«Wo sy die, wo so sy wien ig?»
Sie ist so was wie die Grande Dame der Schweizer Kleinverlage: Seit siebzehn Jahren führt Ursi Anna Aeschbacher «die brotsuppe». Ein brotloses Geschäft – und doch ihr Lebenstraum. Nur manchmal fehlen ihr die Verbündeten.
Von Daria Wild (Text) und Diana Pfammatter (Bilder), 04.08.2020
Für das Jahr 2019 hatte der Schweizer Buchhändler- und Verlegerverband eine «Trendwende» verkündet. Und für 2020 «Optimismus». Trotzdem: Das Geschäft mit Büchern wird nicht einfacher.
Zuvor war der Umsatz mit Büchern in der Deutschschweiz innert zehn Jahren um 26,4 Prozent gesunken. Und der Shutdown wird dieses Jahr Löcher in die Bilanzen reissen. Sowohl für Buchhändlerinnen und Verleger als auch für Autorinnen ist die Lage angespannt. Besonders anspruchsvolle und kommerziell weniger vielversprechende Literatur werde es künftig schwer haben, sagte Daniel Waser, Geschäftsführer des Schweizer Buchhändler- und Verlegerverbandes, auf dem vorläufigen Höhepunkt der Krise im April.
Um diese Literatur kümmern sich vor allem auch kleine, unabhängige Verlage. Seit Jahren wursteln sie sich an den Rändern des angespannten Literaturbetriebs durch, bespielen Nischen und verlegen eigensinnige, wenig massentaugliche Bücher.
Preisgekrönte Autoren im Programm
Ursi Anna Aeschbacher ist in der Schweiz so was wie die Grande Dame dieser Kleinverlage. Seit rund siebzehn Jahren veröffentlicht sie mit ihrem kleinen Bieler Verlag «die brotsuppe» Bücher, sie hat einen Verband unabhängiger Verlage ins Leben gerufen und 2013 die erste Bieler Literaturmesse Edicion mitorganisiert. In ihrem Haus ist Aeschbacher Verlegerin, Lektorin und Gestalterin in Personalunion. Etwa hundert Manuskripte bekommt sie jährlich angeboten, gerade mal zwölf Bücher verlegt sie pro Jahr.
Doch der Kleinverlag hat sich längst einen Namen gemacht. Im Programm sind neben Übersetzungen und Debüts auch preisgekrönte Autoren wie Gunstein Bakke aus Norwegen, der mit «Maud und Aud» den Literaturpreis der Europäischen Union gewann. Und gerade ist Aeschbachers neuester Wurf im Gespräch: Sie hat ein Buch verlegt, das schwarze Frauen aus Biel porträtiert. Es heisst «I Will Be Different Every Time» – und es ist ein Koloss: A4-Format, drei Zentimeter dick, 1,3 Kilogramm schwer, gelb-schwarz. Unübersehbar.
Aber Aeschbachers Geschäft ist ein Kampf ums Überleben. «die brotsuppe» ernährt gerade mal eine Person. Und auch diese eigentlich nur knapp genügend. Wie macht Aeschbacher das? Oder viel eher:
Warum macht sie das?
In Turnschuhen, mit geblümtem Rock, schwarzem Shirt und dunkler Sonnenbrille sitzt Aeschbacher in einem Bieler Café an einer belebten Kreuzung unweit des Bahnhofs. Den Stuhl hat sie in Richtung Kanal gestellt, der Blick ruht auf dem Wasser, der Rücken ist der Sonne zugewandt, «weil es hier ja so fest windet», sagt sie.
Aeschbacher ist eine einnehmende Frau, in ihrer Art zu sprechen, das Herz auf der Zunge, der Blick in die Weite, liegen Gelassenheit und Schwermut, Schalk und Ernsthaftigkeit. Irgendwann während des Gesprächs beantwortet Aeschbacher die Frage nach dem Warum von selbst: «Es ist eine wunderschöne Arbeit. Und ein wunderschönes Leben.»
AKW, Radio und Bücher
Um zu verstehen, warum Aeschbacher gegen alle Widrigkeiten Bücher verlegt, hört man sich am besten ihre Lebensgeschichte an. Die Bielerin ist eine ausgezeichnete Erzählerin.
