Der entscheidende Schritt: Was muss geschehen, damit Menschen den Mut haben, ihren Ideen und Überzeugungen zu folgen statt der Lüge und der Macht?

Die Geschichte der Kollaborateure

Korrupt, feige, selbstsüchtig. Warum verraten die US-Republikaner ihre Prinzipien, um einen gefährlichen Präsidenten im Amt zu halten?

Ein Essay von Anne Applebaum (Text), Bernhard Schmid (Übersetzung) und Borja Alegre (Illustration), 04.07.2020

An einem kalten Nachmittag im März 1949 verliess Wolfgang Leonhard das Gebäude der Sozialistischen Einheits­partei Deutschlands (SED), eilte nach Hause, zog sich warm an, packte das Notwendigste in eine kleine Tasche und rief dann von einer Telefon­zelle aus seine Mutter an. «Meinen Artikel werde ich heute Abend beendet haben», sagte er zu ihr. Es war der vereinbarte Code, der ihr sagen sollte, dass er die Sowjet­zone verlassen würde – eine Flucht, die ihn das Leben kosten könnte.

Obwohl damals erst 28, gehörte Leonhard als Referent mit zur Spitze der neuen ostdeutschen Elite. Sohn deutscher Kommunisten, die vor den Nazis über Schweden in die Sowjet­union geflohen waren, wurde er dort während des Kriegs in Kader­schulen zum Kommunisten erzogen und kam 1945 mit derselben Maschine aus Moskau zurück nach Berlin wie Walter Ulbricht, der künftige Chef der SED. Als Angehöriger der «Gruppe Ulbricht» befasste er sich im Weiteren mit dem Aufbau einer neuen Verwaltung in Ostberlin.

Leonhard fiel die Aufgabe zu, all denen, die sich im Chaos der Nachkriegs­zeit auf führende Posten hocharbeiteten, linien­treue Mitarbeiter zur Seite zu stellen. «Es muss demokratisch aussehen», hatte Walter Ulbricht der Gruppe eingeschärft, «aber wir müssen alles in der Hand haben.»

Bereits damals hatte Leonhard viel durchgemacht. Er war noch ein Teenager in Moskau gewesen, da hatte man seine Mutter als «Volks­feindin» in das Arbeitslager Workuta geschickt; er war Zeuge der schrecklichen Armut und Ungleichheit in der Sowjet­union geworden; er war schier verzweifelt ob des Bündnisses der Sowjets mit Nazi­deutschland von 1939 bis 1941 und wusste um die Massenvergewaltigungen von Frauen im Gefolge der Besetzung durch die Rote Armee. Und dennoch schreckte er «instinktiv vor dem Gedanken zurück», dass auch nur eines dieser Ereignisse «in direktem Gegensatz zu unseren Idealen des Sozialismus» stand. Beharrlich klammerte er sich an das Glaubens­system, mit dem er aufgewachsen war.

Der Wendepunkt, als er dann kam, war banal. Eines Tages sprach ihn auf dem Korridor des Polit­büros ein «sympathisch aussehender Mann mittleren Alters» an. Es war ein Funktionär der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), der auf Einladung zu Besuch aus dem Westen weilte. Er hatte eben seine Essens­marken bekommen und wollte wissen, wo der Speisesaal sei. Das komme ganz darauf an, welchen «Talon» er habe, da Mitarbeiter unter­schiedlicher Funktion in verschiedenen Speise­sälen assen. Der Genosse sah ihn entsetzt an: «Ja, aber … sind das nicht alles Genossen?»

Nach diesem Wortwechsel ging Leonhard nachdenklich in seinen Speise­saal, den der «1. Kategorie», wo «an weiss gedeckten Tischen die höheren Mitarbeiter ein aus mehreren Gängen bestehendes, ausgezeichnetes Essen» erhielten. Er war beschämt. «Eigentümlich», dachte er, «dass mir das früher nie aufgefallen ist.» Damals kamen ihm die ersten Zweifel, die schliesslich mit unerbittlicher Konsequenz zur Planung seiner Flucht führen sollten.

Zwei überzeugte Kommunisten, einfluss­reich in der DDR. Beide erkennen irgendwann, wie unfair und grausam das Regime ist – warum erträgt der eine den Verrat an seinen Idealen und der andere nicht?

Zur selben Zeit in derselben Stadt kam ein anderer hochrangiger DDR-Funktionär zum genau gegen­teiligen Schluss. Auch Markus Wolf stammte aus einer prominenten Familie deutscher Kommunisten. Auch er war in der Sowjet­union aufgewachsen, hatte dieselben Kader­schulen für die Kinder ausländischer Kommunisten besucht wie Leonhard, hatte mit diesem sogar an der Kominternschule in Kuschnarenkowo den Schlaf­raum geteilt. Sie sprachen einander – den Regeln der Verschwörung entsprechend, an der sie teilhatten – mit Decknamen an, obwohl sie ihre richtigen Namen kannten.

