«Wir sind vom Tempo der Lockerungen überrascht worden»

Der Zuger Kantonsarzt Rudolf Hauri fordert als Präsident der Schweizer Kantonsärztinnen und Kantonsärzte mehr Stringenz in der Corona-Politik. Und er redet erstmals ausführlich über die Mängel bei der kantonalen Zusammenarbeit.

Ein Interview von Elia Blülle, Olivia Kühni (Text) und Herbert Zimmermann (Bilder), 22.07.2020

Wertvoller Erfahrungsschatz aus Krisen und Pandemien: Kantonsarzt Rudolf Hauri kann sich auch in den Ferien nicht einfach zurückziehen.

Der Zuger Kantons­arzt Rudolf Hauri hat als Rechts­mediziner und Forensiker einiges gesehen. Er arbeitete an der Aufklärung des Attentats auf das Zuger Parlament (2001) mit sowie an der Aufarbeitung der Terror­anschläge von Luxor (1997) und New York (2001). Seit bald zwanzig Jahren ist er Kantons­arzt, seit knapp drei Jahren Präsident der Vereinigung der Kantons­ärztinnen und Kantonsärzte und seit Februar eine der wichtigsten Figuren in der Schweizer Pandemie­bekämpfung.

Als ihn die Republik während der Recherche zur holprigen Zusammenarbeit der Kantone beim Contact-Tracing für ein Interview anfragt, hören wir einige Tage lang nichts. Dann aber kommt die Zusage.

Hauri – graue Haare, zurück­haltendes Lächeln – empfängt uns im Zuger Amt für Gesundheit, einem Gebäude mit dem Charme eines DDR-Baus. Am Tisch sitzt kein Medien­sprecher, und Hauri gibt das Interview ohne Änderungs­wünsche frei – etwas, das Journalistinnen heute selten erleben.

Herr Hauri, Sie sind derzeit eigentlich in den Ferien. Warum treffen Sie uns trotzdem zum Interview?
Ferien heisst für uns im Moment, dass alles etwas ruhiger läuft. Dennoch muss ich mich täglich drei bis vier Stunden mit der Pandemie befassen und bin immer wieder im Büro.

Wie erleben Sie aktuell die Bewältigung der Pandemie?
Wir bewegen uns in einem aufgeladenen Spannungs­feld: In der Corona-Pandemie gibt es eine medizinische und epidemiologische Ebene, aber auch eine politische und eine wirtschaftliche. Bei der letzten Pandemie 2009 war das anders.

Sie hätten damals die Bekämpfung der sogenannten Schweinegrippe-Pandemie «erfolgreich» vorbereitet und umgesetzt, schreiben Sie auf Ihrem Linkedin-Profil. Das zu betonen, war Ihnen offenbar wichtig. Was haben Sie damals gelernt?
Erstens: ruhig zu bleiben. Zweitens: Personen oder Organisationen mit Fach­wissen einzubeziehen. Drittens: Entscheide möglichst stringent zu fällen und durchzuziehen. Das ist wohl am wichtigsten.

Geschieht das im Moment?
Nicht überall. Bei der Masken­pflicht zum Beispiel nicht: Der Bund hat die Pflicht im öffentlichen Verkehr mit der Begründung eingeführt, dass dort Abstand­halten nicht möglich sei. Jetzt müsste man andere Bereiche mit ähnlichen Voraussetzungen gleich behandeln. Das tut er aber nicht. Auch bei der Quarantäne für Reise­rückkehrer ist nur schwer verständlich, wieso derzeit wieder Ausnahmen gewährt werden. Aus Sicht der Gesamt­stringenz ist das merkwürdig.

Und die Kantonsärzte bekommen solche Widersprüche sofort zu spüren?
Das ist tatsächlich so. Wir setzen die Massnahmen um, die von der Politik beschlossen werden. Die Politik muss dabei neben medizinischen auch wirtschaftliche und ethische Aspekte berücksichtigen. Rechts­staatlich ist das gut so. Letztlich bedeutet es aber oft, dass wir als Kantons­ärztinnen Massnahmen umsetzen müssen, bei denen wir weitergehen würden – nicht zuletzt, weil wir in engem Austausch sind mit den Ärzten, Pflegenden und den Contact-Tracern an der Front.

Wo wären Sie strenger?
Bei den Reise­rückkehrern. Wenn man die Ausbreitung des Virus verhindern will, müsste man da aus medizinischer Sicht konsequenter durchgreifen. Im Kanton Zug sind drei Viertel aller Personen in Quarantäne Reise­rückkehrerinnen. Das sind sehr viele.

