Strassberg

Wer lenkt die Welt?

Der Mensch als Herrscher über die Natur: Die Covid-19-Pandemie hat dieses Bild endgültig zerschlagen. Manche werden es trotzdem nicht loslassen.

Von Daniel Strassberg, 28.07.2020

Die Juden sollen zwangs­sterilisiert werden, weil die Rothschilds zusammen mit der Rockefeller-Foundation Bill Gates’ Projekt finanzieren, der ganzen Menschheit einen Chip zu implantieren. Sollten Sie das für eine geschmacklose Parodie auf die aktuellen Verschwörungs­theorien halten, liegen Sie falsch. Das ist ein Original, verlautbart vom Basler Pnos-Mitglied Tobias Steiger und gepostet auf der Website seiner Partei. Dass die NZZ es für nötig befand, diese Theorie als unhaltbar zu qualifizieren, scheint mir fast noch bemerkens­werter als der Post selbst – offenbar versteht sich das nicht von selbst.

Was Verschwörungs­theorien mit dem japanischen Edelpilz Matsutake zu tun haben und warum Aristoteles an allem die Schuld trägt, davon soll nun die Rede sein.

Verschwörungs­theorien sind nicht neu, doch die Geschwindigkeit, mit der sich neue im Wind­schatten der Pandemie verbreiteten, ist beängstigend. Natürlich sind die Aluhüte nur eine verschwindend kleine Minderheit der Bevölkerung, doch milderen Formen des Verschwörungs­glaubens neigen viele zu. Schliesslich gibt es tatsächlich Verschwörungen, wird argumentiert. Vielen geht es so, wie dem New Yorker Taxifahrer Jerry Fletcher (Mel Gibson) aus dem Film «Conspiracy Theory» (Richard Donner, 1997), der Flug­blätter mit wirren Verschwörungs­theorien druckt und verteilt. Eines Tages wird er entführt und gefoltert. Er weiss nun, dass eine seiner Theorien ins Schwarze getroffen hat – aber er weiss nicht, welche.

Aber schön der Reihe nach. Beginnen wir bei Aristoteles. Der definiert die Natur so:

Von dem was ist, ist einiges von Natur, anderes durch andere Ursachen. Von Natur: Die Tiere und ihre Teile, und die Pflanzen, und die einfachen Körper, wie Erde und Feuer und Luft und Wasser. Denn von diesen und ihres gleichen sagen wir, sie seien von Natur. Alles das Genannte aber erscheint als unterschieden, gegen das was nicht von Natur ist. Das von Natur seiende nämlich erscheint sämtlich als enthaltend in sich den Ursprung der Bewegung und des Stillstandes […] Denn ein Stuhl und ein Kleid und was sonst noch dergleichen Gattungen sind, hat, wie fern es das ist was es genannt wird, und sein Sein der Technik verdankt, keinen Antrieb zu einer Veränderung innewohnend […].

Auf eine Art also heisst die Natur dergestalt der erste, all dem zum Grunde liegende Stoff, was in sich ein Prinzip von Bewegung und Veränderung trägt.

Aus: Aristoteles, Physik, II.1

Natürliche Dinge unterscheiden sich von Artefakten dadurch, dass sie das Prinzip ihres Werdens in sich tragen: Eine Rose blüht ohne äusseres Zutun, und zwar genau auf die ihr vorgegebene Weise. Auch der Braun­bär wächst von selbst, und zwar so, wie es die Natur für ihn vorgesehen hat. Ein Stuhl oder ein Kleid hingegen entstehen nicht von selbst, es braucht immer ein Wirken des Menschen. Aristoteles gibt dafür ein reizendes Beispiel: Vergräbt man ein Bett in der Erde, so wächst daraus niemals ein Bett, sondern höchstens und mit viel Glück ein Baum. Kurzum: Natur ist, was von selbst geschieht, Kultur ist, was die Menschen machen.

Dieses Naturverständnis konnte sich vielleicht so lange halten, weil es sich mit der christlichen Lehre von der unbefleckten Empfängnis gepaart hatte: Der Mensch greift in die unberührte Natur ein und zerstört mit seiner Technik Mutter Erde.

Diese Vorstellung der Natur gibt denn auch eine bestimmte Richtung in der heutigen Umwelt- und Klima­politik vor: die Rückführung der Natur in ihren ursprünglichen Zustand oder, wenn das nicht mehr möglich ist, der Erhalt des jetzigen Zustands. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn die Natur vom Menschen isoliert wird. Natur schützen heisst deshalb Natur isolieren. Überall entstehen Zonen, die von Menschen nicht berührt werden dürfen, neben Zonen, die von der Natur nicht berührt werden dürfen. Wer die Grenzen unbefugt übertritt, wird bestraft, ob Neophyt, Wolf oder Mensch. Glücklicher­weise gewinnt die Strategie der gezielten Durch­mischung statt der Trennung von Kultur und Natur immer mehr Anhänger.

