Politischer Pop mit blinden Flecken
Das britische Duo Massive Attack legt mit «Eutopia» ein pophistorisch bemerkenswertes Projekt aus Musik, Video und Aktivismus vor. Doch es verstrickt sich in Selbstgerechtigkeit.
Von Jens Balzer, 21.07.2020
Drei audiovisuelle Stücke, die sich mit den politischen Problemen der Gegenwart befassen: Es geht um die Klimakrise, um die verantwortungslose Flucht grosser Konzerne in Steuerparadiese und darum, wie sich die soziale Ungleichheit mit der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens bekämpfen lässt. Das britische Trip-Hop-Duo Massive Attack hat sich mit renommierten Intellektuellen zusammengetan, um politischen Pop in Zeiten der Pandemie zu kreieren.
Die Musik ist düster, langsam und bassbetont, sie schliesst an die vergangene Echokammer-Ästhetik an, mit der Massive Attack Anfang der Neunzigerjahre bekannt wurde; lediglich im ersten Stück sticht ein pulsierender Alarmton aus dem Mulm heraus. Wesentlich dient die Musik aber auch zur Untermalung der gesprochenen Texte: drei kurze Vorträge zur Lage der Welt von zwei Wissenschaftlern und einer Politikerin.
Den Anfang macht die ehemalige Uno-Klimachefin Christiana Figueres, die massgeblich an der Ausarbeitung des Pariser Klimaschutzabkommens im Jahr 2015 beteiligt war. Die Politikerin aus Costa Rica erläutert, wie die Corona-Krise die zuvor schon frappierenden Fehlentwicklungen der menschlichen Zivilisationen noch verstärkt und beschleunigt hat: Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich weltweit wieder vergrössert; noch sichtbarer als vorher wurde, wie mangelhaft selbst in entwickelten Ländern die Gesundheitssysteme sind – und dass es höchste Zeit für die Menschheit ist, zu anderen, nachhaltigeren Formen des Lebens und Wirtschaftens zu kommen.
Wie alle Wortbeiträge auf «Eutopia» ist auch dieser Vortrag von Figueres ohne jeden sprachlichen oder musikalischen Rhythmus – und gewinnt gerade dadurch eine sonderbare Eindringlichkeit. Der deutsche Künstler Mario Klingemann hat ihn mit Bildern von Totenschädeln illustriert, die auf den Betrachter zustreben und sich wieder von ihm entfernen. Sie flackern in Fehlfarben und scheinen sich zum Schluss verflüssigen zu wollen, eine Metamorphose, die ihnen allerdings nicht gelingt. Das ist nun keine überaus originelle visuelle Idee. Doch die Bilder dienen nur zur Untermalung des Textes, der simultan zum Vortrag in grossen Lettern eingeblendet wird, damit das Publikum die Ausführungen von Figueres noch besser verfolgen kann.
Im zweiten Stück erläutert der Wirtschaftswissenschaftler Gabriel Zucman, wie sich internationale Konzerne in tax havens – Steuerparadiesen – ihrer Verantwortung für das Gemeinwesen entziehen: Über 700 Milliarden Dollar an Steuereinnahmen würden jährlich auf diese Weise verloren gehen; im Jahr vor der Corona-Krise seien über 60 Prozent der Profite von US-amerikanischen Konzernen in solchen tax havens versteuert worden. Gegen diese Praxis müsse endlich etwas getan werden, gerade angesichts der dramatischen ökonomischen Krise, in die der Corona-Lockdown sämtliche Länder auf der Welt gestürzt hat.
Zu den grössten Profiteuren dieses Steuersystems zählt Alphabet, der Mutterkonzern von Google. Wie Gabriel Zucman im Rahmen der «Paradise Papers»-Enthüllungen in einem Beitrag für die «Süddeutsche Zeitung» schrieb, werden die Gewinne aus Googles Suchmaschinen- und Werbetechnologie – 15,5 Milliarden Dollar im Jahr 2015 – vollständig auf den Bermuda-Inseln versteuert: zu einem «Steuersatz» von 0 Prozent.
Google wiederum gehört zu den wichtigsten Geldgebern von Mario Klingemann, der im ersten Stück die Totenschädel zum Flackern brachte und der Zucmans Rede gegen die tax havens nun mit elektronisch manipulierten Bildern von einer alten Landkarte illustriert. Warum es sich dabei, wie man am Ende erkennt, um eine Darstellung des Königreichs Kashmir aus dem Jahr 1779 handelt, ist nicht recht ersichtlich, da Kashmir weder eine Insel ist noch jemals in seiner Geschichte eine nennenswerte Bedeutung als Steuerparadies hatte.
Künstlerisch interessanter und redlicher wäre es gewesen, wenn Klingemann sich in diesem Beitrag mit seiner eigenen Verstrickung in die angeprangerten Ausbeutungsverhältnisse befasst hätte: Gegenwärtig arbeitet er nach eigener Auskunft als artist in residence für die Google Arts and Culture Foundation; zuvor wurde etwa seine Installation «X Degrees of Separation» vom Suchmaschinenkonzern finanziert.