Auch Wolf wurde Zeuge der Massen­verhaftungen, der Säuberungen und des Elends in der Sowjet­union – und auch er blieb der Sache treu. Er traf nur wenige Tage nach Leonhard in Ostberlin ein, auch er in einer Maschine voller zuverlässiger Genossen. Wolf wurde einer der Verantwortlichen beim neu geschaffenen Berliner Rundfunk. Der Sender hatte sein Funkgebäude in Westberlin, wurde aber von den Sowjets unterstützt. Wolf beantwortete in der beliebten Sendereihe «Sie fragen – wir antworten» Hörer­zuschriften, wobei er nicht selten zu dem Schluss kam, es handle sich hier um Probleme, die man «mit Hilfe der Roten Armee überwinden» würde.

Im August 1947 trafen sich die beiden in Wolfs luxuriöser 5-Zimmer-Wohnung in der Bayernallee unweit des Rundfunk­gebäudes in Westberlin. Gemeinsam fuhren sie von dort aus hinaus zu Wolfs Haus, einer schönen Villa in der Nähe des Glienicker Sees. Bei einem Spazier­gang am Ufer des Sees wies Wolf Leonhard auf gewisse bevor­stehende Veränderungen der «Linie» hin. Wie er ihm sagte, habe er die Hoffnung aufgegeben, man würde dem deutschen Kommunismus – «der Theorie vom besonderen deutschen Weg entsprechend» – eine von der sowjetischen Variante abweichende Entwicklung zugestehen. Man würde diese Vision, die lange das Ziel deutscher KP-Mitglieder gewesen war, in Kürze fallen lassen.

Als Leonhard dagegenhielt, dass das doch unmöglich stimmen könne – schliesslich war er persönlich für die ideologische Richtung verantwortlich, und kein Mensch hatte ihm etwas davon gesagt –, reagierte Wolf mit einem ironischen Lächeln. «Es gibt höhere Instanzen als euer Zentral­sekretariat», sagte er ihm. Wolf stellte unmissverständlich klar, dass er die besseren Kontakte, die wichtigeren Freunde habe; mit seinen 24 Jahren war er ein Insider. Worauf Leonhard schliesslich klar wurde, dass er nur ein Funktionär in einem besetzten Land war, in dem nicht die deutsche SED Ton und Richtung angab, sondern die KPdSU im fernen Moskau.

Bekannter- oder vielleicht besser berüchtigter­weise stand Markus Wolf die grosse Karriere erst noch bevor. Nicht nur blieb er in Ostdeutschland, er arbeitete sich in der Nomen­klatura nach oben bis zum Leiter der DDR-Auslands­aufklärung. Er war als Chefspion der zweithöchste Beamte im Ministerium für Staats­sicherheit und gilt als die Vorlage für Karla, George Smileys sowjetischen Gegen­spieler in John le Carrés welt­berühmten Spionage­romanen. Im Lauf seiner Karriere rekrutierte seine Haupt­abteilung XV Agenten nicht nur im westdeutschen Kanzler­amt, sondern auch in so gut wie jeder anderen Behörde, zu schweigen von der Nato.

Leonhard war unterdessen nach seiner Flucht aus der damaligen DDR zu einem der prominentesten Regime­kritiker avanciert. Er arbeitete publizistisch und hielt Vorlesungen in Westberlin, Oxford und an der Columbia University. Schliesslich landete er in Yale, wo sein Seminar Generationen von Studenten beeinflusste. Zu diesen gehörte mit George W. Bush ein künftiger Präsident der Vereinigten Staaten, der Leonhards Seminar als «Einführung in das Ringen zwischen Tyrannei und Freiheit» bezeichnete. Als ich in den Achtziger­jahren in Yale studierte, gehörte Leonhards Kurs über die Geschichte der Sowjetunion zu den beliebtesten.

Getrennt betrachtet hat die Geschichte des einen wie des anderen ihre Logik; nebeneinander gestellt bedürfen sie jedoch der Erläuterung. Bis zum März 1949 waren sich Leonhards und Wolfs Biografien auffallend ähnlich gewesen. Beide waren sie innerhalb des sowjetischen Systems aufgewachsen; beide hatten sie die kommunistische Ideologie an der Schule gelernt; beide hatten sie dieselben Werte. Und beide wussten, dass die Partei dabei war, diese Werte zu unterminieren, beide wussten sie, dass das System, das angeblich der Förderung der Gleichheit diente, zutiefst ungleich, unfair und obendrein grausam war. Wie ihre Pendants in so vielen anderen Zeiten und Ländern sahen sie beide die offensichtliche Lücke zwischen Propaganda und Realität. Und dennoch blieb der eine mit Begeisterung bei der Stange, während der andere den Verrat an seinen Idealen nicht vertrug. Warum?

Wer kollaboriert? Ganz oben jene, die sich als natürliche Herrschafts­schicht sehen, betrogen um ihre Macht. Ganz unten Randständige und Abweichler, die unter normalen Umständen niemals Karriere machten

Im Englischen wie im Französischen hat das Wort collaborator eine Doppel­bedeutung. So bezeichnet es zum einen die Mitarbeiterin im neutralen, wenn nicht gar im positiven Sinne; im anderen – und das ist die Bedeutung, die uns hier interessiert – entspricht sie dem deutschen «Kollaborateur»: jemand, der mit dem Kriegs­gegner, der Besatzungs­macht – oder mit einem autoritären Regime – gegen die Interessen des eigenen Landes zusammenarbeitet.

