«Mandelas Augen – ist es nicht gewaltig, wie ungebrochen dieser Mann nach all dem war?»: Doris Fiala in ihrem Zuhause in Samedan.

Stehauffrau

Eine Zeit lang schien Doris Fiala unausweichlich. So präsent war sie überall. Jetzt hat die FDP-Nationalrätin bereits drei Jahre im Voraus ihren Rücktritt bekannt gegeben. Ein Rückblick.

Ein Porträt von Anja Conzett (Text) und Simon Habegger (Bilder), 13.07.2020

Doris Fiala – Lackpumps mit goldener Schnalle, schwarze Spitzen­bluse, roter Jupe, den passenden Lippen­stift vorhin im fahrenden Taxi ohne Spiegel aufgetragen – schreitet zügig ans Redner­pult. Vier Vorrednerinnen oder anderthalb Stunden hat es gedauert, bis ihr Referat an der Reihe ist. Der Saal der Fédération des Entreprises Romandes in Genf ist bis auf die Veranstalter vollkommen leer. Corona-Zeiten. Die National­rätin spricht stattdessen zu 300 digitalen Empfängern. Sie referiert über Cyber-Security und Risiko­management; in fliessendem Französisch; energisch, mit kantigen Sprüchen und ausladenden Gesten. Jovial, möchte man sagen, obwohl mit dem Wort sonst eher Männer beschrieben werden. Aber wenn es auf eine Frau zutrifft, dann auf Fiala.

Doris Fiala ist als Politikerin eine Prominente. Fast jeder hat schon von ihr gehört, und so gut wie jede, die von ihr gehört hat, hat eine Meinung zu ihr. Anfang Mai hat die 63-Jährige bekannt gegeben, dass sie 2023 nicht mehr für den Nationalrat kandidieren wird.

Mit ihrem Rücktritt wird eine Ära enden. Denn Fiala gehört einer aussterbenden Generation von Politikerinnen an – Haus­frauen, die den Weg an die Öffentlichkeit erst finden, nachdem die Kinder grossgezogen sind. Nur sehr wenige von ihnen haben es zu nationaler Bedeutung gebracht.

Anders Fiala: Erst Kreis­präsidentin, dann Zürcher Gemeinde­rätin, erste Frau an der Spitze der Stadt­zürcher FDP, erste Frau an der Spitze der Kantonal­partei, National­rätin, Präsidentin der Geschäfts­prüfungs­kommission, Präsidentin der parlamentarischen Delegation des Europa­rats und der FDP-Frauen – und das alles begleitet von einer bunten Medienpräsenz.

Kurz: Noch immer gibt es in der Schweiz eine überschaubare Menge Frauen, die so lange so profiliert Politik gemacht haben wie sie.

«Libertär … uff!»

Nach dem Podium in Genf, bei Brötchen und Weisswein, ist die Jovialität weg. In der kleinen Runde ist die National­rätin charmant, verspielt, fast kokett. Fiala ist nicht nur beruflich Kommunikations­profi. Sie passt ihren Redestil an, die Gestik, das Vokabular, den Tonfall – je nachdem, wer ihr gegenüber­steht. Eine Methode, die sie aus ihrer PR-Arbeit in die Politik importiert hat.

Die PR-Agentur, die Fiala zeitgleich mit ihrer Polit­karriere startete, ist spezialisiert auf Krisen­kommunikation. Das trifft sich gut, denn Fiala hat ein Talent dafür, sich auch persönlich in Krisen zu verwickeln. Manche waren grösser, wie der Vorwurf, sie habe bei ihrer Master­arbeit an der ETH Zürich abgeschrieben; andere kleiner, wie damals, als sie in ihrer Funktion als Kantonal­präsidentin auf einem Telefon­beantworter eine Sprach­nachricht mit dem Inhalt hinterliess, man müsse die eigene Regierungs­rätin jetzt endlich zum Rücktritt zwingen – doch statt aufs Band des eigentlichen Adressaten sprach Fiala just aufs Band der betroffenen Regierungs­rätin Dorothée Fierz.

«Oh, das mit der Fierz, das war so schlimm!», ruft Fiala und schlägt sich die Hände vors Gesicht. «Also mir sind echt ein, zwei Dinge passiert … dass es da draussen Leute gibt, die sich fragen, was denn das für ein geschütteltes Huhn ist, kann ich verstehen.»