Und bei den Clubs? Der Kanton Zug hat gerade die Regeln verschärft: Es dürfen nur noch maximal 30 Personen in einem Club sein.
Wir beobachten die Zahlen und fragen uns, wo künftig Infektions­herde auftreten könnten. Wie zuvor erläutert, stecken sich viele Menschen auf Reisen an. Oft junge Menschen, die nach ihrer Rückkehr in den Clubs feiern und auf engem Raum mit anderen in Kontakt kommen. Bald sind die Sommer­ferien vorbei. Wir müssen jetzt handeln. Und zwar rechtzeitig – auch wenn das nicht sofort alle verstehen werden.

Wie schon zuvor fällt auf, dass der Kanton Zug gemeinsam mit Luzern diesen Entscheid früh gefällt hat. Schlafen die anderen Kantone?
Das kann ich nicht beurteilen. Ich bin nicht Politiker und kann deshalb nicht für die Kantone sprechen.

Und was ist Ihre Meinung als Kantons­arzt dazu?
Nein, die Kantone schlafen nicht. Sie haben unterschiedliche Voraus­setzungen und auch ein unterschiedliches Verständnis im Umgang mit der Pandemie. Natürlich sind einige Kantone weiter. Manche warten die Entscheidungen der anderen ab, um sich später anzuschliessen – teilweise aus Ressourcen­gründen. Das ist nachvollziehbar. Ausserdem bewerten Kantone die verschiedenen Risiken nicht alle gleich.

Uneinigkeit herrscht aber nicht nur in politischen Fragen, sondern auch in der Praxis. Unsere Recherchen zeigten, dass sich die Kantone während Wochen stritten, welche Daten sie für das Contact-Tracing erfassen sollten. Mittlerweile hat man sich auf einen Frage­bogen geeinigt – aber auch der ist nur eine Empfehlung. Warum dauert das so lange?
Das Ziel des Contact-Tracing ist es, die Infektions­ketten zu unterbrechen – und nicht die Erhebung von Daten. Im Kanton Zug konnten wir das Contact-Tracing über die ganze Zeit hinweg aufrecht­erhalten, weil wir es sehr schlank gestaltet haben. Wir wollen keine Administration betreiben, sondern an der Front mit den Leuten sprechen – insbesondere mit den Infizierten. So erhalten wir auch viele wichtige Informationen. Beispiels­weise wussten wir deshalb bereits früh, dass wir viele Infektionen von Menschen registrierten, die sich in den USA angesteckt hatten – zu einer Zeit, als alle nur von China sprachen. Wir hörten auch sehr früh, dass Betroffene oft unter Geschmacks- und Geruchs­störungen litten. Wir priorisieren diese Art von Informationen – und nicht die breite Erhebung von Daten, die irgendwer irgendwann einmal auswerten wird. Dann ist es für uns längst zu spät.

Mitglieder der Taskforce kritisieren aber, dass sich mit den aktuellen Informationen nicht beurteilen lasse, ob das Contact-Tracing überhaupt funktioniere – und das sei gefährlich.
Nein. Gefährlich ist, wenn die Kantone das Contact-Tracing nicht im Griff haben – und das würden die Kantone als Erstes merken. Dafür brauchen sie die Taskforce nicht. Überspitzt gesagt: Wir brauchen keine nachträgliche Bestätigung für etwas, das wir bereits wissen.

Trotzdem: Ihr Job ist es, die Massnahmen umzusetzen; der Job des Bundes und seiner wissenschaftlichen Berater ist es, zu überwachen, ob die Massnahmen funktionieren. Haben Sie dafür kein Verständnis?
Doch. Es ist aber letztlich ein politischer Entscheid, wie man Prioritäten setzt. Unsere Aufgabe ist es, möglichst alle potenziell ansteckenden Personen in Quarantäne zu schicken. Wenn der Bund tatsächlich eine zusätzliche Daten­erhebung will, dann muss man die entsprechenden Ressourcen bereit­stellen und spezialisiertes Personal einstellen. Wir lassen aber nicht zu, dass die Daten­erhebung auf Kosten des Contact-Tracing geht. Wenn wir saubere wissenschaftliche Studien erstellen, aber uns deshalb das Tracing entgleitet, nützen uns die besten Daten nichts.