Diese negative Bedeutung kam vor allem während des Zweiten Weltkriegs in Umlauf, als man damit all jene Europäer bezeichnete, die mit den deutschen Besatzern «kollaborierten». Im Grunde impliziert diese negative Bedeutung des collaborator den Verrat: an der eigenen Nation, Ideologie, Moral – mit anderen Worten: an den eigenen Werten an sich.

Seit dem Zweiten Weltkrieg versuchen Historikerinnen und Politologen zu erklären, warum manche Menschen unter extremen Umständen zu Kolla­borateuren werden und andere nicht. Der 2015 verstorbene Harvard-Professor Stanley Hoffmann kannte das Thema aus erster Hand: Er hatte sich mit seiner Mutter den ganzen Krieg über in der kleinen südfranzösischen Ortschaft Lamalou-les-Bains vor der Gestapo versteckt. Hoffmann versuchte sich insofern an einer Klassifikation, als er zwischen «freiwilliger» und «unfreiwilliger» Kollaboration unterschied. Gerade vielen Menschen aus der zweiten Gruppe blieb einfach keine andere Wahl. Zu einer «widerstrebenden Erkenntnis der Notwendigkeit» genötigt, blieb ihnen einfach nichts anderes übrig, als sich mit den national­sozialistischen Besatzern zu arrangieren.

Ferner unterteilte Hoffmann die begeisterten unter den «freiwilligen» Kollaborateuren in zwei Unter­kategorien. Die erste umfasste all jene, die im Namen des «nationalen Interesses» mit dem Feind zusammen­arbeiteten, die mit anderen Worten die Kollaboration als unabdingbar zur Erhaltung der französischen Wirtschaft oder Kultur erachteten – obwohl selbstredend bei vielen von ihnen auch noch berufliche oder wirtschaftliche Motive mit im Spiel waren. Zur zweiten gehörten die ideologisch motivierten, Menschen, die überzeugt davon waren, dass das republikanische Frankreich der Vorkriegs­zeit schwach oder korrupt gewesen sei und die sich von den Nazis seine Stärkung erhofften; bei ihnen handelte es sich um Bewunderer von Hitlers Person oder Bewunderer des Faschismus an sich.

Hoffmanns Analyse zufolge waren viele von denen, die aus ideologischer Überzeugung zu Kollaborateuren geworden waren, Grund­besitzer und Aristokraten, «die Crème der obersten Staats­diener, der Streitkräfte, der Geschäfts­welt», Menschen mit anderen Worten, die sich als Teil einer natürlichen Herrscher­schicht sahen, von den Links­regierungen der Dreissiger­jahre – unfairerweise, wie sie meinten – ihrer Macht beraubt.

Nicht weniger zur Kollaboration motiviert war die ihnen entgegen­gesetzte gesellschaftliche Schicht der «randständigen Existenzen und politischen Abweichler», die unter normalen Umständen nie im Leben Karriere gemacht hätten. Was die beiden Gruppen vereinte, war der Schluss, dass sich, was immer sie vor dem Juni 1940 von Deutschland gehalten haben mochten, ihre Zukunft auf der Seite der Besatzer nur verbessern konnte.

Unglückliche Intellektuelle finden in der Kollaboration den Seelen­frieden, das Ende der inneren Aufruhr. Haben sie einmal akzeptiert, sowieso nichts ändern zu können, kommt die Leichtigkeit zurück

Wie Hoffmann schrieb auch der polnische Dichter und Nobel­preis­träger Czesław Miłosz aus persönlicher Erfahrung über das Thema Kollaboration. Während des Kriegs aktives Mitglied des Wider­stands gegen die Nazis, fand er sich nach Kriegsende in der polnischen Botschaft in Washington wieder und diente dort dem kommunistischen Regime seines Landes als Kultur­attaché. Erst 1951 sollte er von der Fahne gehen und das Regime verurteilen.

In seiner berühmten Essay­sammlung «Verführtes Denken» skizzierte er – kaum verhüllt – die Porträts einiger real existierender Zeitgenossen, allesamt Intellektuelle und Schrift­stellerinnen, von denen jeder und jede zu einer eigenen Recht­fertigung für die Kollaboration mit der Partei gekommen war.

Viele von ihnen waren Karrieristen, aber Miłosz verstand sehr wohl, dass die Karriere allein ihr Verhalten nicht zu erklären vermochte. Teil einer Massen­bewegung zu sein, war für viele eine Chance, ihrer Entfremdung ein Ende zu machen, sich der «Masse» näher zu fühlen, in der Gemeinschaft aufzugehen.