Was, glaubt sie, sagen ihre Kritiker sonst noch über sie?

«Kommt darauf an. Die aus den eigenen Reihen oder die andern?»

Beide.

Fiala holt tief Luft. «Dass ich zu laut bin, zu medial und dass ich – sagen wir mal – einen zu wenig intellektuellen Approach habe.» Sie lächelt. «Habe ich recht?»

Sie hat recht.

Wer bei Parlamentarierinnen aller Spektren nach ihr fragt, merkt schnell: Fiala hat sich in ihrer Karriere eine stolze Zahl an Gegnern zugelegt.

Den Zorn der Rechten hat sie auf sich gezogen, weil sie bei der Minarett­initiative praktisch im Alleingang den bürgerlichen Widerstand gegen diese «gefährliche, menschen­verachtende und hass­schürende Symbol­politik» anführte.

Die Linken nehmen es ihr übel, dass sie die bürgerliche Wende beim schon unterschrifts­fertigen Uno-Migrations­pakt einläutete – «einem romantisch idealisierten Papier, das nur ein Geschenk für die konservativsten Kreise der SVP gewesen wäre», sagt sie. Und meint damit: Es wäre der perfekte Kampagnen­stoff gewesen.

Und für den alten zwinglianischen Zürcher Freisinn war Fiala, die sich seit Beginn ihrer Karriere für die Rechte von Lesben und Schwulen einsetzt, zu laut, zu bunt – und obendrauf auch noch katholisch.

Fiala, die sich gerne als Bünzli bezeichnet, marschiert seit der ersten Pride jedes Jahr mit. «Liberal heisst für mich auch gesellschafts­liberal. Ganz egal, wie andere Partei­mitglieder das sehen.»

Doris Fiala schafft es, in einer Zeitspanne von gut neun Minuten sechsmal die Gefühlslage zu wechseln – vergnügt, empört, traurig, hässig, nachdenklich, wieder vergnügt –, ohne dass es aufgesetzt wirkt. Noch verblüffender: Es scheint sie nicht einmal zu ermüden. Sie erzählt gern und viel. Sehr viel. Hier noch eine Anekdote, da noch ein Thema.

Vielleicht ist das der Grund, warum sie im Gegensatz zu vielen ihrer Partei­kolleginnen im Gespräch erfrischend selten die liberalen Plattitüden von Selbst­bestimmung, Eigen­verantwortung, mehr Freiheit, weniger Staat und dem sich selbst regulierenden Markt herunterbetet.

Aber auch wenn sie beim Stichwort Trickle-down die Augen rollt und ein Gähnen simuliert, sich enerviert, wenn man den Klima­wandel zur Energie­wende schönredet – Fiala ist eine stramme Freisinnige. Fast immer ist sie auf Linie, nur selten stimmt sie gegen die Partei.

Was entgegnet sie der Kritik, die FDP stehe für «Ich und meine Freunde sollen in Ruhe ihre Geschäfte machen können»?

«Ich kann nachvollziehen, dass der alte Freisinn manchmal diesen Eindruck erweckt hat. Aber Petra Gössi hat den zweiten Teil unseres Leitspruchs ‹Freiheit und Verantwortung› endlich mit Inhalten gefüllt. Unter ihr als Präsidentin wird die FDP nie ein Preisschild an ein Menschen­leben hängen.»

Soll das nur hierzulande gelten oder auch im Ausland, wie es die Konzern­verantwortungs­initiative fordert, bei der vor kurzem mithilfe des Freisinns ein tragbarer Kompromiss gekippt wurde?

«Die Initiative selbst ging mir zu weit, aber ja: Der viel schärfere national­rätliche Gegen­vorschlag hätte durchkommen müssen – nicht die gebleichte Version, die wir jetzt haben. Als wäre ein guter Kompromiss etwas gschämigs!»

Warum war sie für die schärfere Variante?

«Weil es das einzig Richtige ist, dass Unter­nehmen mit Sitz in der Schweiz auch anderswo Verantwortung übernehmen. Ich bin die Erste, die dafür ist, dass Konzerne im Ausland Geld verdienen – aber doch nicht mit Dreck!»