Sehen Sie einen Weg, wie man beiden Ansprüchen gerecht werden könnte?
Man könnte die Daten in gezielten Stich­proben erheben, anstatt sie breit zu erfassen. Auf diese Weise liesse sich ein gutes Frühwarn­system aufbauen und der Aufwand reduzieren. Bei dieser Methode würde es reichen, wenn die Stich­probe von einem einzelnen Kanton mit dichten, urbanen Strukturen übernommen würde.

Funktioniert denn das kantons­übergreifende Contact-Tracing überhaupt? Der «Tages-Anzeiger» berichtete kürzlich über einen Fall, der in Graubünden entdeckt wurde, dann aber in Zürich tagelang liegen blieb.
Solche Einzelfälle gibt es immer. Im Grossen und Ganzen funktioniert die Zusammen­arbeit. Möglicher­weise gibt es gewisse regionale Unterschiede; ich habe etwa durch die Republik-Recherche erfahren, dass es in der Ostschweiz teilweise Probleme gibt.

Wie tauschen Sie sich als Kantonsärzte aus?
Wir stehen untereinander fast ununterbrochen in Kontakt. Das Telefon ist dabei immer noch das wichtigste und effizienteste Arbeits­instrument. Wir diskutieren dort auch, wenn es Probleme gibt wie bei dem Fall zwischen Graubünden und Zürich, den Sie erwähnt haben. Trotzdem: Die Fall­zahlen laufen nicht aus dem Ruder.

Mit einer einheitlichen Software könnte man die Zusammen­arbeit stark erleichtern, vor allem, wenn die Fall­zahlen wieder rasch ansteigen. Auch dazu gab es Gespräche, aber keine Einigung.
Im Kanton Zug hat das Contact-Tracing schon lange und durchgehend funktioniert. Wir hatten darum kein Interesse daran, mitten in einer Krise auf eine Software umzustellen, von der wir nicht wissen, ob sie überhaupt funktioniert. Ich habe immer gesagt: Wenn unsere Partner­kantone, darunter insbesondere Luzern, auf Sormas umstellen – ein deutsches Tool, das 2014 nach dem Ausbruch von Ebola entwickelt wurde – und sich dieses System bewährt, dann werden wir uns anschliessen. Aber im Moment befassen wir uns lieber mit den konkreten Vorbereitungen auf eine zweite Welle, anstatt allzu viel Zeit in eine neue Software zu investieren, die wir noch nicht kennen.

Man weiss nicht erst seit gestern, dass eine einheitliche Software sinnvoll wäre. Es gab nach der Schweine­grippe einen Pandemie­plan: Der kam eindeutig zum Schluss, dass das klassische Contact-Management schnell an seine Grenzen stösst und sich eine elektronische Lösung aufdrängt. Elf Jahre später ist man immer noch am gleichen Ort.
Es gibt eine elektronische Lösung, das Informations- und Einsatz­system IES. Es wurde aber kaum genutzt.

Weil es nicht besonders benutzer­freundlich sei, haben wir gehört.
Das Problem ist eher, dass es damals nach 2009 entwickelt, aber nie mehr gebraucht wurde. Hätte man es gebraucht, hätte man es sicherlich auch weiterentwickelt.

Sie waren im Militär aktiv. Sie wissen, wie oft man dort Übungen durchführt für Ausrüstung, die sonst nie gebraucht wird. Das hätte man auch mit dem Contact-Tracing machen müssen.
Es gab 2014 eine Übung. Sie simulierte einen Strom­ausfall und eine mögliche Pandemie. In diesem Rahmen haben wir auch unseren Pandemie­plan angepasst. Aber ja, es ist tatsächlich so: Das Informations- und Einsatz­system IES wurde nicht eingesetzt.

Hätte man vielleicht einfach öfter nachprüfen und üben müssen, damit man für den Ernstfall gewappnet ist?
Ja, das ist sicher eine politische Erkenntnis aus den letzten Monaten: Man hätte das priorisieren müssen.

Wer hätte das tun müssen?
Das Gesundheitswesen ist grundsätzlich Sache der Kantone. Gemäss Epidemien­gesetz gibt es aber ein Koordinations­organ, in dem unter anderem auch sechs Kantons­ärzte drin sitzen. Vielleicht hätte das stärker in Erscheinung treten müssen.

Das ist uns auch aufgefallen. Man hört nichts von diesem Koordinationsorgan.
Es ist unsichtbar, ja. Das müssen wir im Nachhinein analysieren: Was ist die genaue Aufgabe dieses Organs? Was soll es koordinieren? Möglicher­weise sind es eben genau solche Aufgaben wie das kantons­übergreifende Contact-Tracing, mit dem man es betrauen könnte.