Für unglückliche Intellektuelle bot die Kollaboration überdies eine gewisse Erleichterung, fast eine Art Seelen­frieden. Sie bedeutete das Ende ihres inneren Aufruhrs, das Ende ihres Kriegs­zustands mit dem Staat. Hat der Intellektuelle erst einmal akzeptiert, dass es keinen anderen Weg gibt, so schrieb Miłosz, kann er «wieder mit Appetit essen, seine Bewegungen werden wieder elastisch, auf die Wangen kehrt die gesunde Farbe zurück. Er setzt sich hin, um einen ‹positiven Artikel› zu schreiben, und wundert sich selbst, wie leicht ihm der aus der Feder fliesst.»

Miłosz ist einer der wenigen Schrift­steller, die die Wonnen der Konformität eingestehen, die Leichtigkeit des Herzens, die sie einem verleiht, die Art, wie sie so viele persönliche und berufliche Dilemmata aufzulösen vermag.

Wir alle kennen den Hang zur Konformität; er ist ein völlig normales menschliches Bedürfnis. Ich sah mich erst jüngst wieder bei einem Besuch in Marianne Birthlers licht­durchfluteter Berliner Wohnung daran erinnert. In den Achtziger­jahren gehörte Birthler zu einer eher kleinen Zahl aktiver ostdeutscher Dissidenten; später, im wieder­vereinigten Deutschland, war sie dann über ein Jahrzehnt lang die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Ich fragte sie, ob sie innerhalb ihrer statistischen Gruppe ein bestimmtes Set von Umständen identifizieren könne, das einige zur Zusammen­arbeit mit der Staats­sicherheit veranlasst haben könnte.

Birthler schien brüskiert von der Frage. Über Kollaboration zu sprechen, interessiere sie nicht, meinte sie, fast jeder sei ein Kollaborateur gewesen; 99 Prozent aller Ostdeutschen kollaborierten. Wenn sie nicht direkt mit der Stasi zusammen­arbeiteten, dann arbeiteten sie mit der Partei oder mit dem System allgemein. Weit interessanter – und weit schwieriger zu erklären – sei die nun wirklich rätselhafte Frage, «warum Menschen sich gegen das Regime stellten». Das Rätsel sei also nicht, warum Markus Wolf in Ostdeutschland blieb, sondern warum Wolfgang Leonhard dies nicht ebenfalls tat.

Mitt Romney und Lindsey Graham – beides Republikaner, beide verachten sie Trump. Doch es ist der Patriot Graham, der jede Lüge, jeden Rechts­bruch von Trump verteidigt –und nicht der gewiefte Geschäfts­mann Romney. Warum?

Um noch ein weiteres Paar gegensätzlicher Geschichten anzuführen, die womöglich nur den amerikanischen Lesern etwas sagen werden. Lassen wir sie in den Achtziger­jahren beginnen, als ein junger Lindsey Graham seine Laufbahn als Rechts­offizier bei der Luftwaffe begann, genauer gesagt beim Judge Advocate General’s Corps – der Staats­anwaltschaft des US-Militärs. Eine Zeit lang war Graham im Rahmen seiner Tätigkeit im damaligen West­deutschland stationiert, sozusagen direkt an der Front von Amerikas Anstrengungen im Kalten Krieg.

Graham, der aus einer Kleinstadt in South Carolina kommt, war mit Leib und Seele Soldat. Nach dem Tod seiner Eltern, er war damals gerade mal Anfang 20, brachte er zuerst mithilfe eines Stipendiums des Offizierskorps der Reserve sich selbst und dann mit dem Air-Force-Sold seine kleine Schwester durchs College. Er blieb nach seiner aktiven Zeit noch zwei Jahr­zehnte bei der Reserve, selbst noch als Senator, wobei er kurzzeitig sowohl im Irak als auch in Afghanistan diente. «Die Luftwaffe ist mit das Beste, was mir je passiert ist», sagte er 2015. «Sie gab meinem Leben einen Sinn, der grösser war als ich selbst. Sie hat mir die Gemeinschaft mit Patrioten beschert.»

Den grössten Teil seiner Jahre im Senat über redete Graham – zusammen mit seinem engen Freund John McCain – nicht nur einem starken Militär das Wort, sondern auch der Vision der USA als demokratischem Leitstern der freien Welt. Ausserdem vertrat er die Vorstellung einer robusten Demokratie im eigenen Land. Bei seiner Kampagne zur Wieder­wahl 2014 kandidierte er als Unabhängiger und Zentrist.

Während seiner Stationierung in West­deutschland wurde Mitt Romney Mitbegründer und schliesslich Präsident der Unternehmens­beratung Bain Capital. In Michigan geboren, arbeitete Romney während seiner Jahre bei Bain zwar in Massachusetts, pflegte aber seines mormonischen Glaubens wegen weiterhin seine engen Kontakte zu Utah.