Von allen politischen Mandaten habe sie der Europarat am meisten geprägt, sagt Fiala. Sie hat in ihrem Amt als Mitglied der Schweizer Delegation für die Parlamentarische Versammlung des Europarates Wahl­beobachtungen gemacht, Krisen­länder und Flüchtlings­lager besucht.

«Das Elend, das Leid – das hat mir den Liberalismus schon etwas herunter­gekauft.» Was sie dort kennen­gelernt habe, sei der Wert der Rechts­staatlichkeit. «Die Rechts­staatlichkeit muss über allem stehen.»

Auch über der individuellen Freiheit?

«Ohne Rechtsstaat gibt es keine individuelle Freiheit.»

Fiala betont, sie sei eine Liberale und keine Libertäre – und spricht «libertär» dabei so aus, als handle es sich um ein schmutziges Wort. «Wenn eines meiner Kinder links geworden wäre, damit hätte ich leben können – dann ist es halt ein Idealist. Aber wenn eines meiner Kinder libertär geworden wäre …uff.»

Warum?

«Sagen wir es so: Ein Politiker ohne Verstand ist gefährlich. Aber ein Politiker ohne Herz – der muss weg.»

In einem sind sich Fialas Kritiker über die Partei­grenzen hinweg einig: Sie sei aufrichtig herzlich, das müsse man ihr zugute­halten. Und nicht zuletzt dadurch eine hervorragende Netzwerkerin.

Keine Feministin

Auf dem Rückweg von Genf nach Zürich sitzt Fiala im Speisewagen und verbreitet gute Laune. Wann immer jemand das Gespräch mit ihr sucht – oder sie auch nur grüssen will –, zieht sie den Stuhl hervor und bittet abzusitzen. Sie unterhält sich mit allen: mit dem Kondukteur über die Masken­pflicht im ÖV in Frankreich; mit dem Steward über seine Heimat Kosovo und seine beiden Töchter; mit einem aus Marokko stammenden Genfer über die Vor- und Nachteile von Grenz­gängern. Sie redet ein bisschen mehr, als dass sie zuhört, doch das scheint niemanden zu stören, im Gegenteil: Alle scheinen aufrichtig angetan – und ein kleines bisschen überfordert.

Fiala hat sich den Weg in die Politik unter anderem mit den Waffen einer Hausfrau erkämpft: als perfekte Gastgeberin. Nicht nur, indem sie elaborierte Abend­essen gab, zu denen sie jeweils die richtigen Leute einlud – sie hat die Gastgeber­mentalität auch in die politische Arbeit übertragen; es schon früh verstanden, Politik als Event zu denken; als etwas Erlebbares, Sinnliches.

«So lange so hart zu arbeiten, damit ich irgendwann ein paar Blüemli richten darf? Nein, danke.»
«Ein Politiker ohne Verstand ist gefährlich. Aber ein Politiker ohne Herz – der muss weg.»

Als 2004 die zu laute, zu schrille, zu bunte (und obendrein katholische) Fiala nach einer gut geführten Kampagne wider Erwarten Präsidentin der Kantonal­partei wird, stellt sie als eine ihrer ersten Amts­handlungen etwas auf die Beine, was wie ein politischer Witz klingt: eine Demo mit tausend Freisinnigen in Hemd und Krawatte.

Die Demo ist der Auftakt zur ersten Volks­initiative der FDP seit 1985. Zwar scheitert die Aufhebung des Verbands­beschwerde­rechts auf Bundes­ebene kläglich an der Urne. Dennoch bringt sie Wind in die FDP – und befördert Fialas Bekanntheit.

Ihre Bilanz als erste Frau an der Spitze der grössten Kantonal­partei ist trotzdem durchzogen. Im Jahr 2007 ist die marode Partei­kasse zwar saniert, aber die Wahl­ergebnisse sind eine Katastrophe. Fiala sagt man ein Gespür für Trends nach – aber nicht immer für Allianzen: Im zweiten Ständerats­wahlgang unterstützt die FDP unter ihr den Kandidaten der SVP, der wird jedoch kurzfristig ausgetauscht: Der neue Kandidat Ueli Maurer ist für viele FDPler unwählbar. Die grün­liberale Kandidatin gewinnt am Ende dank den Stimmen des Freisinns.

Nach dieser Ohrfeige gibt Fiala das Präsidium ab – weiter ist sie trotzdem. Ihr Sitz im National­rat ist ihr sicher.

Hat sie einen ausgeprägten Machtinstinkt?

