Journalismus in Gefahr
Es gibt verschiedene Arten, wie man die Medienfreiheit messen kann. Alle geben Anlass zur Sorge: Das Klima für unabhängige Berichterstattung wird rauer – und zwar weltweit, seit Jahren.
Von Simon Schmid, 10.08.2020
Es gibt wenig zu beschönigen. Die Grundlagen, um freien und kritischen Journalismus zu betreiben, gehen in vielen Ländern verloren.
Die verschiedenen Daten, die das belegen, diskutieren wir in diesem Text.
Journalisten im Gefängnis
Eine vielsagende Statistik stammt vom Committee to Protect Journalists (CPJ), einer Nichtregierungsorganisation mit Sitz in New York und Büros in weltweit dreizehn Städten, die sich der Förderung der Pressefreiheit verschrieben hat. Sie dokumentiert in ihrer Datenbank seit über zwanzig Jahren minutiös jeden Fall, bei dem irgendwo auf der Welt Journalistinnen ins Gefängnis geworfen wurden – wegen Berichten, die von Behörden als «gefährlich», «verleumderisch» oder «falsch» eingestuft werden.
Die Einträge haben sich über die Jahre gehäuft. Ende 2019 sassen insgesamt 248 Journalisten im Gefängnis. Das sind zweieinhalbmal so viele wie um die Jahrtausendwende, als der Trend noch in eine positive Richtung ging.
Journalistinnen hinter Gitter zu bringen, ist einer der drastischsten Wege, die Medienfreiheit einzuschränken. Schlüsselt man die Zahlen nach Ländern auf, so kristallisieren sich vier Hauptverantwortliche heraus: China, die Türkei, Ägypten und Saudiarabien. Sie vereinen 60 Prozent der Fälle auf sich.
Die juristischen Begründungen für die Einkerkerungen sind vielfach an den Haaren herbeigezogen. Oft sind Regierungswechsel oder politische Konflikte die wahren Gründe, warum Regierungen gegen Medienschaffende vorgehen:
China: Freie Medien gab es in der Volksrepublik noch nie – die Zensur ist allgegenwärtig. Doch seit Xi Jinping 2015 Präsident wurde, steigen die Zahlen besonders. Journalisten, die als Bedrohung gesehen werden – etwa weil sie über die Proteste in Hongkong berichten –, werden unter dem Vorwand eingesperrt, sie würden «Streit suchen und Ärger machen», schreibt das Committee to Protect Journalists in seinem letzten Bericht.
Türkei: Hier nahmen die Fälle nach dem Putschversuch von 2016 zu. Präsident Recep Tayyip Erdoğan ging rigoros gegen unabhängige Medien vor. Über hundert Redaktionen wurden geschlossen; Dutzenden von Journalistinnen wurde der Prozess gemacht – laut CPJ oft wegen angeblicher «Propaganda für eine terroristische Organisation» – ein beliebig anwendbarer Vorwurf.
Ägypten: Hier markiert der Militärputsch von Abdel Fattah al-Sisi einen Wendepunkt. Zuvor sassen in Ägypten relativ wenig Journalisten im Gefängnis. Doch seit Sisi 2013 Präsident wurde, gingen die Zahlen hoch. «Fake News» – ein Schmähbegriff für zu kritische Berichterstattung – heisst ein häufiger Anklagepunkt, der zu Verurteilungen führt.
Saudiarabien: Das Königreich im Mittleren Osten hat keine unabhängige Justiz – und macht sich meistens auch nicht die Mühe, überhaupt Gründe anzugeben, wenn es Medienschaffende einsperrt. Die vom Committee to Protect Journalists dokumentierten Fälle haben sich dort seit 2017 gehäuft, dem Jahr, in dem Kronprinz Muhammad bin Salman eingesetzt wurde. Bin Salman trägt gemäss einem Uno-Bericht auch die Verantwortung für den Mord am «Washington Post»-Kolumnisten Jamal Khashoggi im Jahr 2018.
Die prominente Position der vier Länder ist also kein Zufall. Sie liegt auch daran, dass die Medienfreiheit in Staaten wie China generell sehr limitiert ist. Dies geht aus mehreren internationalen Statistiken hervor.
Achse der Unterdrückung
Eine davon publiziert die Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF) mit Sitz in Paris und Präsenz in zehn weiteren Ländern. Sie nennt sich «Index der Pressefreiheit» und wird seit 2002 für ungefähr 180 Länder berechnet.
Der RSF-Index der Pressefreiheit fasst einerseits zusammen, wie häufig es in einem Land zu Menschenrechtsverletzungen gegen Journalistinnen kommt. Also zu Akten von physischer Gewalt – bis hin zu Kidnapping und Mord – sowie zu staatlicher Repression: Verhaftungen, juristische Drangsalierung.