Während Graham als Rechts­offizier beim Militär Sold bezog, erwarb Romney Firmen, strukturierte sie um und verkaufte sie. Und er war so gut in seinem Job, dass man ihn 1990 mit der Leitung der Mutter­gesellschaft Bain & Company betraute, eine Position, die ihn reich machte. Da Romney jedoch bei alledem von einer politischen Karriere träumte, kandidierte der Unabhängige 1994 nach seinem Wechsel zu den Republikanern für den Senat von Massachusetts. Er verlor zwar, kandidierte aber 2002 als parteiloser Gemässigter in Massachusetts für den Gouverneurs­posten. Und gewann.

Nach einer Amtszeit als Gouverneur, in der er eine nahezu allgemeine Gesundheits­fürsorge durchboxte, die zum Vorbild für Barack Obamas Affordable Care Act werden sollte, bewarb er sich 2007 zum ersten Mal um die Präsidentschaft. Nachdem er 2008 die republikanischen Vorwahlen verloren hatte, nominierte die Partei ihn 2012 doch noch. Er verlor die Wahl.

Sowohl Graham als auch Romney wollten Präsident werden; Graham stellte 2015 seine eigene Kampagne auf die Beine und begründete diesen Schritt damit, dass «die Welt in die Brüche» gehe. Beide waren sie loyale Mitglieder der Republikaner, beide standen sie den radikalen und konspirativen Rand­gruppen der Partei skeptisch gegenüber. Beide reagierten mit aufrichtigem Zorn auf Trumps Kandidatur, was nicht weiter erstaunen muss, schliesslich unterminierte er beider Werte.

Graham hatte seine Laufbahn dem Gedanken einer amerikanischen Führungs­rolle in der Welt gewidmet, wogegen Trump nichts weiter als seine «America first»-Doktrin bot, die, wie sich letzten Endes heraus­stellte, nichts weiter bedeutete als «ich und meine Freunde zuerst».

Romney war ein ausgezeichneter Geschäfts­mann mit einer starken Bilanz im Dienste der Öffentlichkeit, wogegen Trump seinen Reichtum ererbt hatte, mehrmals bankrottging und auch als Politiker nichts aufzuweisen hatte. Graham und Romney lagen die demokratischen Traditionen der USA ebenso am Herzen wie ihre Ideale: Ehrlichkeit, Verantwortlichkeit und Transparenz im öffentlichen Leben – alles Dinge, für die Trump nur Verachtung übrighatte.

Beide hielten mit ihrer Missbilligung für Trump nicht hinter dem Berg. Vor der Wahl bezeichnete Graham ihn als «Esel», «Spinner» und «rassistischen, fremdenfeindlichen, religiösen Eiferer». Er schien alles andere als glücklich über die Wahl, wenn nicht gar deprimiert. Als wir uns im Frühjahr 2016 auf einer Tagung in Europa über den Weg liefen, äusserte sich Graham, wenn überhaupt, ausgesprochen einsilbig.

Romney ging weiter. «Lassen Sie mich das ganz deutlich sagen», meinte er im März 2016 bei einer Ansprache, in der er Trump kritisierte: «Wenn wir Republikaner uns für Donald Trump als Kandidaten entscheiden, verringern wir damit erheblich unsere Aussichten auf eine sichere und florierende Zukunft.» Romney sprach von Trumps «Bullytum», Gier, Angeberei, Frauen­hass, drittklassigem Theater; er bezeichnete ihn als «Bauern­fänger» und «Betrüger». Noch nach Trumps Nominierung verweigerte Romney ihm die Unter­stützung. Auf seinem Stimm­zettel bei der eigentlichen Wahl dann habe er nach eigenen Aussagen seine Frau eingetragen. Graham behauptete, er habe für den unabhängigen Kandidaten Evan McMullin gestimmt.

Aber Donald Trump wurde dann doch Präsident, sodass die beiden ihre Überzeugungen auf dem Prüfstand sahen.

Ein blosser Blick auf ihre Biografien hätte wohl kaum jemanden ahnen lassen, was dann geschah. Auf dem Papier, so hätte man meinen können, war Graham der Mann mit der engeren Beziehung zu Militär, Rechts­staatlichkeit und einer altmodischen Vorstellung von amerikanischem Patriotismus und der Verantwortung Amerikas in der Welt. Romney dagegen mit seinem Hin und Her zwischen Mitte und Rechts, seinen unter­schiedlichen Karrieren in Wirtschaft und Politik, schien diesen altmodischen patriotischen Idealen weit weniger verbunden. In den Augen der meisten von uns sind Soldaten loyale Patrioten und Unternehmens­berater eigensüchtig.

In diesem Fall jedoch erwiesen sich die Klischees als falsch. Es war Graham, der Entschuldigungen für Trumps Macht­missbrauch fand. Es war Graham, Rechts­offizier bei der Luftwaffe, der die Beweise dafür herunter­spielte, dass der Präsident ausländische Gerichte zu manipulieren und einen Staats­chef durch Nötigung dazu zu bekommen versuchte, grundlose Ermittlungen gegen einen politischen Gegner einzuleiten. Es war Graham, der sich, seinem ausdrücklichen Bekenntnis zum Zwei­parteien­staat zuwider, im Senat für einen hyper­parteiischen Rechts­ausschuss starkmachte, der gegen den Sohn des ehemaligen Vize­präsidenten Joe Biden ermitteln sollte. Und es war Graham, der mit Trump Golf spielte, der im Fernsehen Ausreden für ihn fand, der den Präsidenten selbst dann noch unterstützte, als dieser langsam, aber sicher die amerikanischen Bündnisse zu demontieren begann, sei es das mit den Europäern, sei es das mit den Kurden – Bündnisse, die Graham sein ganzes Leben lang verteidigt hatte.