«Gestaltungs­willen ja, Macht­hunger nein.» Sie habe einfach immer das gemacht, was ihr Freude machte. Ein Amt habe so das andere ergeben. «Aber es ist überhaupt nicht so, dass ich à tout prix eine politische Karriere wollte.» Ohne ihren Mann wäre sie gar nie erst auf die Idee gekommen, in die Politik zu gehen.

Bevor sie Hausfrau und Mutter und später dann Politikerin, selbstständige PR-Beraterin und dreifache Verwaltungs­rätin wurde, wollte Fiala Karriere in der Hotellerie machen.

Sie wächst als Doris Goldiger in Zürich-Hottingen auf. Die Eltern haben eine Werkstatt für Prothesen: der Vater Orthopädist, guter Mittel­stand, unpolitisch.

Nach der Handelsmittelschule besucht Fiala die Hotel­fachschule Lausanne. Ihr Traum: Direktorin eines Fünfsterne­hotels. Die Ernüchterung kommt im Praktikum im «Baur au Lac» – bei dem sie zusammen mit einer Kollegin als erste Frauen überhaupt zugelassen wurde. Fiala realisiert: Als Frau, die nicht aus einer Hotelier­familie stammt, hat sie keine Chance, es an die Spitze zu schaffen. «Was wollte ich da? Einen Mann kennenlernen? Hatte ich schon. Und so lange so hart zu arbeiten, damit ich irgendwann ein paar Blüemli richten darf? Nein, danke.»

Findet sie es unfair, dass ihr der Traum­beruf wegen ihres Geschlechts verwehrt blieb?

«Es war nicht einfach wegen des Geschlechts – ich wollte halt Familie. Auch das Pensum, das ich heute politisch und beruflich leiste, wäre unmöglich machbar mit kleinen Kindern.»

Aber Männer in dieser Position haben ja auch Familie mit kleinen Kindern.

«Ja, aber die müssen auch Opfer bringen. Und bislang sind es immer noch wir Frauen, die die Kinder kriegen.»

Ausserdem sitze sie jetzt ja im Verwaltungs­rat der Hotel­fachschule, ihr Traum sei also doch noch irgendwie wahr geworden. «Es gibt immer einen Weg.»

Nein, eine Feministin ist aus Doris Fiala nie geworden – obwohl sie oft eine Pionierin war; die erste Frau auf einer Position; die einzige Frau im Raum. Vielleicht auch deswegen.

2017 übernimmt Fiala, für die Feminismus immer fast ein Schimpf­wort war, die FDP-Frauen – ausgerechnet. «Es hatten einige nicht gerade Freude daran», sagt sie. «Aber ich hätte mich gar nicht erst angeboten, wenn jemand anderes dazu bereit gewesen wäre.»

Das Präsidium, das sie dieses Frühjahr abgegeben hat, habe ihr die Augen dann schon etwas geöffnet. Fiala ist unterdessen für eine ausgebaute Eltern­zeit anstelle der 14 Wochen Mutterschafts­urlaub. Sie forderte nachdrücklich eine Frau als Vertreterin der FDP im Bundesrat, was mit Karin Keller-Sutter im zweiten Anlauf glückte. Im Dialog mit Männern ertappt sie sich manchmal dabei, wie sie am liebsten rufen würde: «He Kollege, gspüred ier eu no?»

Aber dann empört sie sich auch schon wieder über die 55’000 Akademikerinnen, die nicht auf ihren Berufen arbeiten. Über Hoffnungs­trägerinnen in ihrer Partei, die sich von alten FDP-Doyens haben einschüchtern lassen. «Ladys, das kann es doch auch nicht sein! Wenn ich jedes Mal den Schwanz eingezogen hätte, nur weil einer mich zu verhindern versucht hat, dann wäre ich jetzt nirgends – auch beruflich nicht.»

Fialas Politkarriere beginnt im Gemeinde­rat, da ist sie 43. Eine ältere Partei­kollegin trat damals für sie zurück, damit sie nachrutschen konnte: Die Kollegin tat es mit den Worten: «Du bist zu alt, sonst wird nichts mehr aus dir in der Politik.»

Glaubt sie, ein 43-jähriger Mann hätte sich Ähnliches anhören müssen?