Andererseits wertet RSF systemische Faktoren aus: Wie pluralistisch ist die Medienlandschaft? Gibt es staatliche Zensur? Eine unabhängige Justiz? Sind die Medien frei von finanziellen Interessen bestimmter Industriebranchen?
Aus dem globalen Pulk stechen vor allem Länder aus dem arabischen Raum sowie aus Zentral- und Ostasien hervor. Zum Beispiel China: Auf einer Skala von 0 bis 100 erreicht das Land bloss 22 Punkte. Schlechter ausgebildet ist die Pressefreiheit nur in Eritrea und in Turkmenistan, zwei autoritären Staaten.
Saudiarabien kommt auf 38 Punkte und Ägypten auf 43 Punkte. In beiden arabischen Ländern wird die Situation von RSF als very serious, also als sehr gravierend beurteilt. Nur wenig besser steht mit 50 Punkten die Türkei da. Zuoberst stehen Norwegen und Finnland mit je 92 Punkten. Die Lage wird hier als gut eingestuft, ebenso wie in der Schweiz, die 89 Punkte erreicht.
Die Berechnung dieser Punktzahlen ist relativ komplex, die Formel für den RSF-Index eher schwierig nachzuvollziehen. Und die Bewertung der Länder hängt in einzelnen Punkten vom Urteil der RSF-Mitarbeitenden ab sowie von Fragebögen, die von Partnerorganisationen ausgefüllt werden.
Man kann sich daher durchaus fragen, wie zuverlässig eigentlich solche Statistiken sind. Kann man Medienfreiheit überhaupt objektiv messen?
Zwei kongruente Studien
Eine Möglichkeit, dies zu beantworten, ist, den RSF-Index mit einer weiteren Statistik zu vergleichen: dem Pressefreiheits-Score von Freedom House (FH).
Diese Statistik erschien letztmals vor drei Jahren – 2017 war das letzte Jahr, in dem die Organisation mit Sitz in Washington und Büros in einem Dutzend Ländern eine separate Untersuchung über die Pressefreiheit veröffentlicht hat (seither wird das Thema etwas weniger ausführlich in «Freiheit auf der Welt» abgehandelt, dem bekanntesten Bericht von Freedom House).
In der Untersuchung wurde die Pressefreiheit anhand von drei Variablen gemessen: die juristische, die politische und die ökonomische Umgebung, in der Medienschaffende arbeiten. Bewertet wurde jedes der berücksichtigten Länder von internen und externen Experten in rund 100 Einzelfragen.
Man könnte vermuten, dass sich die Länderbewertungen der Organisation Freedom House, zu deren Mission nebst Demokratie und bürgerlicher Freiheit auch das «Fördern der Führungsrolle der USA» gehört und die stark von staatlichen Fördergeldern abhängt, öfter einmal unterscheiden müssten von den Bewertungen der Reporter ohne Grenzen – einer Organisation, die einst von französischen Journalisten in Montpellier gegründet wurde. Womöglich kommen «Feinde» der USA bei Freedom House schlechter weg?
Doch dem ist nicht so. Die beiden Indizes korrelieren stark: Es gibt weltweit kein einziges Land, das etwa von den Reportern ohne Grenzen hervorragend eingestuft würde und von Freedom House miserabel – oder umgekehrt. Im Gegenteil: Länder, denen von RSF ein tiefer Grad an Medienfreiheit attestiert wird, schneiden auch bei FH schlecht ab – und zwar ausnahmslos.
Gäbe es solche Abweichungen, so müssten auf der Grafik etwa in der linken, oberen oder in der rechten, unteren Ecke ebenfalls Länder auftauchen. Das Urteil der beiden Organisationen unterscheidet sich für die allermeisten Länder kaum.
Das gilt auch für ihre Heimatstaaten: Sowohl die USA als auch Frankreich verhalten sich gemäss RSF sowie FH ziemlich gut, aber nicht sehr gut. RSF bemängelt in Frankreich etwa, dass Investigativjournalisten manchmal von der Justiz bedrängt werden und dass die Unabhängigkeit mancher Redaktionen durch Geschäftsinteressen unterwandert wird. In den USA werden die Diffamierung der Medien durch Präsident Trump oder die Anklage gegen den Wikileaks-Gründer Julian Assange angeprangert.
Dass die zwei wichtigsten Statistiken zur Pressefreiheit eine hohe Kohärenz aufweisen, verleiht ihnen eine grössere Zuverlässigkeit. Und es erlaubt uns, mit gutem Gewissen einen längeren Zeitvergleich vorzunehmen.
Einschnitte passieren in vielen Ländern
Eine naheliegende Variante dafür ist, für die Medienfreiheitsindizes aller Länder einfach den Median zu berechnen (also den Wert des Landes, das genau in der Mitte des Feldes liegt) und über die Zeit abzubilden.