Im Gegensatz dazu war Romney der einzige Senator, der sich, aus der Reihe seiner Kollegen tanzend, für ein Impeachment des Präsidenten aussprach. «Eine Wahl zu korrumpieren, um im Amt zu bleiben», so sagte er, sei «womöglich der Gipfel von Amts­missbrauch und der destruktivste Verstoss gegen den Amtseid, den ich mir vorstellen kann.»

So erwies sich denn der eine der beiden als willens, seine Ideen und Ideale zu verraten, der andere nicht. Warum?

Trumps erste Lüge als Präsident war lächerlich. Das machte sie umso gefährlicher. Er zeigte damit, dass er die Macht hat, Unwahrheiten unter die Leute zu bringen. Sie sollen nicht die Lüge glauben, sie sollen den Lügner fürchten

Manche mögen Anspielungen an das Frankreich von Vichy, an die DDR, an Faschisten und Kommunistinnen übertrieben, wenn nicht gar lächerlich finden. Unter der Ober­fläche jedoch bekommt die Analogie durchaus Hand und Fuss. Schliesslich geht es nicht darum, Trump mit Hitler oder Stalin zu vergleichen; es geht vielmehr um den Vergleich der Erfahrungen hoch­rangiger Republikaner, vor allem derer mit den engsten Bindungen zum Weissen Haus, mit den Erfahrungen der Europäer: denen der Französinnen in den Vierziger­jahren, denen der Ostdeutschen 1945 oder auch denen von Czesław Miłosz 1947. Ich spreche von Erfahrungen von Menschen, die sich eine fremde Ideologie oder eine Wert­anschauung aufgenötigt sehen, die in scharfem Widerspruch zu ihrer eigenen stehen.

Noch nicht einmal Trumps Anhänger können diese Analogie bestreiten, da es genau diese Nötigung, dieses Aufzwingen einer fremden Ideologie ist, worum es ihm von Anfang an ging. Trumps erste Äusserung als Präsident, seine Rede zum Amtsantritt, war ein beispiel­loser Angriff auf amerikanische Werte und die amerikanische Demokratie überhaupt. Sie erinnern sich? Er bezeichnete Amerikas Hauptstadt, Amerikas Regierung, Amerikas Kongress und Senat – einer wie der andere demokratisch gemäss der 227 Jahre alten Verfassung Amerikas von Amerikanern gewählt – als ein «Establishment», das «auf Kosten des Volkes» profitiert habe. «Ihre Siege sind nicht unsere Siege», sagte er. «Ihre Triumphe sind nicht unsere Triumphe.» So deutlich, wie er nur konnte, erklärte Trump damit, dass eine neue Wert­anschauung die alte ersetzen würde, obwohl noch unklar war, wie diese aussehen sollte.

Fast unmittelbar nach seiner Rede ritt Trump seine erste Attacke gegen die faktische Realität, eine offenbar lange unterschätzte Komponente der amerikanischen Politik. Wir sind weder eine Theokratie noch eine Monarchie, die das Wort des Führers oder einer Priesterschaft als Gesetz akzeptiert. Wir sind eine Demokratie, die Fakten diskutiert, Problemen auf den Grund zu gehen versucht, um dann entsprechende gesetzliche Lösungen zu verabschieden, und das anhand eines bestimmten Katalogs von Regeln.

Als Trump – allen fotografierten und gefilmten Belegen, zu schweigen von der persönlichen Erfahrung Tausender zum Trotz – behauptete, die Beteiligung an der Feier zu seinem Amts­antritt sei höher gewesen als die bei Obamas erster Amts­einsetzung, war das ein jäher Bruch mit Amerikas politischer Tradition. Wie die autoritären Führer anderer Zeiten und Orte befahl Trump effektiv nicht nur seinen Anhängerinnen, sondern auch den apolitischen Angehörigen der Staats­bürokratie, an einer so eklatant falschen, manipulierten Realität festzuhalten.

Wie die Politiker anderer Zeiten und Orte versuchen seit jeher auch US-Politikerinnen ihre Fehler zu vertuschen, halten Informationen zurück und machen Versprechungen, die sie nicht einlösen können. Aber vor Trump hat noch keiner von ihnen den National Park Service zur Manipulation von Fotos angehalten oder den Presse­sprecher des Weissen Hauses gezwungen, Lügen über die Grösse einer Menschen­menge zu verbreiten – und das auch noch vor Journalistinnen, die ganz genau wussten, dass er log.

