Fritzsches Fall
Ein erfahrener Arzt testet in einer Asylunterkunft eine Risikopatientin positiv auf das Coronavirus. Er will alles richtig machen, um einen Infektionsherd zu verhindern. Doch er läuft auf. Jetzt soll ihm die Praxisbewilligung entzogen werden.
Von Carlos Hanimann (Text) und Flavio Leone (Bilder), 15.07.2020
«Die wollen mich fertigmachen», sagt Markus Fritzsche, nachdem er den weissen Kittel ausgezogen und die Praxis mit schweren Schritten verlassen hat. Wir stehen in der benachbarten Gartenbeiz, Fritzsche schüttelt ungläubig den Kopf. Dann zieht er den Stuhl nach hinten, setzt sich, streicht sein dunkles Hawaiihemd glatt und bestellt das Hohrückensteak mit Pommes frites. Als die Kellnerin eine halbe Stunde später auf den halb vollen Teller schaut, zieht er die Schultern hoch. «Der Stress», sagt er. «Der Stress schlägt mir auf den Appetit.»
Markus Fritzsche, 61, seit fast drei Jahrzehnten Hausarzt in der Zürcher Agglogemeinde Adliswil, hat hektische Wochen hinter sich. Wegen der Pandemie natürlich. Aber vor allem, weil er sich just in dem Moment mit den Behörden überworfen hat, als die Aufregung um die Ausbreitung des Coronavirus am grössten war.
Anfang April übten Fritzsche und andere Ärztinnen im «Tages-Anzeiger» scharfe Kritik an den Zuständen in den Asylunterkünften des Kantons Zürich, wo die Menschen dem Virus schutzlos ausgeliefert seien. Die Kritik von Fritzsche fiel ins Gewicht: Er war ein vom Kanton mandatierter Asylarzt für die Notunterkunft in Adliswil.
Auch rückblickend findet Fritzsche nur ein Wort für die Krisenbewältigung der Behörden: «Dilettantisch.» Die Kritik richtet sich zum Teil gegen die Gesundheitsdirektion, aber vor allem gegen die Sicherheitsdirektion von SP-Regierungsrat Mario Fehr, der für die Asylunterkünfte zuständig ist.
Haben die Behörden die Menschen in den Asylunterkünften während der Pandemie ungenügend geschützt? Diese Frage stellt nicht nur Markus Fritzsche. Sie ist mittlerweile Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen. Ende Mai wurde bei der Zürcher Staatsanwaltschaft eine Strafanzeige eingereicht, die sich gegen die obersten Verantwortlichen des Zürcher Asylwesens richtet: Sicherheitsdirektor Mario Fehr, Sozialamtschefin Andrea Lübberstedt, Asylkoordinatorin Esther Gasser Pfulg sowie verschiedene Kader des Asyldienstleisters ORS Service AG. Sie sollen es zwischen Ende Februar und Anfang April unterlassen haben, die Menschen in den Notunterkünften genügend zu schützen. Die strafrechtlichen Vorwürfe lauten unter anderem auf Gefährdung des Lebens durch Aussetzung, Körperverletzung und Nötigung sowie Verletzung der Covid-19-Verordnung des Bundes.
Mario Fehr bezeichnete die Vorwürfe als «haltlos» und betonte in einer Medienmitteilung, dass die Anzeigeerstatter keinen legalen Aufenthaltsstatus hätten – als würden sie damit keine Grundrechte besitzen.
Für alle Angezeigten gilt die Unschuldsvermutung.
Ich will es genauer wissen: Die Strafanzeige und das Schweigen der Behörden
Ende Mai ging bei der Zürcher Staatsanwaltschaft eine 70-seitige Strafanzeige ein, die sich gegen die Verantwortlichen des Zürcher Asylwesens richtet: Sicherheitsdirektion, Sozialamt und Asylkoordination des Kantons Zürich sowie den privaten Asyldienstleister ORS Service AG. Die Kläger werfen ihnen vor, sie hätten es zwischen Ende Februar und Anfang April unterlassen, die Menschen in den Asylunterkünften zu schützen. In dieser Zeit waren die Infektionszahlen der Corona-Pandemie in der Schweiz auf dem Höhepunkt.
