Kunst im Zwischenreich
Happening, Event, postdramatisches Theater oder schlicht Kunst? Die so ungreifbare wie faszinierende Welt der Performance- und Videopionierin Joan Jonas.
Von Max Glauner, 08.07.2020
Ich habe mir Sorgen um Joan Jonas gemacht. Zum letzten Mal gesehen haben wir uns im Februar in den Schweizer Bergen, am Verbier Art Summit. Für Anfang März war ein Telefongespräch verabredet, um unser Interview über Theater und bildende Kunst fortzusetzen. Und dann: Funkstille. Keine Antwort auf Mails, kein Rückruf. Warum meldete sich die inzwischen 83-jährige Künstlerin nicht aus ihrem New Yorker Loft zurück, in dem sie seit den 1970er-Jahren wohnt und arbeitet? Wollte sie in Ruhe gelassen werden in der Isolation der Quarantäne? Oder war gar etwas Schlimmes geschehen?
Vor zwei Wochen endlich Entwarnung: Jonas geht es gut. Wie so viele New Yorker, die es sich leisten können, war sie aus der Stadt geflohen. Aber jetzt ist sie wieder am Arbeiten im Atelier. Das Gespräch kann stattfinden.
«Dies ist ein entscheidender Moment in der amerikanischen Geschichte», gibt die Künstlerin gleich zu Protokoll. «Das fürchterliche Desaster der Epidemie kommt zusammen mit den Protesten gegen Rassismus, die eine ungeheuer positive Kraft sind.» Wird Jonas, die schon in den 60er-Jahren politisch aktiv war, an die damalige Bürgerrechtsbewegung erinnert? «Die Proteste fallen anders aus als in den 1960er-Jahren, breiter und weitaus vielfältiger. Sie finden rund um den Globus statt. Und nicht zuletzt stellen sie eine wichtige Opposition dar gegen unseren rassistischen, ignoranten, autoritären Präsidenten.» Das sitzt.
Eigentlich gehört Jonas nicht zu den politischen Künstlerinnen, die ihre Überzeugungen wie ein Banner vor sich hertragen. Doch seit sie Ende der 1960er-Jahre die Bühne der jungen New Yorker Kunstszene betrat, die gegen die Generation der Nachkriegsavantgarde, Maler wie Barnett Newman oder Willem de Kooning, rebellierte, spielte sie eine entscheidende, ja richtungsweisende Rolle. Kollektiv, Gemeinschaft, Happening, Aktion lauteten damals die Zauberformeln gegen das Establishment und die Machtansprüche eines reaktionären Staates. Die Proteste gegen den Vietnamkrieg und die schwarze Bürgerrechtsbewegung waren auf dem Höhepunkt. Jonas verfügte vor allem über zwei Trümpfe: ein hervorragendes Netzwerk – zu ihrem Freundeskreis zählten unter anderen der Bildhauer Richard Serra und der Künstler Gordon Matta-Clark – und ein untrügliches Gespür für neue Formen und Medien an der Schnittstelle von Aktion, Performance und Video.
Sie war nicht die Einzige, die mit diesen Innovationen experimentierte, doch ihre Handschrift ist einzigartig geblieben. Allerdings ist es Jonas ergangen wie allen echten Avantgardistinnen: Obwohl ihre Bedeutung von der Kunstszene früh und vorbehaltlos anerkannt wurde, wurde sie ignoriert von den grossen Kunstinstitutionen, dem Markt und den Sammlern – bis sie mit schon fast 60 Jahren plötzlich zum allseits gefeierten Star wurde.
Kunst, die sich expliziten Botschaften oder gar Propaganda verschreibt, verträgt sich nicht mit Jonas’ antiautoritärer Haltung. Beispielhaft gilt dies auch für ihre jüngste grosse Arbeit «Moving Off the Land II», eine umfangreiche Multimedia-Installation, die in Zusammenarbeit mit Meeresbiologen und Klimaforschern entstand. In einem Ausstellungsparcours aus Vitrinen, Projektionen und Videoscreens führt die Künstlerin in betörend schönen, aber auch ironisch gebrochenen Bildern die fragile, fremde Welt der Meere vor. Sie zeigt die Anmut von Fischen, Seesternen und selbst die Klugheit eines Aquariumskraken, dessen Auftritte augenzwinkernd von Bildern der schwimmenden Jonas im Badeanzug gebrochen werden.
