mantel. Am Finger trägt er einen goldenen Ring, der das Haupt der Medusa zeigt, der Frau mit den Schlangenhaaren aus der griechischen Mythologie. Passend dazu trägt er eine goldene Uhr und ein goldenes Armbändchen.
So gar nicht zu seiner Erscheinung passt seine Stimme, die ungewöhnlich schrill und hoch ist. Beim Reden hebt er seinen dicken Zeigefinger, richtet ihn über den Tisch auf mich und spricht langsam, mit bedächtiger Stimme. «Der Kanun wird bis heute angewandt, weil der Rechtsstaat rückständig ist und die Menschen deswegen zur Selbstjustiz greifen», das ist einer dieser Sätze, die Shullani oft sagt.
Der Basler Fotograf Roland Schmid (13 Photo) bereist seit mehr als 20 Jahren Osteuropa. Er war seit 2012 auch in Albanien unterwegs, kennt die Gegend und die Menschen, die er über längere Zeit begleitet hat. Seine Bilder erzählen ihre eigenen Geschichten – losgelöst von diesem Beitrag über die Blutrache selbst, aber eingebettet in die jüngere Geschichte Albaniens.
Weihnachten, erzählt Shullani, sei für seinen Beruf ein wichtiges Datum. «Es gibt drei Feiertage, an denen Blutrache-Fehden traditionell geschlichtet werden – Weihnachten, Ostern und Bajram.» Ob ich wisse, was Bajram ist, fragt Shullani. Ich nicke. Im Sommer war ich bei Aidas Familie im Westkosovo eingeladen gewesen, sie ist eine gute Freundin und auch die Übersetzerin meines Buches. Mit der Familie haben wir dieses muslimische Fest gefeiert, bei dem nach dem Fastenmonat Ramadan ein Schaf geschlachtet wird. Shullani nickt zufrieden und zündet Aida eine Zigarette an, während er seine linke Hand auf die Brust legt, ein Zeichen, dass er mit uns warm geworden ist.
Bei den Versöhnungen, erzählt Shullani, lege er eine Bibel oder einen Koran auf den Tisch, je nachdem, welches Bekenntnis die Familien hätten: «Dann müssen sie das Buch umdrehen und das Blut vergeben.»
Shullani kommt aus Lotaj, einem kleinen Bergdorf am Shales-Fluss, der im Nationalpark Theth entspringt. Die wenigsten Touristinnen, die zum Wandern nach Theth reisen, wissen, dass es in der Gegend immer noch Familien gibt, die in Blutfehden verstrickt sind. Shullani vermittelt zwischen den verfeindeten Sippen – wie schon sein Vater und sein Grossvater vor ihm. Er ist der Vorsitzende einer Versöhnungsorganisation, die ihren Sitz in Shkodra hat.
Unter Enver Hoxha, erzählt Shullani, sei die Blutrache erfolgreich bekämpft worden. Während des Zweiten Weltkriegs, als Albanien zuerst von italienischen, dann von deutschen Faschisten besetzt war, gründete Enver Hoxha die Kommunistische Partei mit. Nach dem Sieg über die Nazis stieg er zum sozialistischen Diktator auf. Bis zu seinem Tod 1985 regierte er mit eiserner Faust und verwandelte Albanien in eine Art «Nordkorea Europas». Der sozialistische Staat habe hart gegen all jene durchgegriffen, die den Kanun befolgten, sagt Shullani.
Nach der Öffnung des Landes in den 1990er-Jahren jedoch sei die Zahl der Fälle stark angestiegen: einerseits, weil die Menschen den von den Kommunisten verstaatlichten Grundbesitz zurückforderten und sich Nachbarn dabei über die Grundstücksgrenzen zu streiten begannen; andererseits, weil der albanische Staat im Jahr 1997 de facto zusammenbrach und Menschen Waffendepots im ganzen Land plünderten. Heute, erzählt Shullani, gäbe es nach wie vor Familien, die unregistrierte Waffen bei sich versteckten. «Ich selbst habe keine», sagt er, «aber wenn ich eine wollte, wüsste ich, wo ich sie herbekäme.»
Shullanis Organisation finanziert sich nicht aus staatlichen Mitteln, sondern aus ausländischen Förderungen. Versöhnungen sind mittlerweile zum Geschäftszweig geworden, und mehrere Nichtregierungsorganisationen setzen sich dafür ein, das Problem zu bekämpfen. Unter den Akteurinnen herrscht gegenseitiges Misstrauen und Argwohn. Über Menschen wie Shullani hört man Sätze wie: «Die bekommen so viel Geld, dass ihre Häuser mittlerweile aussehen wie in der Schweiz.» Andere behaupten, Shullani würde 300 Euro für ein Blutrache-Zertifikat verlangen, mit dem betroffene Familien im Ausland Asyl beantragen können.