Hauptvorwurf ist der Verstoss gegen Artikel 127 im Strafgesetzbuch: Aussetzung. Der Artikel stellt unter Strafe, wer eine hilflose Person, für die er zu sorgen hat, einer Gefahr für das Leben oder einer schweren Gefahr für die Gesundheit aussetzt oder in so einer Gefahr im Stich lässt.
Zu den Klägern gehören sechs Bewohnerinnen von sogenannten Rückkehrzentren sowie der Berufsverband Demokratische Juristinnen und Juristen Schweiz und die migrationspolitische NGO Solidarité sans frontières. Vertreten werden sie unter anderem vom bekannten Zürcher Rechtsanwalt Marcel Bosonnet.
Mario Fehr verschickte noch vor Bekanntwerden der Strafanzeige eine Medienmitteilung und bezeichnete kurz darauf in einer Medienkonferenz die mediale Berichterstattung über die Zustände in den Asylunterkünften in bester Trump-Manier als «Fake News».
Das wiederum führte zu einer Medienmitteilung der Anzeigeerstatter sowie einer Aufsichtsbeschwerde beim Gesamtregierungsrat gegen Mario Fehr: Er verbreite «tatsachenwidrige Behauptungen» und versuche damit, in «unzulässiger Weise» Einfluss auf ein allfälliges Strafverfahren zu nehmen.
Hintergrund ist eine allfällige Aufhebung der Immunität von Regierungsrat Fehr. Um eine Strafuntersuchung gegen die Magistratsperson führen zu können, muss die Staatsanwaltschaft erst die Aufhebung von Fehrs Immunität beantragen. Dass die Geschäftsleitung des Kantonsrats diesem Anliegen stattgibt, ist sehr unwahrscheinlich. Ein Antrag der Staatsanwaltschaft ist bis zur letzten Sitzung vor den Sommerferien auch nicht eingegangen. Die Geschäftsleitung des kantonalen Parlaments wird frühestens am 19. August über eine Immunitätsaufhebung diskutieren.
Mario Fehr und seine Sicherheitsdirektion beantworten mit Verweis auf Strafanzeige und Aufsichtsbeschwerde überhaupt keine Fragen mehr zum Asylwesen.
Die Anschuldigungen gegen die politischen Verantwortungsträger sind heftig und haben Substanz. Aus der Anzeige wird aber auch klar, dass es nicht nur darum geht, wie der Kanton Zürich während der Pandemie Geflüchtete behandelte. Es geht auch um das Zürcher Asylsystem insgesamt, das einen wesentlich härteren und rigideren Umgang mit abgewiesenen Asylsuchenden zulässt als andere Kantone.
Die Anzeige dreht sich beispielsweise um eine Zürcher Praxis, die immer wieder zu politischen Kontroversen führt und die Grundrechtsexpertinnen schon lange als verfassungswidrig bewerten: dass Nothilfe nur erhält, wer zweimal täglich die Unterschrift in der Asylunterkunft abgibt. Die Zürcher Staatsanwaltschaft soll nun ermitteln, ob diese Anwesenheitspflicht als Nötigung zu qualifizieren ist.
Immer wieder taucht in der Strafanzeige ein Name auf, den die Staatsanwaltschaft als Zeuge befragen könnte: Markus Fritzsche, der Haus- und Asylarzt aus Adliswil, der im «Tages-Anzeiger» die Zustände im Rückkehrzentrum Sihlau kritisierte. Damals ahnte er nicht, was er damit auslösen würde. Dass er nun plötzlich im Zentrum einer juristisch komplexen und hochpolitischen Auseinandersetzung steht, überrascht ihn noch immer. Von den Details der Strafanzeige hat er erst vor kurzem erfahren. «Da ist schon einiges zusammengekommen in letzter Zeit», sagt Fritzsche.