Die Lüge an sich war unbedeutend, ja lächerlich; und gerade das machte sie mit so gefährlich. In den Fünfziger­jahren tauchte auf Feldern in Osteuropa der Kartoffel­käfer auf, dessen Herkunft man einer frühen Epidemie wegen im US-Bundesstaat Colorado verortete. Damals behaupteten die von der Sowjet­union gestützten Staaten der Region, amerikanische Flieger hätten die Schädlinge in einem Akt von biologischer Sabotage abgeworfen. Allent­halben tauchten in Ostdeutschland, Polen und der Tschecho­slowakei Propaganda­plakate mit fiesen rot-weiss-blauen «Amikäfern» auf.

Wie aus Archivmaterial hervorgeht, glaubte kein Mensch diesen Vorwurf, nicht einmal die, die ihn verbreiteten. Was aber keine Rolle spielte. Sinn und Zweck dieser Plakate war nicht, die Leute von der Unwahrheit zu überzeugen; es ging einfach darum, die Macht zu demonstrieren, eine Unwahrheit zu behaupten und unter die Leute zu bringen. Manchmal geht es nicht darum, die Leute eine Lüge glauben zu machen – sie sollen nur den Lügner fürchten.

Diese Art von Lügen hat es darüber hinaus an sich, aufeinander aufzubauen. Es braucht seine Zeit, die Leute von bestehenden Wert­vorstellungen abzubringen. Der Prozess setzt für gewöhnlich langsam, in Form kleiner Veränderungen, ein. So konnten zum Beispiel, wie 2009 im «Journal of Experimental Social Psychology» nachzulesen, Sozial­wissenschaftler bei der Beschäftigung mit der Unter­höhlung von Werten und dem Anwachsen der Korruption innerhalb von Firmen feststellen, dass «Menschen das unethische Verhalten anderer eher akzeptieren, wenn sich dieses Verhalten allmählich (sozusagen auf einer schiefen Bahn) entwickelt, anstatt abrupt einzusetzen». Das liegt daran, dass es bei den meisten von uns «eingebaut ist», sich als moralisch und ehrlich zu sehen, und dieses Selbstbild sich nun mal der Veränderung widersetzt. Werden aber gewisse Verhaltens­weisen erst einmal «normal», dann hört man auf, darin etwas Falsches zu sehen.

Dieser Prozess findet sich auch in der Politik. So erliess die sowjetische Militär­verwaltung der Sowjetischen Besatzungs­zone 1947 einen «Befehl» zur Regulierung von Verlagen und Druckereien. Es war nicht etwa so, dass man die Druckereien verstaatlicht hätte; der «Befehl Nr. 90» verlangte nur, dass sie eine Lizenz zu beantragen und ihre Arbeit zu beschränken hätten – auf Bücher und Broschüren, die von zentralen Planern bestellt wurden.

Man stelle sich vor, wie sich ein solches Gesetz – in dem keineswegs von Verhaftungen, geschweige denn von Folter oder gar Gulag die Rede war – auf den Besitzer einer Drucker­presse in Dresden auswirken musste, einen verantwortungs­bewussten Familien­vater mit zwei halbwüchsigen Kindern und einer kranken Frau. Auf das Inkraft­treten der Regelung hin hatte er eine Reihe von scheinbar unbedeutenden Entscheidungen zu treffen. Würde er die Lizenz beantragen? Selbstverständlich – er hatte schliesslich eine Familie zu ernähren. Würde er sich auf den Druck von offiziell bestelltem Material beschränken? Ja, auch das – was gab es denn sonst schon zu drucken?

Danach folgten weitere Kompromisse. Obwohl er mit den Kommunisten nichts anfangen konnte – er hat mit Politik an sich nichts am Hut –, erklärt der Geschäfts­inhaber sich bereit, Stalins gesammelte Werke zu drucken. Wenn er sie nicht druckt, würden es eben andere tun. Als ihn einige unzufriedene Freundinnen bitten, ihnen zu Gefallen eine regime­kritische Flugschrift zu drucken, weigert er sich. Obwohl man ihn dafür nicht gleich einsperren würde, aber seine Kinder bekämen womöglich keinen Studien­platz, seine Frau möglicher­weise keine Medikamente; er muss an ihr Wohl­ergehen denken. In der ganzen Sowjetischen Besatzungs­zone treffen Drucker dieselbe Entscheidung. Und so gibt es nach einiger Zeit – ohne dass jemand erschossen oder verhaftet worden wäre und ohne grosse Gewissens­bisse – nur noch die offiziell vom Regime abgesegneten Bücher zu lesen.

«Trump first»: Seine Innen­politik dient nur der Geschäfts­welt und seiner eigenen Familie; in seiner Aussen­politik geht es ihm nur um die Nähe zu Diktatoren, zur Aura absoluter Macht und Grausamkeit

Das eingebaute Selbstbild vom Patrioten, von der kompetenten Verwalterin oder dem loyalen Partei­mitglied sorgte überdies für eine kognitive Verzerrung, die viele Republikaner und Angehörige der Regierung Trump blind machte gegenüber dem eigentlichen Wesen des alternativen Werte­systems ihres Präsidenten. Immerhin waren die ersten Vorfälle herzlich banal. Sie übersahen seine Lüge beim Amts­antritt, weil sie einfach zu albern war. Sie ignorierten Trumps Bildung des reichsten Kabinetts aller Zeiten ebenso wie seine Entscheidung, seine Regierung mit ehemaligen Lobbyisten zu füllen. Was war das schon anderes als business as usual?