Shullani sagt über sich selbst, dass er kein Interesse an Geld habe, sondern daran, eine Mission zu erfüllen.
Seit fast 10 Jahren versucht er, die Blutfehde, der Marija im Juni 2012 zum Opfer gefallen ist, zu schlichten. Bisher ohne Erfolg. Shullani klingt, als hätte er bereits aufgegeben: «Das Glas ist zerbrochen, und man kann es nicht mehr reparieren.»
Streit um die Mühle
Dass Marija tot ist, hat mit einer Mühle in einem abgelegenen Dörfchen namens Kasnec zu tun, knapp 25 Kilometer nordwestlich von Shkodra. Es liegt am Ende einer unbefestigten, schwer zu befahrenden Strasse, umgeben von Bergen, Wiesen und einem Fluss. Gut zwei Stunden braucht man von Shkodra dorthin. Die Region, in der das Dörfchen liegt, heisst Dukagjin, so, wie der Fürst, der dem Kanun seinen Namen gab. Dukagjin ist ein naturbelassenes Stückchen Erde, das Forscherinnen, Schriftsteller und Abenteurerinnen schon immer fasziniert hat. Im 19. und 20. Jahrhundert verschlug es eine Reihe von Reisenden in die «verfluchten Berge».
Bevor ich nach Albanien kam, habe ich mich mit den Geschichten dieser Reisenden beschäftigt und mit Aida oft und gerne darüber gelacht, was es damals für schräge Vögel in den albanischen Norden verschlagen hat. Einer davon war der ungarische Baron Franz Nopcsa von Felső-Szilvás (1877–1933), ein studierter Geologe und Dinosaurierforscher aus Siebenbürgen mit zweitem Wohnsitz in Wien. Er rieb sich sein Gesicht mit den reifen Hüllen von Walnüssen ein, um unter den Nordalbanern mit ihren wettergegerbten Gesichtern nicht aufzufallen. Als Hirte getarnt, erforschte er über Jahre das Leben der Stämme in Nordalbanien. Nopcsa verschlug es auch nach Kasnec, wo er akribisch eine Tabelle über Blutrache-Morde führte.
Aber nicht nur Männer, auch Frauen unternahmen Forschungsreisen in die Albanischen Alpen, darunter die britische Schriftstellerin Edith Durham, eine Frau, nach der in Tirana heute eine Schule benannt ist. Durham stiess auf ihren Reisen unter anderem auf das Phänomen der «eingeschworenen Jungfrauen», der burneshas. Hatten Blutfehden alle männlichen Familienmitglieder ausgerottet oder hatte ein Vater nur Töchter gezeugt, kam es vor, dass Frauen sich fortan als Männer kleiden und leben durften. Dies wurde allerdings nur geduldet, wenn sie Jungfrau blieben, sprich ihr Leben im Elternhaus verbrachten.
Eine letzte Reisende ist an dieser Stelle zu nennen, nämlich die aus München stammende Marie Amelie Freiin von Godin, eine streng erzogene Katholikin. Um 1930 verschlug es von Godin nach Shkodra, wo sie mit Franziskanerpatern an einer deutschen Übersetzung des Kanuns arbeitete, bis heute ein Standardwerk. Es ist auch die Version, die ich gelesen habe.
Der Kanun wurde relativ spät, erst im 20. Jahrhundert, zu Papier gebracht. Über Jahrhunderte war er mündlich weitergegeben worden – vom Grossvater an den Vater und von diesem an den Sohn. Verschriftlicht hatte ihn erstmals ein Mann namens Shtjefën Gjeçovi, ein im Kosovo geborener katholischer Priester und Ethnologe, der unter anderem in Innsbruck studiert und über Jahre Forschung im Norden Albaniens betrieben hatte. Von Gjeçovi, der 1929 von serbischen Freischärlern ermordet wurde, hängt bis heute eine Schwarz-Weiss-Aufnahme im Fotografie-Museum von Shkodra. Sie zeigt einen Mann mit buschigem Schnurrbart, dunkler Kutte und eindringlichem Blick.
Heute kann man den Kanun als gebundenes Buch bei Strassenhändlern in Tirana kaufen oder gratis im Internet herunterladen. Anthropologen und Juristen aus aller Welt nutzen ihn als Quelle für ihre Analysen und Dissertationen.