Im dritten Stück spricht der Entwicklungsforscher Guy Standing über die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens: Für ihn ist es das probateste Mittel, um die durch Corona weiter verschärfte soziale Ungleichheit zu mildern, um die Menschen aus den Stresseffekten eines ungerechten Wirtschaftssystems zu befreien und damit letztlich auch ihre Gesundheit zu stärken. Schliesslich sei ein universal basic income auch der beste Weg, um die Wirtschaft nach dem Ende des Lockdowns wieder zu beleben. Zu diesem Text zeigt Mario Klingemann Porträts von Menschen unterschiedlicher Ethnien, die durch Computeranimation ineinandergeblendet werden und sich auseinander hervorbilden: eine unendliche Metamorphose, in der sich zeigen soll, dass alle Menschen in ihrer Verschiedenheit doch gleich sind.
Das ist die überzeugendste visuelle Idee, die Klingemann den Stücken beizusteuern vermag, und auch in musikalischer Hinsicht ist dieser Beitrag der interessanteste. Das schottische Trio Young Fathers unterlegt Standings Vortrag mit einer hymnisch falsettierten Beschwörung des Überlebenswillens in einer lebensfeindlichen Welt: «We, we, we all wanna live.»
Womit wir freilich beim nächsten politischen Selbstwiderspruch in diesem scheinbar so einfach emanzipatorischen Werk wären: Einem breiteren Publikum gerade im deutschsprachigen Raum wurden die Young Fathers vor drei Jahren dadurch bekannt, dass sie Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) unterstützen: eine antizionistische und von vielen – unter anderem vom Deutschen Bundestag – auch als antisemitisch eingeschätzte Bewegung, die sich für einen totalen kulturellen und wirtschaftlichen Boykott Israels engagiert sowie für einen Boykott israelischer Künstlerinnen und Wissenschaftler, die im Ausland auftreten wollen. Deswegen kam es 2018 zu einem Eklat um den geplanten Auftritt des Trios am deutschen Festival Ruhrtriennale, die Young Fathers wurden erst aus- und dann wieder eingeladen und sagten schliesslich selber ab, weil sie sich nun ihrerseits zu Opfern einer politischen Kampagne erklärten.
Kann man Künstler, die eine derartige politische Haltung vertreten, als Botschafter für eine bessere Welt akzeptieren, in der es gerechter und nachhaltiger zugehen soll und in der alle Menschen als gleich gelten (mit Ausnahme der Israelis)? Das ist eine Frage, die man sich beim Betrachten und Hören dieses Stücks stellen muss. Dass Massive Attack damit kein Problem hat, ist freilich nicht überraschend: Das Duo gehört selbst schon seit Jahren zu den überzeugten Unterstützern der BDS-Bewegung und hat erklärt, aus Prinzip keine Konzerte in Israel zu spielen.
Man kommt damit an einen schwierigen Punkt, was die Bewertung des gesamten Projekts betrifft.
«Eutopia» ist ein interessantes, gedankenreiches, originelles Werk, man könnte sagen: Es ist grundstürzend in seiner Weise der Verbindung von Politik und Pop. Es beschränkt sich nicht auf das Skandieren von Parolen, es bleibt nicht in den überkommenen Registern des politischen Pop stecken. Hier werden keine schlichten apokalyptischen Bilder der schlechten Welt und des drohenden Untergangs gemalt – vielmehr wird die Beschreibung der Krise dazu genutzt, Möglichkeiten zur Verbesserung der Welt zu skizzieren. Und diese – das ist ebenso bemerkenswert – münden auch nicht in die popüblichen Empowerment-Hymnen, dazu ist der Ton zu bedächtig, den die drei Vortragenden anstimmen.
Vielleicht kann man sogar sagen, dass es Popkünstlern zum ersten Mal gelungen ist, die suggestive Kraft ihrer Musik dazu zu nutzen, konkrete politische Thesen in einigermassen komplexer Weise an ihr Publikum zu bringen. Wer «Eutopia» hört, fühlt sich – anders als so oft im politischen Pop – nicht überwältigt und nicht gegängelt, sondern vielmehr dazu angeregt, die hier unterbreiteten Thesen weiterzuverfolgen, zu reflektieren oder auch zu kritisieren.
Das ist das eine.
Aber das andere ist: Was ist von politischen Künstlern zu halten, die Solidarität und Gleichheit einfordern – aber diese Gleichheit und diese Solidarität einem Teil der Menschheit pauschal verweigern, nämlich den Staatsbürgerinnen von Israel? Und was ist das für eine politische Kunst, die sich kommentarlos von denselben Konzernen bezahlen lässt, die sie als Ausbeuter der Menschheit und als Profiteure eines ungerechten Wirtschaftssystems anprangern?
Die Antwort ist: Es ist eben doch keine politische Kunst, denn eine solche muss nicht zuletzt ihre eigenen Selbstwidersprüche, ihre Produktionsbedingungen und ihre Verstrickung in das System der kapitalistischen Kulturindustrie reflektieren und in ihren Werken zur Erscheinung bringen. Unter der scheinbar komplexen Verbindung von Pop und Politik, an der Massive Attack sich in «Eutopia» versucht, schwingen die schlichten und unbehaglichen Töne der Selbstgerechtigkeit.
Jens Balzer lebt in Berlin und arbeitet als Autor und Kolumnist für «Die Zeit», den Deutschlandfunk, «Rolling Stone» und Radio Eins. Zu seinen Büchern gehören «Die Tocotronic Chroniken» (2015, mit Martin Hossbach), «Pop. Ein Panorama der Gegenwart» (2016), «Pop und Populismus: Über Verantwortung in der Musik» (2019) sowie «Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er» (2019).