«Das ist jetzt vielleicht tatsächlich etwas, was eher Frauen zu hören bekommen. Aber eben: Ich wurde dann ja trotzdem Gemeinderätin.»

Weil eine andere Frau ihre politische Karriere für sie geopfert hat?

«Ja, das stimmt.»

Die Frau, die für Fiala im Gemeinde­rat Platz machte, war Barbara Bihrer, ihrerzeit Präsidentin der Zürcher FDP-Frauen, unterdessen verstorben. Aus Dank ihr gegenüber, sagt Fiala, habe sie später das Präsidium der Schweizer FDP-Frauen übernommen, als niemand anders wollte. Sie habe sich wirklich Mühe gegeben, es gut zu machen, sagt Fiala – «für Barbara».

No Iron Lady

In ihrem Zuhause in Samedan empfängt Doris Fiala in ungewohnt schlichter Kleidung. Turn­schuhe, blauer Rock, blaue Strumpf­hose, blaues Shirt mit Rundhals­ausschnitt, der je nach Bewegung den Beginn einer Narbe von einer Operation am offenen Herzen freigibt.

Die Wohnung im Engadin war ein Traum von Doris Fialas Mann, der seinen Erstwohnsitz von Zürich hierhin verlegte, damit er bauen konnte. Fiala hätte noch in Zürich bleiben sollen, doch es kommt anders: Im vergangenen Dezember stirbt Jan Fiala an Krebs. Jetzt wohnt die Zürcherin allein in Graubünden, hat in Zürich nur noch ein Studio.

Fiala ist sechzehn, als sie ihren Mann in der Badi kennenlernt. Er ist acht Jahre älter, der Nachkomme von jüdisch-tschechischen Flüchtlingen und dissertiert an der ETH in Chemie. «Ich war der blau­äugige Kinds­kopf und er dieser welt­erfahrene, ernste Mann, der sich für mich interessierte.»

46 Jahre lang sind die beiden ein Paar, leben im Ausland und in der Schweiz – darunter viele Jahre in Genf –, haben drei Kinder und dann Enkel. In dieser Zeit gründet Jan Fiala eine der ersten Batterie­recycling­firmen der Schweiz, hilft in Tschernobyl bei den Aufräum­arbeiten und begeistert seine Frau für die Politik.

Im Andenken an die Familie ihres Mannes, die fast vollzählig im Holocaust ums Leben kam, widmet sich Fiala im Europarat der Migrations­politik, leitet die entsprechende Kommission und macht dort ihre, wie sie sagt, wichtigsten politischen Erfahrungen: Wenn sie einmal nicht mit der FDP stimmt, dann ist es bei Themen der Entwicklungs­hilfe. Und vielleicht noch beim Tierschutz.

Auch ihr letzter grosser politischer Kampf ist ihrem Mann gewidmet. Fiala hat eine über­parteiliche Interessen­gemeinschaft gegründet, die zu einer grösseren Verbreitung und verbesserten Durchsetzung der Patienten­verfügung in der Schweiz führen soll. Deshalb auch die frühe Rücktritts­ankündigung: Es soll niemand sagen können, dass sie diesen Kampf nur führe, um wiedergewählt zu werden.

«Nicht mehr anzutreten, das ist wie ein Befreiungs­schlag», sagt Fiala nach dreizehn Jahren Parlament.

Fiala hat viele Kämpfe gefochten. Die brutalsten, wie sie sagt, intern.

Einen der ersten grossen Kämpfe gewinnt sie 2004, als es in der FDP Kanton Zürich um das Präsidium geht. Ihr Gegner ist Filippo Leutenegger, den sie zwei Jahre zuvor sehr zum Unfrieden der Partei in die FDP geholt und als Spitzen­kandidat für den National­rat vorgeschlagen hat. Leutenegger trug damals den Spitz­namen «U-Boot», weil er als Schläfer Christoph Blochers galt. Fiala, selbst auch nicht gerade eine Vertreterin des linken FDP-Flügels, wehrte sich öffentlich gegen diese Nähe zur SVP – nicht zuletzt wegen der Familien­geschichte ihres Mannes.

Der Wahlkampf ist hässlich, beide Seiten sind unzimperlich. Leutenegger, da ist sich Fiala sicher, hat sie ihren verächtlichen Spitz­namen zu verdanken: Doris Trallala. «Das war nieder­trächtig gut. Boah!»

Nimmt sie es ihm übel?