Lassen Sie uns über politische Verantwortung sprechen. Ursprünglich hiess es, die Lockerungen kämen langsam, Schritt für Schritt, damit Sie an der Front lernen und sich anpassen können. Dann ging es plötzlich ganz schnell – zum Erstaunen des ganzen Landes. Hat der Bundes­rat die Kantone im Stich gelassen?
Er hat uns ins kalte Wasser geworfen. Wir sind vom Tempo der Lockerungen überrascht worden – nicht von den Lockerungs­schritten an sich, aber von der Geschwindigkeit. Es gibt Bereiche, wie beispiels­weise Clubs, die sehr rasch wieder offen waren. Epidemiologisch betrachtet sind das grosse Risiko­herde. Wir wären da wohl langsamer vorgegangen.

So geht das mit der Maske: Mit wenigen Handgriffen sitzt sie perfekt.

Wie erklären Sie sich das Tempo?
Das sind politische Abwägungen – und bei den Lockerungen spielten auch wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle. Es gibt Verbände, die ihre Bedürfnisse anmelden. Das ist völlig legitim.

Trotzdem: Kein anderes Land in Europa hat so schnell gelockert wie die Schweiz. Wir haben bei unseren Recherchen oft gehört, dass viele Kantons­ärzte gewarnt hätten, es gehe zu schnell. Haben diese Befürchtungen die Politik erreicht?
Ich bin kein Politiker, darum kann ich diese Frage nicht beantworten. Es ist aber gut möglich, dass die Warnungen die Politik ungenügend erreicht haben.

Die Voraussetzung, dass das Contact-Tracing funktioniert, war Bedingung für die Lockerungen. Das Contact-Tracing liegt in Ihrer Verantwortung. Wieso haben Sie nicht lauter protestiert, als Sie merkten, dass noch nicht alle Kantone bereit sind?
Weil der Kantons­arzt in seiner Funktion nicht öffentlich politisiert. Wir sind in politische Strukturen eingebunden. Darum wissen wir, dass bei Entscheiden auch andere als nur medizinische Faktoren eine Rolle spielen – und fairerweise muss ich sagen: Die Fall­zahlen sind nicht explodiert.

Müsste man im Schweizer Polit­system etwas mehr auf die Fach­leute hören? Nimmt man Experten zu wenig ernst?
Grundsätzlich würde ich das unterschreiben. Es ist vor allem wichtig, auf die Leute an der Front zu hören. Das sind unsere Fühler. Hingegen ist es manchmal schwierig, zu definieren, wer Expertin ist und wer nicht. Je weiter eine Pandemie fortschreitet, desto mehr Experten gibt es. Am Ende werden wir mehr Expertinnen haben als Viren. Bei Corona gilt: Es gibt noch keine Experten. Es gibt nur Leute wie Virologen und Epidemiologinnen, die aus ihrem Fach­gebiet Analogien ziehen können. Man beginnt die Arbeit mit Analogien – und später verwirft man sie wieder. Das ist der übliche Prozess.

Schauen wir auf das, was in den nächsten Monaten auf uns zukommt. Die Schweiz setzt in der Pandemie auf Eigen­verantwortung. Wo funktioniert das und wo nicht?
Mein nicht wissenschaftlich fundierter Eindruck ist, dass Eigen­verantwortung bei Personen gut funktioniert, welche die Gesellschaft als Gemeinschaft verstehen. Sie melden sich selbst­ständig beim Kanton, sie verstehen die Massnahmen und halten Empfehlungen ein – auch dann, wenn sie selber nicht betroffen sind. Bei Personen hingegen, denen die individuelle Freiheit sehr wichtig ist, da funktioniert das Prinzip Eigen­verantwortung in der Regel nicht. Manchmal stellen sie sich sogar aktiv dagegen. Faktoren wie Alter und Schicht­zugehörigkeit spielen dabei keine Rolle.

Auf den Herbst werden wieder steigende Fall­zahlen erwartet. Wie bereiten Sie sich vor?
Im Kanton Zug haben wir ein Warn­system mit verschiedenen Alarm­stufen und Massnahmen entwickelt. Wir beobachten die Fall­zahlen, die Veränderung und können so frühzeitig erkennen, wenn sich die Situation verschärfen sollte. Wir haben das neue System rückwirkend überprüft, und es hätte die bisherigen Verläufe tatsächlich zuverlässig abgebildet. Entscheidend ist, dass wir frühzeitig auf eine mögliche zweite Welle reagieren. Darum gab es kürzlich auch die neuen Einschränkungen für die Clubs in Zug. Unser System hat angezeigt, dass es eine neue Entwicklung gibt und wir jetzt dringend reagieren müssen. Wir stellen unser System den anderen Kantonen zur Verfügung – und sind offen für Verbesserungen.