Für Hilfsorganisationen ist der Arzt plötzlich zum Kronzeugen gegen ein unmenschliches Asylregime geworden.
Für die Behörden allerdings ist er ein lästiger Störenfried, ein Nestbeschmutzer, dessen Kritik es nicht wert ist, kommentiert zu werden.
Nach seiner öffentlichen Kritik hat das Sozialamt Fritzsches Mandat aufgelöst und ein aufsichtsrechtliches Verfahren veranlasst. Die Gesundheitsdirektion prüft derzeit die Vorwürfe. Im schlimmsten Fall könnte Fritzsche seine Praxisbewilligung verlieren.
«Das hat mich belastet», sagt Fritzsche. «Nicht weil sie mir den Auftrag als Asylarzt entzogen haben. Aber dass sie mir nach dreissig Jahren im Dienst so an den Karren fahren, finde ich nicht recht.»
Die erste Infektion
Die Praxis von «Dr. med. M. Fritzsche» befindet sich in einem schmucklosen Mehrfamilienblock am Ufer der Sihl in Adliswil. Die Türen zum Treppenhaus und zur Praxis sind geöffnet, die Fenster ebenfalls. Plakate beim Eingang weisen die Besucher darauf hin, Türen und Geländer nicht zu berühren. Gerade hat Markus Fritzsche wieder mehrere Patienten positiv auf das Coronavirus getestet. So wie damals, als er in der zweiten Märzhälfte bei einer Patientin aus der nahe gelegenen Asylunterkunft Covid-19 diagnostizierte.
Markus Fritzsche hat über 1000 regelmässige Patientinnen. Darunter fallen auch die rund 30 abgewiesenen Asylsuchenden, die im sogenannten Rückkehrzentrum Sihlau leben, einer Containersiedlung zwischen Bahngleisen und Fluss, am Ausgang des Städtchens.
Seit fast dreissig Jahren behandelt Fritzsche als mandatierter Asylarzt die Bewohnerinnen der Notunterkunft, die er – mehr aus Unbedarftheit denn aus Bosheit – konsequent als «Asylanten» bezeichnet. Die Zusammenarbeit mit den Behörden beschreibt er als unkompliziert, es gab nie nennenswerte Probleme. Die Betreuer des sogenannten Rückkehrzentrums kennt er beim Vornamen. Fritzsche sagt über seine Zeit als Asylarzt: «Alle waren happy. Es lief, wie so ein Mandat läuft: korrekt.»
Doch dann stieg im März die Zahl der Corona-Ansteckungen in der ganzen Schweiz rasant an. Und damit begannen für Fritzsche die Probleme.
Dem Arzt aus Adliswil war rasch klar, dass man ein besonderes Augenmerk auf die Asylunterkünfte würde richten müssen. Sie bargen das Risiko, zu gefährlichen Infektionsherden zu werden: stark belegte Schlafsäle, schlechte Lüftung, dürftige sanitäre Anlagen, wenig Platz in Küchen und Aufenthaltsräumen. Kurz: Die Hygienevorschriften des Bundes konnten vielerorts nicht eingehalten werden. Hinzu kommt, dass viele der eng aufeinander lebenden Menschen besonders verletzlich und für das Virus anfällig sind. Auch einige der Patientinnen, die Fritzsche behandelte.
Als der Bundesrat Mitte März die ausserordentliche Lage verkündete, war in der Adliswiler Notunterkunft noch bei niemandem Covid-19 diagnostiziert worden. Aber allen war klar: Es ist bloss eine Frage der Zeit.