Kunst und Natur sind für die Künstlerin nicht zu trennen. Ein Pudel ist nicht nur ihr ständiger Begleiter, sondern auch ein häufiger Performer in ihren Videos. «Auch wenn er auf mich hört, erinnert er mich ständig daran, dass die Natur nicht zu kontrollieren ist», sagt Jonas. «Die Schönheit der Natur beruht auf ihrer absoluten Fremdheit. Diese Erfahrung sollte uns zu grösserer Demut führen.» Kunst und Natur sind für die Künstlerin entgegengesetzte Prinzipien. Aber dennoch ist es die Kunst, von der wir eine achtsamere Haltung gegenüber der Natur erlernen können.
Die Eröffnungsperformance der ersten Ausstellungsrunde von «Moving Off the Land II» zur Biennale Venedig vergangenes Jahr glich einem Triumph. Jonas selbst trat während zweier Stunden auf einer improvisierten Bühne auf, unterstützt lediglich von einer Musikerin am Laptop und einem Performer. Was Geld und Namen hat in der zeitgenössischen Kunst, sass in der ersten Reihe.
Schon 2015 mit der Venedig-Biennale von Okwui Enwezor war die zeitgenössische Kunst wieder in einer performativen Phase angekommen. Jonas bespielte damals den amerikanischen Pavillon mit einer Soloshow. Schon damals besetzte sie im Spannungsfeld der Performancekunst den sinnlich-konkreten Pol. Im Jahr 2019 erst recht, während der konzeptuell-intellektuelle Gegenpol beide Male wohl am radikalsten vom Basler Künstler Christoph Büchel markiert wurde: 2015 mit dem isländischen Pavillon «The Mosque», 2019 mit dem Projekt «BARCA NOSTRA».
Jonas’ «Moving Off the Land» hingegen war eine Feier maritimer Eleganz. Die kleine alte Dame, mit schlohweissem Haar und im weissen Kittel, bewegte sich durch berauschende Videosets, platzierte opake Scheiben als irritierende Projektionsflächen vor magischen Unterwasserlandschaften, deklamierte Textfragmente von Emily Dickinson bis Herman Melville und malte mit langem Pinsel Meeresgetier auf papiernen Grund.
Was war das denn nun? Die Frage steht bei Joan Jonas stets irritierend im Raum. War es eine «Performance», ein «Happening», ein «Event», «postdramatisches Theater» oder schlicht «Kunst»? Die Antwort darauf fällt schwer, da als gegenwärtiges Ergebnis einer solchen Kunstaktion – um ein Wort der Kuratorin Catherine Wood zu benutzen – nur die kollektive «rituelle Erinnerung» für die Präsenz des vergangenen Ereignisses steht. Keine Videoaufzeichnung, kein Bild, kein Gegenstand, kein Text vermag diese Präsenz in die museale Objektwelt überzuführen und als blosses Dokument in die Erinnerung einzuholen.
Das Label «Performancekünstlerin», unter dem Joan Jonas als Pionierin des Genres bis heute skeptisch beäugt und gefeiert wird, greift eigentlich zu kurz. Sie selbst bezeichnet sich lieber als «Visual Artist».
Prozesse, Bewegung im Raum, direkte Auseinandersetzung mit dem Publikum sind Joan Amerman Edwards, die Ende der 1950er-Jahre zunächst Literatur und Kunstgeschichte und schliesslich bildende Kunst studiert, von Anbeginn wichtiger als abgestellte Objekte oder gerahmte Bilder an der Wand. Nach der Scheidung ihrer ersten und einzigen Ehe 1964 behält sie den Namen des biblischen Propheten bei. Dafür ausschlaggebend dürften nicht nur die geschmeidige Alliteration gewesen sein, sondern auch die alttestamentarische Kraft des Namens, die der schicksalhaften Bindung der Künstlerin an das Meer und seine Bewohner gerecht wird.
Die Sommer verbringt die New Yorkerin seit 1970 immer auf der Insel Cape Breton im kanadischen Nova Scotia. Ihre erste Performance im Freien, «Wind» (1968), verlegte Jonas in die Dünen von Long Beach, ein Kinderreich und Niemandsland zugleich. Nachdem sie mit Freunden in einer New Yorker Kirche im Luftstrom von Ventilatoren einzelne Bewegungsabläufe geprobt hatte, ging es für die Kamera bei widrigen Bedingungen in Sturm und Eiseskälte auf den Strand hinaus. Gebeutelt von der eisigen Bise, stemmen sich Jonas’ Akteure gegen die widrigen Verhältnisse, ein verlorener Haufen in surrealer Szenerie, ein Bild der condition humaine zwischen Giorgio de Chirico und Samuel Beckett.
Zwei Jahre später zog sie erneut hinaus an den Strand. Es entstand «Jones Beach Piece» und ein Jahr später an der kanadischen Küste bei Inverness das «Nova Scotia Beach Dance». Die beiden Freiluftaufführungen entwarfen Handlungsanweisungen für einen Rezeptionsrahmen in freier Natur und auf grosse Distanz. Sie gaben gleichsam die Blaupausen ab für eine Aktion in New York, die Jonas schlagartig bekannt werden liess, «Delay, Delay» von 1972.