Unter Akademikern gehen die Meinungen auseinander, wie mit dem Kanun umzugehen sei. Die deutsche Anthropologin Stephanie Schwandner-Sievers, die in den 1990er-Jahren in Albanien zum Kanun forschte und seitdem oft von Gerichten und Polizistinnen um Rat gefragt wird, kritisiert, dass der Kanun oft romantisiert werde. Die Wissenschaftlerin sitzt vor einem Bücherregal in ihrem Büro an einer Universität im Süden Englands und sagt in die Skype-Kamera hinein: «Für Kriminelle ist der Kanun eine perfekte Ausrede.» Letztlich, so Schwandner-Sievers, ginge es bei der Blutrache auch um Machtpolitik und um Statusfragen, sei es auf dem Dorf oder in der organisierten Kriminalität. Zum Abschluss rät mir die Anthropologin, den Kanun nicht allein auf die Ehre zu reduzieren: «Frage dich immer, wer wo welche Interessen haben könnte.»
Warum Marija 2012 sterben musste, das weiss auch sie nicht.
In Kasnec, Marijas Heimatdorf, ist der Kanun nicht Theorie, sondern Praxis. Dort zerstört er bis heute das Leben von zwei Familien, die einmal Nachbarn waren. In der Gegend gibt es weder Krankenhaus noch Schule. Ruft jemand die Polizei, dauert es Stunden, bis ein Beamter da ist. Die Bewohner lösen Konflikte oft auf eigene Faust. Früher soll es in Kasnec über 200 Familien gegeben haben. Heute sind es nicht mehr als 30, verteilt auf einige wenige Kullas, die typisch albanischen Steinhäuser.
Die Familie Qukaj sagt über sich selbst, dass sie seit mehr als 500 Jahren in Kasnec lebe, also fast so lange, wie der Kanun existiert. Unweit von ihrem Grundstück liegt das Haus der Familie Prroj. Die Familien kamen stets gut miteinander aus, arbeiteten gemeinsam auf dem Feld und mit dem Vieh. Bis zum Sommer 2009, als der Vorfall mit der Mühle passierte.
Die Qukajs hatten eine Getreidemühle, angetrieben von einem Wasserkanal. Die Familie Prroj beschwerte sich, dass die Qukajs damit dem Dorf das Wasser abzweigten. Im Januar 2009 versammelte sich das Dorf, um über den Nachbarschaftskonflikt zu beraten, so, wie es der Kanun vorsieht. Dabei kam es zum Streit zwischen dem 60-jährigen N. Prroj und M. Qukaj, etwa im selben Alter. Laut einem Bericht der Polizei von Shkodra, der mir vorliegt, begann einer der Söhne von M. Qukaj, das Haus der Prrojs zu beschiessen.
Das Dorf konnte den Streit schlichten, bevor Schlimmeres passierte. Doch der Konflikt schwelte weiter. Kurz darauf, im Juni 2010, sollte die Tochter von M. Qukaj heiraten. Das geplante Fest wurde allerdings davon überschattet, dass die Polizei in Kasnec auftauchte. Jemand aus der Nachbarschaft hatte Anzeige wegen illegalen Waffenbesitzes erstattet.
Das brachte das Fass offenbar zum Überlaufen. Am 7. Juli 2010 ging G. Qukaj, damals 23 Jahre alt, zum Haus der Prrojs und erschoss N., einen der ältesten und höchstangesehenen Männer in der Familie. G. Qukaj stellte sich der Polizei und wurde zu einer Haftstrafe von 14 Jahren verurteilt. Sein Schuss trat eine Lawine los, die bis heute weiterrollt und auch Marija mitgerissen hat.
Nach dem Mord an N. beschlossen die Prrojs, sich an den Qukajs zu rächen. Sämtliche Versöhnungsversuche liefen ins Leere. Die Prrojs verwehrten den Qukajs sogar die besa, also das Ehrenwort.
Dadurch schwebten sämtliche männlichen Mitglieder der Qukaj-Sippe in Lebensgefahr, zumindest sobald sie sich aus den eigenen vier Wänden wagten. Marija hingegen hatte nichts zu befürchten. Warum auch?
«Laut Kanun sind Frauen und Kinder von Blutrache ausgeschlossen, ausserdem junge Männer unter 15 und Kleriker», sagt Giulia Zurlini Panza, eine italienische Sozialarbeiterin, die für eine katholische Friedensmission namens Operazione Colomba in Shkodra arbeitet. In den letzten Jahren, so Panza, seien diese traditionellen Regeln jedoch immer häufiger gebrochen worden. «Blutrache ist komplexer geworden und hat neue Formen angenommen», sagt die Italienerin.