«Nein, warum auch? Die Trallala hat am Ende gewonnen, nicht der Filippo.» Die braunen Augen blitzen, dann lacht sie schallend.

Im Verlauf ihrer Karriere aber hat Fiala auch verloren. 2017 möchte sie Stadt­präsidentin werden, wird von ihrer Partei aber nicht aufgestellt. Vorgezogen wird ihr mit Michael Baumer ein Mann – eine doppelte Niederlage für Fiala, die unterdessen Präsidentin der FDP-Frauen ist. Leutenegger dagegen ist bereits 2013 von seiner Partei aufgestellt und schliesslich in den Stadtrat gewählt worden.

Ist es nicht typisch, dass man Frauen die ehren­amtlichen Posten überlässt, während Männer die wirklichen Macht­positionen erhalten?

«Das kann man sicher so sehen.»

Und wie sieht sie es?

Fiala verzieht den Mund zu einem freudlosen Lächeln.

«Nur nicht bitter werden. Sonst hat man verloren.»

Dann hüpft sie vom Stuhl und fragt schon fast wieder in gewohnter Vergnügtheit: «Möchten Sie ein Glas Rotwein?»

Im Gang der Wohnung in Samedan hängen zwei riesige Bilder neben­einander: der Dalai Lama und Nelson Mandela. In der Ecke, fast versteckt, aber im gleichen Stil: Mao Zedong. Die Porträts stammen von Fialas Lieblings­künstler Djawid Borower. Die Bilder sind aus einer Serie, die von Bank­noten inspiriert ist, und angefangen hat die kleine Sammlung damit, dass Fialas Mann sich Mao gekauft hatte. Fiala verbot ihm, «diesen grässlichen Massen­mörder» aufzuhängen, und schrieb dem Künstler einen Brief, dass sie das Bild nur aufhängen könne, wenn sie jemanden wie den Dalai Lama daneben hängen hätte. Im Sinne von Yin und Yang. Balance. Der Künstler fertigte daraufhin eine weitere Serie mit dem Titel «Amour» an. Damit der Massen­mörder auch garantiert ausbalanciert wird, schaffte sich Fiala zur Sicherheit auch gleich noch das Bild mit Nelson Mandelas Konterfei an.

«Mandelas Augen», sagt sie. «Ist es nicht gewaltig, wie ungebrochen dieser Mann nach all dem war?»

Doris Fialas Leben verlief nicht ganz ohne Brüche. Ein paar der heftigsten, sagt sie, wurden ihr in den Medien zugefügt.

2012 wird Fiala Präsidentin der Aids-Hilfe Schweiz. Sie wird geholt, weil der Verein in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Fiala nimmt die Aufgabe an, verhandelt aufgrund «des erhöhten Arbeits­aufwands» 30’000 Franken mehr Honorar, als bislang üblich war – 50’000 Franken jährlich. Fiala wird als «Abzockerin» beschimpft. Das Honorar wird in der Folge auf 30’000 Franken angepasst. 2014 tritt sie zurück, die Aids-Hilfe sei saniert gewesen.

Fiala sagt, sie habe das Sturm­potenzial der Honorar­erhöhung von Anfang an erkannt und deshalb die Organisation darum gebeten, die Erhöhung proaktiv in einer Medien­mitteilung zu deklarieren, nachdem die General­versammlung sie bewilligt, der Vorstand aber abgelehnt hatte. Die Aids-Hilfe Schweiz bestätigt die Schilderungen Fialas. «Ihr Engagement war riesig – nicht zuletzt dank ihr stehen wir heute so gut da», sagt Daniel Seiler, der ehemalige Geschäfts­führer der Aids-Hilfe Schweiz. Am Ende habe sie übrigens auch auf den Grossteil des reduzierten Honorars verzichtet.

Noch bevor der erste Skandal verebbt ist, folgt der nächste.

Im Jahr 2012 hat Fiala auch einen MAS-Studien­gang in «Security Policy and Crisis Management» an der ETH absolviert – eine Ausbildung für hohe Militärs, wieder ist sie die einzige Frau. Sie schliesst ab mit Note Fünf. Es ist ihre erste akademische Ausbildung, der Abschluss ist ihr wichtig – ihr, die weiss, dass ihre Gegner sie für nicht intellektuell genug halten.