Am 24. März testete Markus Fritzsche die erste Bewohnerin der Asylunterkunft positiv auf das Coronavirus. Die erste im Kanton überhaupt. Die Frau war bereits zuvor bei Fritzsche in Behandlung gewesen und galt als Risikopatientin. Fritzsche sagt rückblickend: «Heute wissen wir viel mehr über die Krankheit und über ihre Behandlungsmöglichkeiten. Aber damals musste ich davon ausgehen, dass diese Frau gefährdet ist. Ich dachte: Sie stirbt, wenn man nichts unternimmt. Sie musste sofort hospitalisiert werden.»
Was dann geschah, schildert Arzt Fritzsche gestützt auf seine Aktennotizen so:
Kaum sieht er das positive Testresultat, entscheidet er, die Patientin sofort in das Triemlispital in Zürich einzuweisen. Seine Praxis informiert die Notunterkunft, wo die Patientin lebt und sich vermutlich aufhält. Sie sei positiv getestet worden und müsse in ein Spital. Wenig später ruft die Asylbetreuerin zurück: Die Hospitalisierung sei nicht bewilligt worden. Von wem und mit welcher Begründung, ist unklar. Fritzsche ist fassungslos, dass die Frau kein Spital aufsuchen darf. «Dreissig Jahre lang haben wir solche Dinge immer so gemacht», sagt er rückblickend, «telefonisch, unbürokratisch.» Er versteht nicht, warum das in diesem Fall nicht möglich gewesen sein soll.
Die Betreuerin wollte diese Darstellung nicht kommentieren und verwies an die Medienstelle der Asyldienstleisterin ORS. Dort hiess es pauschal, Fritzsches Schilderung sei «nicht korrekt». Die ORS führte in einer allgemeinen Stellungnahme aber aus, dass weder sie noch das Personal «eine Hospitalisierung verweigert oder genehmigt» haben.
Keine Tests für die Notunterkunft
Nach dem ersten positiven Testergebnis fürchtet Fritzsche, dass sich das Virus rasch ausbreiten könnte. Auch in anderen Asylunterkünften werden nun Covid-19-Fälle gemeldet. Die Isolationsmöglichkeiten sind vielerorts ungenügend. Bald diagnostiziert Fritzsche auch beim Baby der positiv getesteten Frau Covid-19. Derweil stattet Sicherheitsdirektor Mario Fehr der Unterkunft in Adliswil einen PR-Besuch ab und posiert für ein Facebook-Foto.
Bei Fritzsche aber läuten die Alarmglocken. Anfang April meldet er sich per E-Mail beim kantonsärztlichen Dienst mit der Bitte, alle Bewohnerinnen der Unterkunft zu testen. Die nötigen dreissig Tests hat er in eigener Initiative auftreiben können. Er ist bereit, sie kostenlos zur Verfügung zu stellen. Doch aus dem Büro der Kantonsärztin kommt eine Absage: Asymptomatische Personen dürften nicht getestet werden.
Am gleichen Tag erklärt die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli in einem Interview, man habe ausreichend Kapazitäten: «Darum testen wir in Zürich ab sofort auch Personen, die keine Symptome haben», sagt sie. «Und es ist wichtig, die besonders vulnerablen Personen zu testen.»
Die Gesundheitsdirektion hält heute fest, dass die Aussage Ricklis damals nur «auf die Spitäler gemünzt» gewesen sei. Dass sie für «vulnerable Leute» galt. Und für Altersheime.
Ganz offensichtlich aber nicht für abgewiesene Asylbewerberinnen in Adliswil.
Entlassung nach Kritik
Fritzsche ist empört darüber, wie sorglos man mit der drohenden Gefahr umgeht. Es ist Anfang April, die täglichen Ansteckungszahlen bewegen sich um die 1000er-Grenze, die Ausbreitung des Virus hat in den vergangenen Tagen ihren Höhepunkt erreicht. Fritzsche fürchtet, das Virus könnte sich in der Notunterkunft schnell ausbreiten. Der Asylarzt testet weitere Bewohner positiv. Er zählt nun vier Corona-Fälle in der Unterkunft Adliswil.