Zug ist ein kleiner Kanton mit nur 130’000 Einwohnern. Trotzdem hören wir von vielen Seiten, dass er in der Pandemie­bekämpfung sehr gut aufgestellt ist. Wie kommt es, dass ausgerechnet der Kanton Zug eine Vorreiter­rolle einnimmt?
Wir haben aber eine hohe Bevölkerungs­dichte und sehr viele Pendler. Entsprechend ist Epidemiologie wichtig für uns. Zudem: Zug beherbergt sehr viele internationale Firmen mit hohen Erwartungen an den Kanton. Das spüren wir sehr deutlich. Letztlich kann ich aber nicht sagen, wieso wir eine Vorreiter­rolle einnehmen. Vielleicht wegen der langjährigen Erfahrung.

Man hört derzeit, dass immer weniger Personen die Covid-App des Bundes installiert haben. Enttäuscht Sie das?
Wir haben als Vereinigung der Kantons­ärzte immer gesagt: Die Tracing-App kann einen Beitrag leisten, aber sie ist aus unserer Sicht nicht entscheidend. Wir haben uns immer auf das Einhalten der Abstands- und Hygiene­regeln und auf das klassische Contact-Tracing gestützt. Die App kann unterstützen, mehr nicht.

Das bestätigen auch die Erfahrungen aus Asien. Wurde die App in der öffentlichen Debatte überschätzt?
Sie nahm in den Medien grosszügig Raum ein, ja.

An dieser Stelle: Wie ist Ihr kritisches Feedback an uns Journalistinnen? Wie nehmen Sie die mediale Berichterstattung wahr?
Grundsätzlich gut. Informativ und spannend. Manchmal haben die Journalisten das eine oder andere aufgeblasen. Was uns allerdings mehr Sorgen bereitet als die klassischen Medien sind die sozialen Medien. Da wird teilweise Unglaubliches verbreitet.

Haben Sie ein Beispiel?
Seit jüngstem verbreitet sich der Mythos von «Sklaven­masken», die dazu da seien, die Leute zu unterwerfen, zu knechten und mit denen die Demokratie abgeschafft werden soll. Und natürlich die ganzen Hetz­schriften gegen Impfungen, die Bill Gates verunglimpfen, und so weiter.

Inzwischen ist der Fokus wieder weg vom Bund und zurück bei den Kantonen. Daniel Koch vom BAG wurde zum gefeierten Prominenten. Mit Ihnen ist die Öffentlichkeit jetzt deutlich kritischer. Stört Sie das?
Wir sind uns Kritik gewohnt. Das gehört dazu, wenn man ein solches Amt ausübt – und das ist richtig so. Ich persönlich mag keinen Personenkult.

Man hatte im Fall von Herrn Koch den Eindruck, dass er die Rolle durchaus genossen hat.
Er ist in diese Rolle gerutscht. Das will ich bei mir verhindern. Im Moment mache ich vor allem Ferien, damit ich nicht mehr täglich in den Medien erscheinen muss. Das wurde mir in letzter Zeit zu viel.

Mit uns reden Sie jetzt aber trotzdem?
Ja, aber das ist etwas anderes. Ein ruhiges Gespräch. Ich hätte aber in der Zwischen­zeit bestimmt vier oder fünf Mal im Fernsehen auftreten können. Ich will nicht zu einer Art Mini-Mister-Corona werden – und ich will, dass meine Kolleginnen ebenso in der Öffentlichkeit auftreten und ihren Platz kriegen. Das ist keine One-Man-Show.

Eine letzte Frage: Was haben Sie in dieser Pandemie gelernt? Was hat Sie überrascht? Wo haben Sie Ihre Meinung geändert?
(Überlegt.) Das hat tatsächlich auch mit den Medien zu tun. Ich bin eigentlich nicht jemand, der die Öffentlichkeit sucht. Ich arbeite lieber im Hintergrund. Jetzt bin ich durch meine Rolle zu Auftritten gedrängt worden. Dabei habe ich gelernt, dass Kantons­ärztinnen sichtbarer sein und mehr in Erscheinung treten müssen. Sie sind wichtige Fach­personen, die ihre Anliegen öffentlich vertreten sollten. Das sah ich früher anders.