Das Resultat ist auf der folgenden Grafik dargestellt: einmal für die Studie von Freedom House, die von 2002 bis 2017 im Jahresrhythmus erstellt wurde, und einmal für die der Reporter ohne Grenzen, die seit 2013 vorliegt. Beide Male ist der Median gesunken: bei FH um 8,5 Punkte, bei RSF um 2,3 Punkte.
Alternativ dazu können wir auch auswerten, welche Art von Veränderungen sich im Ländersample über die letzten zwanzig Jahre abgespielt haben.
Zählt man etwa in den FH-Studien, wie viele Länder sich von Jahr zu Jahr jeweils verbessert haben, kommt man zwischen 2002 und 2017 im Schnitt auf 46. Zählt man die Verschlechterungen, kommt man auf 76.
In den RSF-Studien kommt man von 2013 bis 2020 auf ein Verhältnis von durchschnittlich 100 Verschlechterungen zu 71 Verbesserungen.
Für beide Studien gilt also: In einem typischen Jahr haben deutlich mehr Länder einen Rückschritt vollzogen als einen Fortschritt.
Dass die Medienfreiheit gemäss den neueren RSF-Studien Jahr für Jahr in einer Hundertschaft von Ländern schwindet, ist keine gute Nachricht. Es unterstreicht: Der Journalismus gerät nicht nur wegen der einzelnen Staaten wie China unter Druck, die Journalisten oft ins Gefängnis werfen. Sondern aufgrund von vielen kleinen und grossen Einschnitten überall auf der Welt:
zum Beispiel im afrikanischen Kleinstaat Djibouti (–9 Punkte in den RSF-Statistiken seit 2013), der keine unabhängigen Medien zulässt;
oder in ehemaligen Sowjetstaaten wie Aserbaidschan (–11 Punkte), wo Präsident Ilham Alijew Journalistinnen rigoros verfolgt, die bei Wahlen über Unregelmässigkeiten berichten;
oder in Katar (–10 Punkte), Sitz des TV-Senders al-Jazeera, wo sich die Bedingungen im Lokaljournalismus verschlechtert haben und Kritik an der Königsfamilie tabu ist;
oder in Indien (–4 Punkte), wo die Angriffe auf Journalisten unter Premierminister Narendra Modi spürbar zugenommen haben und Journalistinnen, die nicht der hindu-nationalistischen Linie folgen, der «Aufwiegelung» bezichtigt werden;
oder in Polen (–16 Punkte), wo die Partei PiS, die seit 2015 regiert, die öffentlichen TV- und Radiosender zu Propagandamaschinen umfunktioniert hat und unabhängige Zeitungen juristisch drangsaliert;
und selbst in Österreich (–6 Punkte), wo die rechtspopulistische FPÖ Attacken gegen das öffentlich-rechtliche Fernsehen ritt und versuchte, kritische Medien vom Informationsfluss ihrer Ministerien abzuschneiden.
Dagegen sind die positiven Beispiele dünner gesät. Immerhin, es gibt sie:
in Somalia (+18 Punkte), wo Journalist zwar ein lebensgefährlicher Job ist, die Gerichte vor zwei Jahren aber erstmals Polizisten und Soldaten wegen Gewalt gegenüber Medienschaffenden schuldig sprachen;
in Tunesien (+10 Punkte), wo sich die Lage seit dem Arabischen Frühling von 2011 merklich verbessert hat;
oder in Portugal (+5 Punkte), wo das Parlament zuletzt einen stärkeren juristischen Schutz für Journalistinnen beschlossen hat.
Fazit
Es sind schwierige Zeiten für die freie Presse. Nicht nur in Einparteienstaaten wie Vietnam, sondern auch in wichtigen Demokratien haben Teile der Bevölkerung keinen Zugang mehr zu unverfälschten Nachrichten, schreibt die Medienforscherin Sarah Repucci von Freedom House. Immer öfter mischen sich Regierungen in Redaktionen ein, immer stärker unterwandern zweifelhafte Social-Media-Kanäle die traditionellen, hochwertigen Medien.
Schaut man in den Studien der Reporter ohne Grenzen genau hin, so bemerkt man über die vergangenen rund drei Jahre zwar so etwas wie Kontinuität – die Medienfreiheit schwindet weltweit nicht mehr ganz so rapide wie zuvor.
Doch gerade das Jahr 2020 ist ein kritisches. Die Corona-Pandemie setzt viele Medien erhöhtem Druck aus, wie die Reporter ohne Grenzen berichten: Regierungen aus Ländern wie China, Iran oder Ungarn haben in den vergangenen Monaten zusätzliche Gesetze erlassen, um kritische Berichte über ihre jeweiligen Gesundheitssysteme zu unterbinden und das wahre Ausmass der Covid-19-Verbreitung in der Bevölkerung zu verschleiern.
Für die Entwicklung der Medienfreiheit sind das keine guten Vorzeichen.