Ende April 2013, kurz nachdem Fiala zum ersten Mal als Stadtrats­kandidatin gehandelt wird, schreibt die NZZ, dass Doris Fiala Teile ihrer Arbeit abgeschrieben habe. Fiala entschuldigt sich umgehend, gesteht ein, beim Zitieren schludrig gearbeitet zu haben, aber weist bewusste Betrugs­absichten von sich. Die ETH kommt nach zweieinhalb Monaten Untersuchung zum gleichen Schluss: Fehler, aber kein Betrug. Die Hoch­schule entzieht Fiala zwar den Titel, räumt aber selbst Fehler ein – man habe Fiala nicht genügend geschult.

«Das nützt mir wenig», sagt Fiala. «Der Dreck bleibt haften.»

Fiala übersteht jede Krise. Sie meistert sie mit Schuld­eingeständnissen, stellt sich den Medien und der Häme. Ihre Karriere scheint kaum Schaden zu nehmen.

«Da draussen gibt es Leute, die sich fragen: Was muss dieser dummen Kuh denn noch alles passieren, damit sie endlich mal so richtig am Boden liegt? I got news for you: Ich bin schon am Boden gelegen, ich bin einfach wieder aufgestanden.»

Nein, Doris Fiala ist keine eiserne Dame, die Demütigungen sind nicht einfach an ihr abgeprallt. Sie geht offen damit um, wie sehr sie das alles verletzt hat. Und wirkt dadurch umso resilienter.

Das Schlimmste sei die Belastung für die Familie gewesen, sagt sie. Ihre Kinder hätten sie darum gebeten, sich aus der Politik zurück­zuziehen. Sie bleibt. Aufgeben gibts nicht.

«Sie können das jetzt feige finden … aber ich lese gewisse Blogs nicht mehr, die es auf mich abgesehen haben, keine Kommentare unter den Artikeln und die ‹Weltwoche› sowieso nicht.»

Früher hat ihr Mann die Artikel jeweils vorher gesichtet und zum Lesen freigegeben.

Wann vermisst sie ihn am meisten?

«Immer.»

Spritzensammlerin

Als ihr Mann schwer krank wird, beschliessen die beiden weiterzumachen, so gut es geht – in Beruf und Politik, fast im gleichen Tempo wie bisher. Als sie aus einer Session nach Zürich gerufen wird, weil es ihrem Mann schlecht geht, nimmt sie im Zug noch den Anruf eines Journalisten entgegen und beantwortet seine Fragen. Sie weiss, dass es ein Leben danach geben muss – sie schmiedet Pläne, beginnt wieder als Reise­führerin zu arbeiten, so wie früher, bevor die Kinder kamen.

Doris Fialas grösste Stärke ist ihr Optimismus. Es kommt schon gut, irgendwie, irgendwann – weiter­machen und nur keine Angst vor dem Scheitern.

Optimismus ist auch eine der grossen Stärken der bürgerlichen Politik. Und es ist eine ihrer grössten Schwächen: der Glaube, es werde sich schon von allein richten.

Das Resultat davon ist Inkonsequenz. Wie bei der Klima­krise oder der Frauen­frage – zwar anerkennt die FDP in beiden Fällen unterdessen das Problem, bis auf minimale Zugeständnisse liefert sie aber nur das.

Fiala ist dabei keine Ausnahme. Ihre Inkonsequenz ist manchmal aber auch eher pessimistisch begründet. Zum Beispiel beim «Bundes­gesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus». Hier ist Fiala, die sonst den Rechts­staat über alles stellt, plötzlich für Präventiv­haft, die rechts­staatlich mehr als fragwürdig ist.

Fiala gibt zu, dass sie mit sich ringen musste, dem Gesetz zuzustimmen. Aber ihre Ausbildung an der ETH habe sie in Terrorismus­fragen dann doch zu sehr geprägt – auch ohne Papierli.

Wann ist es gerechtfertigt, dass der Staat die individuelle Freiheit eines Menschen beschneidet?

«Wenn jemand ein erhärteter Gefährder ist.»

Und bei Sozialhilfebezügern?

«Das sehe ich weitaus kritischer. Wie bei den ‹Steuer­optimierern› ist das keine Frage der nationalen Sicherheit. Aber Sie müssen gar nicht erst nachschauen. Ich habe bei der Abstimmung im National­rat mit der Partei gestimmt.»