Ähnlich wie Nikoll Shullani vermittelt Operazione Colomba in Albaniens Blutrache-Fehden. Zusätzlich sensibilisieren ihre Mitarbeiterinnen die albanische Öffentlichkeit, etwa, indem sie Petitionen und Demonstrationen organisieren. In Shkodra sprühten ihre Aktivisten Graffiti an Hausmauern: «Ein wahrer Held vergibt.»
Der letzte Wunsch: «Mein Sohn soll rächen»
Giulia, die Italienerin, erzählt von dem starken sozialen Druck, der ihr bei ihrer Arbeit begegnet. «In den Dörfern weiss jeder über den anderen Bescheid», sagt sie. Nachbarn oder Kolleginnen kämen die Familien nach einem Blutrache-Mord besuchen und erkundigten sich darüber, warum sie sich noch nicht gewehrt hätten. Mütter fragten einander, warum ihr Sohn den Mord am Vater noch immer nicht gesühnt habe. Ein 16-Jähriger werde in der Schule als «schwaches Mädchen» bezeichnet, weil er nicht den Mut habe, zur Waffe zu greifen.
Auch Schwester Christina, die bayerische Nonne, die seit 1999 in der Region lebt, erzählt mir von diesem kollektiven Druck. «Wenn ein Cousin Scheisse baut», so Christina, «dann müssen alle Männer der Familie den Kopf hinhalten.» Sie erzählt von Müttern, die ihre Söhne zur Rache drängen, indem sie vorwurfsvoll fragen: «Hast du deinen Bruder denn nicht geliebt?» Sie erzählt von einem Vater, der an Krebs starb und noch am Totenbett zu ihr gesagt habe: «Ich habe einen letzten Wunsch, Schwester. Mein Sohn soll rächen!» Zwei Jahre lang gelang es Schwester Christina, den Jungen, damals 17 Jahre alt, daran zu hindern. «Am Ende hat er doch geschossen», sagt sie bitter.
Auch Marijas Mörder entschieden sich für den Tod. Und Marija selbst war zur falschen Zeit am falschen Ort. Ihre Eltern waren bereits Jahre zuvor mit ihr und den vier Geschwistern ins Tal geflüchtet, an den Stadtrand von Shkodra. Doch im Sommer kehrte Marija ins Bergdorf Kasnec zurück, um ihren Grossvater zu besuchen und bei der Feldarbeit mitzuhelfen. An jenem Nachmittag des 14. Juni 2012, einem Donnerstag, trug Marija Arbeitskleidung – Hosen, eine weite Jacke und einen Hut, der ihre langen Haare verbarg. Die Mörder, die sich 100 Meter entfernt im Gebüsch versteckten, dachten, Marija wäre ein Mann.
Dann fielen Schüsse in Kasnec. Als die Täter bemerkten, dass sie ein Mädchen getroffen hatten, zogen sie sich zurück und leugnen den Mord seitdem.
«Öffentlich haben sich die Prrojs nie zum Mord an Marija bekannt – mir gegenüber aber schon», behauptet Shullani, der Vermittler. Alle im Dorf halten sie für schuldig, aber die Untersuchung wurde wegen mangelnder Beweise eingestellt. Shullani sagt, sie hätten sich dank korrupter Beamter freigekauft – ein Vorwurf, der schwer zu überprüfen ist. «Das ist einer dieser Fälle, in denen die Justiz versagt hat», sagt Giulia, die Aktivistin der katholischen Friedensorganisation. Off the record erzählte mir ein Beamter in Shkodra, dass sich keiner der Polizisten traue, den Fall wieder auszugraben.
Einer der mutmasslichen Täter, A. Prroj, 40 Jahre alt, wurde acht Monate nach dem Mord an Marija im Hafen von Durrës festgenommen, als er gerade eine Fähre, die aus Italien kam, verliess. Das Gericht sprach ihn aus Mangel an Beweisen frei: Zum einen wurde keine Tatwaffe gefunden, zum anderen hatte Prroj ein Alibi. Er sei zum Zeitpunkt des Mordes nicht in Albanien gewesen, so das Gericht.