Sie erzählt von den Grosseltern, die das Restaurant «End der Welt» führten, das Robert Walser zu seiner Erzählung «Das Ende der Welt» inspiriert haben soll. Ganz verliebt sei er gewesen in ihre Grossmutter. «Und mein Grossvater hat ihn gehasst.»
Erzählt von der Mutter, die eigentlich Chefsekretärin bei der Siemens werden wollte – «Wer weiss, warum!» –, aber im Gegensatz zum Bruder nach der Schule zurück auf den elterlichen Hof musste.
Vom Vater, Möbelschreiner und Bergbauer, der sich bei einem Sturz in eine Gletscherspalte nicht nur den Rücken ruinierte, sondern bei dem danach auch «etwas irgendwie anders im Kopf war». Jedenfalls mischte er fortan Farben wie kein Zweiter und fälschte Van Goghs und Rubens für seine Freunde.
Vom Bruder, der ein geistiges Handicap hat und zeitlebens gepflegt werden muss. Und von der Schwester, einer Sozialarbeiterin, der Aeschbacher versprach, nach Hause zu kommen, um sich um den Bruder zu kümmern, wenn die Eltern krank würden.
Dann davon, wie sie erst mal fort reist, mit zwanzig Jahren nach Westberlin, nicht weil ihr Biel nicht passt, sondern «weil ich einfach alles ausprobieren wollte».
In Berlin «entfalteten sich die Frauenthemen», Aeschbacher tut und lässt, was sie will, spielt ein Fischstäbchen in einem Theater, stösst zur Anti-AKW-Bewegung, wo sie jahrelang aktiv sein wird, «als Strategin zwar unbrauchbar, weil ich zu verworren dachte», aber immer engagiert, immer ein politischer Mensch.
Mal schreibt sie sich in Literaturwissenschaft ein, mal in Malerei, dann wieder in Hydrologie – «Was habe ich nicht studiert!» –, immer so lange, bis ihr das Geld ausgeht, dann arbeitet sie wieder als Lektorin bei Verlagen oder, in Freiburg im Breisgau dann, am Öko-Institut, einer aus der Anti-Atomkraft-Bewegung erwachsenen Forschungsstelle. Dort schreibt sie für die Zeitschrift «Öko-Mitteilungen» und versucht, die «unlesbaren Papiere» der Naturwissenschaftler zugänglicher zu machen.
Es sind die bewegten Siebziger- und frühen Achtzigerjahre, Aeschbacher kommt verhalten ins Schwärmen, wenn sie davon erzählt. «Ich meine, ich bin zu einer Zeit aufgewachsen, in der man als Meitschi froh sein durfte, etwas sagen zu dürfen», sagt sie, fast selber verwundert über die Welt von damals.
Mit einem Physiker, in den sie sich verliebt hat, reist Aeschbacher nach Gorleben, kurzzeitig das Zentrum des Atommüll-Widerstands. Hier demonstrieren Zehntausende gegen Atomkraft, errichten ein Hüttendorf, rufen die «Republik Freies Wendland» aus, und Aeschbacher, mittendrin, verdient ihren Lebensunterhalt mit dem Weben von Wandbehängen und dem Übersetzen und kommt mit dem Piratensender Radio Freies Wendland in Kontakt.
Als sie Mutter wird, kehrt Aeschbacher nach Freiburg zurück, «ich musste ein bisschen braver werden», steigt bei Radio Dreyeckland ein, ebenfalls ein Piratensender, der später eine Lizenz erhält. Es ist eine Mischung aus Bücherliebe, Erfahrung, Abenteuersinn und politischem Widerstand, die aus Aeschbacher schliesslich eine Verlegerin macht: das Interesse an Büchern (vorerst besonders Übersetzungen), die Erfahrung als Lektorin und Gestalterin und die Lust, etwas auf die Beine zu stellen, was sich vom Üblichen abhebt. Ihr erstes Buch ist eine Übersetzung von «Gender and Nation» der Geschlechterforscherin Nira Yuval-Davis, das Aeschbacher selber auf Deutsch lesen will.
Neustart in Biel
Nach wenigen Jahren kehrt Aeschbacher, quasi mit der «brotsuppe» im Gepäck, zurück nach Biel, in die Stadt ihrer Kindheit und Jugend. «Die Stadt war für mich nach dreissig Jahren Deutschland eine neue. Doch die Menschen sind gleich geblieben.»