Statt auf Klippen positionierte die Künstlerin für diese Arbeit in der New Yorker Stadtlandschaft ihr Publikum auf umliegenden Hausdächern. Die 13 Darsteller waren weiss gekleidet, mit orangeroten Kopfbinden ausgestattet und bewegten sich analog zum kanadischen Strand in einem Ruinen-Niemandsland zwischen Häuserzeilen und Hudson River.
Die Szenerie ist bizarrer, die Choreografien ausgefeilter als in den Strandstücken. Jonas definiert vier Ausgangsareale, von denen Requisiten wie Pkw oder Radreifen einzeln oder im Kollektiv verschoben werden. Auch akustische Signale spielen eine Rolle: Neben den zufälligen Hornstössen vorbeifahrender Schiffe werden grosse Holzklötze von den Performern aneinandergeschlagen, ein dramaturgisches Element, das dem Nō-Theater entlehnt ist. Das akustische Signal kommt bei den Zuschauern mit delay an, einer Verzögerung, ebenso wie die Aktionen im weiten Spielfeld nur eingeschränkt und nie auf einmal erfasst werden können. Eine Geschichte erzählt Jonas nicht, vielmehr inszeniert sie eine Landnahme. Es geht um das Explorieren, Gestalten, Besetzen der Zwischenzonen des urbanen Raums.
Waren die Distanznahme und der Purismus von «Delay, Delay» eine Reaktion auf die Inhaltsschwere der politischen Situation der frühen 1970er-Jahre? «Nein, wir reagierten ganz grundlegend auf die urbane Situation. Es ging nicht darum, ein neues politisches Narrativ daraufzulegen, sondern ein konkretes Statement abzugeben, Raum und Bewegung in einem anderen Licht wahrzunehmen.»
Fünf Jahre später, im Dezember 1977, führte Klaus Michael Grüber mit der Schaubühne am Halleschen Ufer im Berliner Olympiastadion «Winterreise» auf und setzte auf vergleichbare Momente des Distanztheaters. Waren das verfrühte Modelle für ein Post-Corona-taugliches Theater? Jonas lacht. «Das klingt interessant, aber das Theater wird hoffentlich auch ohne Social Distancing weiterleben.»
Mit «Delay, Delay» entsteht allerdings auch ein neues, schwer zu definierendes Kunstgenre: Neben Schwarz-Weiss-Fotografien wird die Liveaktion auch durch den knapp 18-minütigen Film «Songdelay» (1973) dokumentiert. Es entsteht ein merkwürdiges Aufführungshybrid, das nur schwer in die Kategorie «Performance», Kaprows «Happening» oder die deutsche «Fluxus-Aktion» zu packen ist. Jonas selbst nennt ihre Arbeiten «Pieces», Stücke. Womit sie sie in eine disziplinäre Richtung rückt, von der sie sich von Kindesbeinen an angezogen fühlt, zum Theater.
Die Annäherung an die Bühne gelang Jonas nach dem Kunststudium auf Umwegen. Zum einen über den Tanz, wie er in der Nachfolge des Tanzkollektivs Judson Dance Theater von Trisha Brown oder Yvonne Rainer praktiziert wurde. Zum anderen über das japanische Nō-Theater, das sie 1970 kennenlernte. «Das Nō ist sehr vielschichtig, von der Musik bis zur Darstellung. Und es zeichnet sich durch einen Minimalismus aus, der mir bis heute absolut zeitgenössisch erscheint.» Die gelernte Bildhauerin behandelte nach dieser Begegnung Gegenstände nicht mehr als skulpturale Objekte, sondern als «Props», Requisiten.
Aus Japan bringt die Künstlerin 1970 auch ihre erste Sony-Portapak-Videokamera mit, die der Nutzerin Closed-Circuit-Aufnahmen ermöglicht. Das heisst, aufgenommene Bilder können direkt auf einem Bildschirm wiedergegeben werden. Zwischen 1972 und 1974 entsteht wie ein Echo auf ihre «Mirror Pieces» (1969 und 1970), in denen tragbare Spiegel die Körper der Darstellerinnen reflektieren und (de-)fragmentieren, die Performancereihe «Organic Honey». Hier tritt die Künstlerin zum ersten Mal selbst vor die Kamera und macht ein kraftvolles Statement feministischer Kunst. Jonas inszeniert sich selber bei einem glamourösen Auftritt im Abendkleid, mit fantastischem Kopfputz und Maske – auch dies ein Nō-Requisit –, während gleichzeitig starre, fetischisierte Teilausschnitte ihrer Gestalt über die Spiegel und den Monitor auf der Bühne flackern. Es entsteht ein Vexierspiel der Blickregime, oszillierend zwischen Authentizität und entfremdeter Selbstinszenierung.