Mario Fehr und seine Chefbeamtin Andrea Lübberstedt haben sich bei öffentlichen Auftritten beglückwünscht für ihr Krisenmanagement: In den Asylunterkünften des Kantons habe man bis Mitte Juni insgesamt nur acht Fälle registriert. Dass die Hälfte davon die Notunterkunft Adliswil betraf, verschwiegen sie. Dass die vier Erkrankten über 10 Prozent der Bewohnerinnen ausmachten, ebenfalls. Und dass die Krankheit bei allen glimpflich verlief, hatte weniger mit dem Krisenmanagement zu tun als mit Glück.
Als Fritzsche Anfang April von einer Journalistin des «Tages-Anzeigers» kontaktiert wird, macht er seinem Ärger Luft. Er sieht sich im Recht und steht auch heute zu seiner Kritik, dass die Behörden dilettantisch vorgegangen seien.
Fritzsche ahnt damals nicht, dass öffentliche Kritik in den Augen der Sicherheitsdirektion vor allem eines bedeutet: Illoyalität. Und das ist unverzeihlich.
Die Reaktion folgt sofort. Fritzsche erhält einen Brief von Sozialamtschefin Lübberstedt. Man hege «grosse Zweifel über die Vertrauensbasis» und man sei «irritiert», dass Fritzsche seine Kritik in den Medien äussere. Darum entziehe man ihm das Mandat als Asylhausarzt. Man werde die Bewohnerinnen der Asylunterkunft künftig an eine Praxis in der Stadt Zürich verweisen – was weniger Fritzsche, sondern vor allem die Bewohner der Unterkunft trifft, die fortan immer nach Zürich reisen müssen, wenn sie zum Arzt wollen.
Damit nicht genug. Das Sozialamt kündigt nicht nur die Zusammenarbeit auf. Es veranlasst zudem ein aufsichtsrechtliches Verfahren gegen Fritzsche. Und macht ihm damit den schlimmsten Vorwurf, den man einem Arzt machen kann: Unprofessionalität.
Bittere Ironie: Fritzsche warf den Behörden vor, sie seien überfordert und würden zu wenig handeln. Jetzt wird ihm im Verfahren gegen ihn genau das auch vorgehalten: Er sei «in der aktuellen Lage überfordert».
Das aufsichtsrechtliche Verfahren führt nun die Gesundheitsdirektion von Natalie Rickli, die dem Arzt formell vorsteht. Es dreht sich um die Frage, ob Fritzsche die beruflichen Sorgfaltspflichten eingehalten habe. Man zweifelt an seiner Vertrauenswürdigkeit. Fritzsche habe, so der Vorwurf, Patientendaten an die Presse weitergegeben und damit die ärztliche Schweigepflicht verletzt. Darüber hinaus habe er «in Erwägung gezogen, sich nicht an die Testkriterien des Bundes zu halten».
Fritzsche sagt, die Vorwürfe seien absurd. Er habe sich schriftlich vom Arztgeheimnis entbinden lassen. Aber er befürchtet dennoch, dass das Verfahren darauf abziele, ihm die Praxisbewilligung zu entziehen. Fritzsche hat sich mittlerweile einen Anwalt genommen. Denn einem fehlbaren Arzt kann im schlimmsten Fall tatsächlich verboten werden, seinen Beruf auszuüben. Allerdings ist das die härteste Disziplinarmassnahme. Mildere Strafen sind eine Verwarnung, ein Verweis oder eine Busse bis zu 20’000 Franken.
Die Gesundheitsdirektion will sich mit Verweis auf das laufende Verfahren nicht zu Fritzsches Fall äussern. Die Sicherheitsdirektion, der das Sozialamt unterstellt ist, verweigert jegliche Auskunft – nicht nur zu Fritzsche, sondern auch zu allgemeinen Fragen, etwa nach der aktuellen Zahl der Covid-Fälle in Asylunterkünften und wie viele Tests gemacht wurden.