Zehn Gehminuten sind es vom Kanal in die Altstadt, wo sie aufgewachsen ist. Ist ihr, der Abenteurerin, die Welt hier nicht zu klein? Ohne eine Sekunde zu zögern, sagt Aeschbacher: «Die Welt ist mir nie zu klein. Es ist wie bei Marbot: Es kommt immer darauf an, wie du bist.» Nur manchmal fehlten ihr die Verbündeten, sagt sie, nachdenklich.
Manchmal frage sie sich: «Wo sy die, wo so sy wien ig?»
Weder die Verkäufe noch die Subventionen reichen aus, damit sich Aeschbacher einen anständigen Lohn auszahlen geschweige denn jemanden einstellen kann – obwohl sie Arbeit genug hätte für mindestens zwei weitere Leute. Der Förderbetrag des Bundesamts für Kultur für die vergangenen vier Jahre und der im November 2019 verliehene, mit 10’000 Franken dotierte Spezialpreis der Literaturkommission der Stadt Bern sind ein Trost, wenn auch ein schwacher.
«Ich muss es einfach so machen, dass ich nicht untergehe. Dann halte ich es auch länger aus. Wenns kippt, ist es vorbei.»
Aeschbacher nennt das Dilemma, das viele Menschen im Kulturbetrieb trifft: «Viele denken, wenn du etwas gern machst, brauchst du nichts dafür zu verdienen, weil du es so oder so machen würdest. Und das Blöde ist: Das stimmt sogar.»
Doch Erfolg sei keine Frage des Umsatzes, das sei in unserer Wahrnehmung viel zu stark gekoppelt. «Es braucht endlich eine Auseinandersetzung: Wir müssen darüber nachdenken, was es bedeutet, dass wir weniger Bücher verkaufen.» Die Branche müsse sich endlich eingestehen, dass sie gleich behandelt werden müsste wie Opernhäuser, Theater oder Filmproduktionen. «Denn Büchermachen ist eine Frage von Kunst.» Die Bücher, die ein Verlag wie «die brotsuppe» macht, gäbe es ohne Menschen, die vor radikal unwirtschaftlicher Selbstausbeutung nicht zurückschrecken, schlicht und einfach nicht.
«Ich mag es nicht, wenn es um nichts geht»
Die Sonne drückt, in den Strassen abseits des windigen Kanals ist es heiss. Aeschbacher schlendert am General-Guisan-Platz vorbei zu ihrem Lager, einer Garage mitten in der Stadt, in der Künstlerinnen ihre Werke deponieren und Aeschbacher palettenweise Bücher. «Es ist schlimm, wenn du denkst, du hast ein wunderbares Buch gemacht, und dann kauft es niemand.» Denn obwohl für sie das Geschäft sekundär ist, nur für sich macht sie die Bücher nicht, schliesslich ist sie überzeugt von der Literatur, die sie verlegt. «Ich finde alle gut. Und das ist nun mal der einzige Massstab, den ich haben kann.»
Und wo liegt er, dieser Massstab?
Angesprochen auf ihr neues Buch, «I Will Be Different Every Time», in dem schwarze Frauen aus Biel ihre Lebenswege, ihre Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen schildern, sagt Aeschbacher: «Ich mag es nicht, wenn es um nichts geht.»
Das Buch zeige einem nah und unvermittelt, was es beispielsweise auslöse, immer gefragt zu werden, woher man komme, wohin man gehe, warum man nicht da geblieben sei, wo man herkomme. Aeschbachers Worte sind eindringlich, bei aller Zurückhaltung ihres Naturells. «Alles, was wir tun können, damit wir jemanden nicht verletzen, sollten wir tun.»
Ursi Anna Aeschbacher, Verlegerin, Bielerin, Abenteurerin, sagte in ihrer Dankesrede bei der Verleihung des Spezialpreises der Stadt Bern letztes Jahr: Literatur verändere vielleicht nicht die Welt, aber sicher die Zeit, die wir mit ihr verbringen, und vielleicht auch ein wenig die Zeit danach. Und jetzt, in dieser kühlen Garage in Biel, zwischen Metallregalen, Bücherstapeln, Karton und Zellophan, sagt sie, fast zu sich selbst: «Ich denke einfach immer wieder: Gut, mache ich diese Bücher.»