Mit «Organic Honey» kommt die Eigenheit von Jonas «Pieces» zu voller Entfaltung: Die Aktion wird nicht einfach abgefilmt und dokumentiert, sondern sie reflektiert auf das Medium selbst – sowohl im Live-Event als auch auf dem Videomonitor – und etabliert damit ein irrlichterndes Genre, das die Künstlerin über die Jahre auf der Bühne, in Videos und in Installationen ausweitet, anreichert und verdichtet. «Meine Arbeit besteht in einem layering, aus einem ‹Überlagern›», kommentiert Jonas. Momente des Films und der bildenden Kunst – vor allem Zeichnungen, die sie zu einem eigenen Vokabular entwickelt – nähern sich mehr und mehr den Momenten des Theaters an: Bühne, Erzählung, Figuren, Requisiten. Ihre künstlerischen Interventionen situieren sich zwischen Live-Act und Dokumentation, zwischen Skulptur und Requisite, zwischen Objekt und Aktion. Das layering ist Jonas’ ästhetische Antwort auf die Erfordernisse einer intensiven feministischen Identitätssuche.
Bis Mitte der 1970er-Jahre entstehen in der Folge weitere Performance- und Video-Pieces wie zum Beispiel «Mirage» (1976 und 1977), die sowohl als Live-Acts als auch als Videoarbeit funktionieren und den bewegten Körper mit vor der Kamera geschaffenen Zeichnungen und projiziertem Found-Footage-Material auf einer Bühne kombinieren.
1976 kam ein neues Element hinzu: Jonas inszenierte «Juniper Tree», ein Kindermärchen nach den Brüdern Grimm («Von dem Machandelboom»). Das Stück tourte mit einem immer wieder modifizierten Set von Pennsylvania über New York (1977) nach Wien (1978), Eindhoven, London und San Francisco (1979). Die Künstlerin, die sich einen Namen machte, indem sie Narrative vermeiden und die reine Raumbesetzung inszenieren wollte, kehrte zurück zu den literarischen Mythen.
Den Ausgangspunkt ihrer Arbeiten bildeten fortan bevorzugt nordische Epen und Geistergeschichten, so etwa in der Videoerzählung «Volcano Saga» (1989) mit Tilda Swinton oder in «Revolted by the Thought of Known Places … Sweeney Astray», einem Stück, das 1992 als Installation in den damals neu gegründeten Berliner Kunst-Werken entstand. In den 1980er-Jahren, der Phase eines allgemeinen Desinteresses für performative Kunst, wurde es allerdings recht still um Joan Jonas.
Erst mit der fulminanten Renaissance der Performancekunst wuchs auch das Interesse für ihr Werk wieder. 2015 war die Zeit schliesslich reif für ihre komplexen, die reine Performance unterlaufenden Formate. Mit einem labyrinthischen Video-Bühnenbild-Essay, «They Come to Us Without a Word», gleichsam eine Summa ihres künstlerischen Schaffens, konnte Jonas den US-amerikanischen Pavillon auf der 56. Venedig-Biennale bespielen. 2018 folgte die Retrospektive «Joan Jonas» in der Londoner Tate Modern, in der neben Reenactments früher Arbeiten wie des Spiegelstücks «Mirror» Installationen und eine internetbasierte Live-Performance zu sehen waren. «Ja, die Zeiten haben sich geändert. Ich bin froh, dass ich damit etwas weitergeben kann», sagt Jonas.
Die Ausstellung «Moving Off the Land II» ging nach der letztjährigen Biennale auf Reisen und wurde Ende Februar im Museo Nacional Thyssen-Bornemisza in Madrid eröffnet. Nach coronabedingter Schliessung steht sie nun bis zum 13. September offen. Woran arbeitet Jonas heute? «Ich plane grade ein grosses Projekt. Ich zeichne viel, wie die meisten jetzt. Das Wichtigste ist: Es geht weiter.»
In einer früheren Version haben wir fälschlicherweise geschrieben, dass Joan Jonas im Moment kein grosses Projekt plane. Wir entschuldigen uns für den Fehler.
Max Glauner arbeitet als freier Kulturjournalist für den «Freitag», den «Tagesspiegel», die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung», Frieze.com, «Artforum» und «Kunstforum International». Er lebt in Berlin und Zürich und ist Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste, wo er zu innovativen Produktions- und Aufführungsformaten sowie Strategien der Partizipation und Kollaboration lehrt und forscht.