Die FDP ist nicht gerade für ihre Partei­disziplin bekannt. Vielleicht war Fiala aber einfach zu lange in Präsidial­ämtern, um es heute anders zu handhaben.

«Ich wurde als Fiala, FDP, gewählt, nicht als Fiala, freie Meinungs­äusserung», sagt sie.

Und nach einer Pause: «Choose your battles wisely.»

Ihre Kämpfe in der Politik will Fiala nun reduzieren: das Politische schritt­weise runter­fahren, dafür beruflich herauf­fahren. Im Moment halten sich die Pensen die Waage – «70 Prozent Politik, 70 Beruf». Nebst ihrer PR-Beratungs­firma und dem Verwaltungs­rats­sitz der Hotel­fachschule Lausanne ist Fiala auch Verwaltungs­rätin bei der Procivis, HomeInstead und Chair of the Advisory Board bei der RepRisk AG. Dazu kommen sieben ehren­amtliche Posten, und sie ist Präsidentin der Swiss Cyber Security Days. Zudem macht sie Reise­leitungen, aber das sei nur ein Hobby, sagt sie.

«I got news for you: Ich bin schon am Boden gelegen, ich bin einfach wieder aufgestanden.»

Beim Spaziergang am Inn denkt Doris Fiala laut darüber nach, worauf sie stolz ist nach all den Jahren Politik.

Im Europarat auf den Kampf gegen die Inhaftierung von Flüchtlings­kindern und die Wahl­beobachtungen. In der Schweiz vielleicht auf die gesetzlichen Bestimmungen im Bereich Stalking, für die sie Jahre gekämpft hat. Oder darauf, dass sie dem Bundesrat seit 2008 mit insgesamt acht Fragen und Vorstössen damit auf den Senkel geht, dass die Schweiz endlich ein gescheites Risiko­management brauche, da die grössten Heraus­forderungen an die nationale Sicherheit global seien – «Klima­krise, Terrorismus, Cyber­crime, Pandemien».

Aber Triumphe würde sie das nicht nennen. Sie blickt hoch an den Berg, wo die Asche ihres Mannes die letzte Ruhe hat. «Vielleicht sage ich jetzt etwas ganz Dummes, aber ich möchte es doch teilen.»

Vor ein paar Monaten sei sie auf der Toilette im Bundes­haus einer Putzfrau begegnet, die sie noch nie gesehen habe. «Ich wollte ihr eine Freude machen, also habe ich mich bei ihr dafür bedankt, dass sie hier für uns putzt.» Plötzlich sei die Frau in Tränen ausgebrochen. Es stellt sich heraus, dass die beiden Frauen ein ähnliches Schicksal tragen, eine ähnliche Not im Leben haben. Die National­rätin zögert nicht lange und nimmt die Fremde in den Arm, tröstet sie, spricht ihr Mut zu. Und sich selbst.

Sie lächelt. «Ich habe die Frau weder davor noch danach gesehen. Aber manchmal frage ich mich, ob dieser eine Moment, diese eine Geste wertvoller war als alles, was ich in der Politik gemacht habe.»

Und für einen Augenblick wirkt sie doch zerbrechlich, dieses Schlacht­ross der FDP, diese liberale Lokomotive, die schon so viel weggesteckt hat.

Frau Fiala, warum tun Sie sich das an?

Doris Fiala-Goldiger ist 36 Jahre alt, Hausfrau und Mutter, als die Firma ihres Mannes verkauft wird und die Familie aus dem geliebten Genf wieder nach Zürich ziehen muss. Die Frau erkennt ihre alte Stadt nicht wieder: Die Heroin­krise hat Zürich fest im Griff. Sie manövriert die Kinder bei einem Ausflug über Spritzen und Unrat; vorbei an Sucht und Elend.

Am Abend entsetzt sie sich bei ihrem Mann – was ist nur passiert? Der Mann sagt: «Wenn es dich stört, dann unternimm etwas dagegen.» – «Soll ich etwa Spritzen zusammen­lesen?», erwidert die Frau. «Nein», sagt der Mann, «aber vielleicht ist ja Politik etwas für dich.» Ein paar Wochen später lädt die Familie den Götti ihres Sohnes zum Abend­essen ein – er ist Mitglied bei der FDP.

Am Ende des Monats ist Fiala Mitglied der Partei.