Das Gegenbild zur unberührten Natur ist das Anthropozän. Anthropozän ist ein seit dem Jahr 2000 von dem Nobel­preis­träger für Chemie Paul Crutzen popularisierter Ausdruck, der unsere Zeit als jene Epoche auszeichnet, in der alle Veränderungen in der Natur, selbst die geologischen Veränderungen, dem Einfluss des Menschen unterliegen. Früher rechnete man bei geologischen Prozessen in Jahr­millionen, während kulturelle Epochen Jahr­hunderte und weniger dauerten. Doch Natur­zeit und Kultur­zeit haben sich angeglichen. Die Natur, die in der Wahrnehmung der Menschen immer dieselbe bleiben sollte, ist unter das Joch der menschlichen Geschichte gefallen. Das Ideal, das Kultur und Natur sowohl räumlich wie zeitlich sauber voneinander trennen wollte, ist dahin.

Freilich ist dieses Ideal eine westliche Erfindung. Die Vorstellung, die sogenannten Natur­völker lebten in Einklang mit der Natur, ist pure Projektion, denn sie leben nicht in Einklang mit der Natur, weil es die Natur nicht gibt, zumindest nicht als eine von der menschlichen Kultur und Geschichte abgetrennte Entität. Menschen­zeit und Natur­zeit waren bei ihnen nie getrennt, ebenso wenig wie Geschichte und Natur. Wenn wir die «Natur­völker» für geschichtslos halten, dann nur deshalb, weil wir die Natur für geschichtslos halten.

Womit wir beim Matsutake wären, einem vor allem in Japan sehr geschätzten und teuer gehandelten Speise­pilz, ähnlich dem Trüffel in Europa. Der Matsutake kann nicht gezüchtet, er muss gesucht werden, was ihn so teuer macht. Gefunden wird er häufig in den Ruinen der zerstörten Umwelt. Nach der Zerstörung Hiroshimas durch die US-amerikanische Atom­bombe soll er das erste Lebe­wesen gewesen sein, das in der verstrahlten Landschaft wieder wachsen konnte. Und weil er die Fähigkeit hat, Bäumen Nährstoffe zuzuführen, konnte sich die Landschaft durch ihn allmählich wieder erholen. Gesammelt wird er im Nord­westen der USA, beispiels­weise in Oregon, von professionellen laotischen und kambodschanischen Pilz­suchern, die durch ihn ein zwar prekäres, aber wegen des hohen Preises gar nicht schlechtes Auskommen finden.

Die Geschichte des Matsutake­pilzes ist keine Recht­fertigung für Umwelt­zerstörung, aber vielleicht eine Anregung, das Verhältnis zur Natur zu überdenken. Wir leben nicht mit der Natur, wir sind Natur, und damit ist auch das, was wir hervorbringen, Natur. Also auch die Technik. Vergessen wir nicht: Auch die Atombombe gehorcht den Natur­gesetzen.

Die Atombombe, die laotischen Wander­arbeiter und der Pilz gehören zum selben Austausch­system. Unberührte Natur gibt es nicht, zumindest nicht, seit Menschen auf der Erde wohnen. Der Mensch brauchte wegen seiner schwächlichen Konstitution immer schon Prothesen. Ohne Feuer­steine, Faust­keile, Hebel oder Jagd­waffen hätte das Menschen­geschlecht keine einzige Generation überlebt. Es gibt ohne Technik keine Menschen, und Technik greift immer «in die Natur» ein.

Die Idee, der Mensch begegne der Natur von aussen, um sie zu beherrschen, ist ebenso eine europäische Erfindung wie die Vorstellung, man könne sie in Ruhe lassen. Beide Ideen gehen davon aus, der Mensch sei der Natur äusserlich. Letzten Endes gehen beide auf das biblische Gebot zurück: «Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht» (1. Mose 1:28). Aber die Fische, die Vögel und alles Getier, das auf Erden kriecht, lassen sich nicht länger beherrschen – auch nicht die Viren.

Die Covid-19-Pandemie hat gezeigt, dass es nie ein Anthropozän gegeben hat. Sie hat nicht nur die Hoffnung endgültig zerschlagen, man könne die Natur beherrschen, sondern auch die Vorstellung, man könne sie isolieren. So wichtig und richtig die Massnahmen gegen die Ausbreitung des Virus waren, so sehr haben sie uns die Aussichts­losigkeit der vollständigen Trennung vor Augen geführt. Die Massnahmen zielen nicht auf eine Ausrottung des Virus, sondern, so zynisch das klingen mag, auf gute Nachbarschaft. Die Viren reisen mit unseren Flug­zeugen und Schiffen, sie besuchen unsere Theater und unsere Kinos, sie gehen mit uns tanzen und in dieselben Restaurants. Wir werden ihnen ihren Platz einräumen müssen.

Doch auch auf die Kohabitation mit unseren Verschwörungs­gläubigen müssen wir uns einrichten, mit Menschen, die die Vorstellung nicht aushalten, wir seien nicht die Herren des Universums. Sie fantasieren sich lieber Bill Gates oder Georges Soros, Rockefeller oder Rothschild als Welt­beherrscher, als sich einzugestehen, dass es keinen Welten­lenker mehr gibt. Im Grunde sind die Aluhüte die letzten Überlebenden der Moderne, wenn wir die Moderne als jene Episode der Menschheits­geschichte verstehen, da man noch an die Trennung von Natur und Kultur glaubte. Und daran, dass sich die Natur durch Technik beherrschen liesse.

Illustration: Alex Solman