«Er ist vor dem Mord illegal nach Albanien eingereist. Es gibt Zeugen, die ihn gesehen haben», sagt Lekë Qukaj, 43 Jahre alt und Marijas Onkel. Er verlässt sein Haus seit zehn Jahren nur in Notfällen und nur, wenn er sicher weiss, dass die Prrojs nicht in der Stadt sind. Heute ist so ein Tag. Lekë Qukaj hat sich von einer Vertrauensperson nach Shkodra fahren lassen, direkt vor die Fiesta-Bar, in der ich mit Shullani und Aida sitze. Die beiden haben einen Termin, ein glücklicher Zufall, der mir in fünf Jahren Reporterleben so noch nie passiert ist.
Schweigend rührt Lekë Qukaj Zucker in die kleine Espressotasse. Seine Augen wandern unruhig hin und her – durch die Bar, auf die Strasse und zurück an den Tisch. Dann fängt er an zu erzählen.
Vielleicht, frage ich mich, hat Shullani ihn angerufen, damit ich Partei für die Qukajs ergreife? Skeptisch mustere ich den Mann gegenüber von mir, der ein schwarzes Sakko über einem blauen Hemd trägt und frisch rasiert ist. Nur seine rauen, kräftigen Hände verraten, dass er sein Leben lang Arbeit auf dem Feld verrichtet hat.
Irgendwann unterbreche ich ihn: «Warum redest du überhaupt mit einer Journalistin? Bringt dich das nicht in Gefahr?» Qukaj zuckt mit den Schultern: «Was habe ich schon zu verlieren?»
Es trifft sich gut, dass Aida und ich einen Tag vor unserem Treffen das Familiennetz der Prrojs und Qukajs aus Polizeiberichten und Zeitungsartikeln rekonstruiert haben, eine Arbeit, die mehrere Stunden in Anspruch genommen hat. Am Ende hatten wir die Verbindungen zwischen allen Akteuren auf die Rückseite einer Kekspackung gezeichnet, versehen mit der Information, ob sie tot, frei oder im Gefängnis sind.
«Wer ist gerade am Zug?», fragte ich Aida. «Die Prrojs, es steht noch immer null zu eins, weil das Blut von Marija nicht gilt und somit auch der Tod des Grossvaters nicht», antwortete sie. In diesem Moment empfand ich mich selbst als ungemein gefühlskalt. Wir sprachen über den Tod einer 17-Jährigen, als ginge es um den Stand in einem Fussballspiel. Will man Blutrache verstehen, schaltet man irgendwann sein Mitgefühl aus. Die Fehde wird zu einer mathematischen Formel. Anstatt über Morde zu reden, spricht man von Punkten. Man vergisst, dass es um Menschen geht, die irgendjemandem da draussen einmal alles bedeutet haben – Töchter, Ehemänner, Brüder.
Auf der Rückseite unserer Keksschachtel im Hotelzimmer stand auch der Name von G. Qukaj, jenem jungen Mann, der die Fehde mit dem Mord an N. Prroj losgetreten hatte. 2025 wird er seine Strafe abgesessen haben. Lekë Qukaj, der Mann in der Bar, ist sein älterer Bruder.
«Hätte ich gewusst, dass mein Bruder an jenem Tag eine Waffe trug, hätte ich ihn aufgehalten», sagt Lekë. Er vergräbt dabei nicht sein Gesicht in den Händen oder zeigt Wut, sondern spricht genauso emotionslos wie zuvor, sein Gesicht bleibt ohne jeden Ausdruck.
Er selbst bezeichnet sich als arbeitslos, weil er, ein Bauer, seine Felder nicht mehr so bewirtschaften kann wie früher. Mit Marijas Mutter, unten im Tal, telefoniere er gelegentlich, gehe aber nie zu Besuch. Zweimal die Woche, so Lekë, fährt die Polizei nach Kasnec, um zu kontrollieren, ob seine Familie Waffen zu Hause hat.
Bis zum heutigen Tag geben die Prrojs den Mord an Marija nicht zu. Sie wollen das Blut von N. weiterhin rächen. Die Qukajs wiederum wollen Marija und ihren Grossvater rächen. Am 9. April 2014 eskalierte der Konflikt erneut. Marijas Onkel Lazër schoss auf Ni., einen Mann aus dem Prroj-Clan. Er wurde in die Schulter getroffen, überlebte den Angriff aber. Seitdem sitzt Lazër im Gefängnis.
Marijas mutmasslicher Mörder ist bis heute auf freiem Fuss – angeblich in Italien.
Franziska Tschinderle ist freie Journalistin, sie lebt in Wien und war im Jahr 2019 mit der Übersetzerin Aida Kolenović in Albanien unterwegs. Diese zweiteilige Reportage ist ein adaptierter Vorabdruck aus Tschinderles neuem Buch, das aus dieser Reise entstand. Es erscheint im September im DuMont-Reiseverlag.