Ein schriller Vogel?
Markus Fritzsche sagt, er sei zuversichtlich. Aber das Verfahren der Gesundheitsdirektion hat ihm einen gehörigen Schrecken eingejagt. «Noch vor einem Monat dachte ich: Jetzt gehts um meine Existenz.»
Fritzsche sagt über sich, er sei nie ein Linker gewesen. Er ist kein Idealist, kein weisser Ritter, der die Armen und Kranken retten will. Fritzsche wurde Arzt, weil es der Vater von ihm erwartete. Von der Medizin liess er sich erst während des Studiums begeistern. Er wollte Tropenarzt werden, wie er bei einem Treffen erzählt, um möglichst weit weg zu reisen. Das tat er auch. Seine Dissertation schrieb er über den Schweinebandwurm, der das menschliche Hirn befallen kann, wenn man rohes Schweinefleisch isst. Er forschte dazu in Indonesien, in der östlichsten Provinz Papua auf der Insel Neuguinea. Er war im Amazonas bei den Zuruahã und studierte ihre Suizidalität. Sein wissenschaftliches Steckenpferd sind Forschungen zu Borreliose und Schizophrenie. Dazu hat er mehrfach in wissenschaftlichen Journals publiziert und dafür einige Anerkennung, aber auch Skepsis geerntet.
Fritzsche wäre gern weiter um die Welt gereist. Doch dann starb sein Vater, und dessen Hausarztpraxis in Adliswil war ohne Nachfolger. Fritzsche kehrte zurück in die Schweiz: Sihltal statt Amazonas. Er blieb hängen. Dreissig Jahre lang. Gründete eine Familie. Hier ein Schnupfen, da ein Husten, und hin und wieder fiel jemand tot um.
Doch dann kam Corona. Wenn Fritzsche über jene hektischen Wochen im März redet, als alles kopfstand, dann nimmt er kein Blatt vor den Mund. Manchmal schlägt er dabei etwas gar grosse Bögen, regt sich auf und lässt sich weitschweifig darüber aus, wie die Gesundheitsbehörden während der Pandemie versagten, der Kantonsarzt von einem Tag auf den anderen verschwand und ihm in dürren Zeilen verboten wurde, die Bewohnerinnen der Asylunterkunft zu testen. Dann geraten ihm beim Erzählen Namen, Funktionen und Daten durcheinander.
Die NZZ beschrieb ihn deshalb – und vielleicht aus Verwirrung darüber, dass ein Arzt unter dem Kittel ein buntes Hemd tragen kann – als schrillen Vogel. Seine Schilderungen seien «abenteuerlich», hiess es in einem Bericht. Die Behörden nahmen die Umschreibung dankbar auf, um recherchierenden Journalisten zwischen den Zeilen mitzuteilen, dass hier wohl einer etwas verrückt geworden sei. Tatsächlich aber lassen sich die meisten Ausführungen von Fritzsche nachvollziehen und überprüfen – wenn man denn will. Aber nicht alle.
So ist bis heute unklar, warum seine Patientin am Nachmittag des 24. März 2020 nicht ins Triemlispital fuhr, fahren konnte, fahren durfte. Fritzsche kann zwar angeben, um welche Zeit er wen angerufen hat, das hat er notiert, aber Belege für das am Telefon Gesagte hat er nicht.
«Ich weiss, ich weiss», sagt Fritzsche bei einem Gespräch einmal. «Ich hätte alles schriftlich machen sollen.»
Aber damals habe er nicht geahnt, dass er irgendwann als Zeuge in einer Strafanzeige genannt würde, dass man ihn entlassen und gegen ihn vorgehen würde, dass er die Sorge um seine Patienten würde juristisch verteidigen müssen. «Ich bin kein Arzt für die Anwälte», sagt Fritzsche. «Ich bin ein Arzt für die Menschen.»