Schritt für Schritt krochen dem Trumpismus selbst viele der begeistertsten Fans auf den Leim. Denken Sie daran, dass einige von Trumps intellektuellen Anhängern der ersten Stunde – Leute wie der Publizist Steve Bannon, der Kommunikations­berater Michael Anton und die Verfechter der nachträglich zur Rationalisierung von Trumps Verhalten erfundenen Ideologie des «nationalen Konservatismus» – ihre Bewegung als Alternative zur libertären Doktrin vom schlanken Staat der etablierten Republikaner verkauften: gegen Auslands­kriege, Anti-Wall-Street, einwanderungs­feindlich.

Ihre Devise von der Trocken­legung des Washingtoner Sumpfes implizierte, dass Trump aufräumen würde in der durch und durch korrupten Welt von Lobbyisten und Partei­spenden, die die amerikanische Politik verzerrten. Und dass er für mehr Ehrlichkeit in der öffentlichen Debatte und mehr Fairness in der Gesetz­gebung sorgen würde.

Wäre das tatsächlich Trumps Leitphilosophie gewesen, sie hätte 2016 nach seiner Wahl der Führungs­riege der Republikaner leicht zum Problem werden können, wenn man bedenkt, wie sehr sich deren eigene Werte von ihr unterschieden. Aber es hätte weder gleich der Verfassung schaden noch zu einer fundamentalen moralischen Heraus­forderung für Personen des öffentlichen Lebens werden müssen.

In der Praxis regiert Trump nach einer Auswahl von Prinzipien, die sich von Grund auf unterscheiden von denen, die er seinen alten Anhängerinnen gegenüber zum Ausdruck brachte. In seinen Reden mag hier und da noch etwas von der alten populistischen Sprache auftauchen, Tatsache ist aber, dass er ein Kabinett und eine Regierung zusammen­stellte, die weder der Öffentlichkeit noch seinen Wählerinnen, sondern allein seinen persönlich-psychologischen Bedürfnissen sowie den Interessen seiner Freunde in Wall Street und Geschäfts­welt dienen, von denen der eigenen Familie ganz zu schweigen.

Von seinen Steuer­kürzungen profitierten überproportional die Wohl­habenden, nicht die Arbeiter­klasse. Den seichten Wirtschafts­boom, der ihm die Wiederwahl sichern sollte, bewerkstelligte er mithilfe eines massiven Haushalts­defizits von ebenden Ausmassen, die den Republikanern angeblich einst ein Gräuel gewesen waren; sie stellen eine enorme Belastung für künftige Generationen dar. Er machte sich daran, die bestehende Gesundheits­fürsorge abzubauen, ohne etwas Besseres aufzubauen, wie er es versprochen hatte, was dazu führte, dass die Zahl der Nichtversicherten weiter stieg. Und während alledem goss er weiter Öl ins Feuer von Rassismus und Xenophobie, zum einen, weil ihm das politisch nützlich schien, zum anderen, weil es Teil seiner persönlichen Weltsicht ist.

Noch wichtiger jedoch: Er regiert in offener Verachtung – und Unkenntnis – der amerikanischen Verfassung, vor allem, wenn er noch im dritten Amts­jahr erklärt, die totale Autorität über die Bundes­staaten zu haben. Seine Regierung ist nicht nur korrupt, sie will auch von Gewalten­teilung und der Herrschaft des Rechts nichts hören. Trump hat einen protoautoritären Persönlichkeits­kult aufgebaut, feuert links und rechts Leute, die ihm mit Fakten und Belegen kommen, oder stellt sie zumindest aufs Abstellgleis – mit tragischen Folgen für die öffentliche Gesundheit und die Wirtschaft.

So drohte er Ende Februar, Nancy Messonnier – eine Topbeamtin der Centers for Disease Control and Prevention, einer US-Gesundheitsbehörde –, zu feuern, nachdem er ihre Warnungen vor dem Coronavirus gar zu explizit fand; Rick Bright, Topbeamter des Gesundheitsministeriums, sah sich – nach seiner Darstellung – degradiert, nachdem er sich geweigert hatte, Gelder zur Förderung des unbewiesenen Medikaments Hydroxy­chloroquin abzustellen.

Darüber hinaus attackierte Trump neben dem Militär, dessen Generäle er «einen Haufen Deppen und Babys» nannte, auch die Angehörigen der Nachrichten­dienste und Polizei­behörden, die er als «Staat im Staate» verunglimpfte und deren Rat er weiterhin konsequent ignoriert. Er hat ebenso ineffektive wie unerfahrene Beamte zur «kommissarischen» Leitung von Amerikas wichtigsten Sicherheits­behörden eingesetzt. Und schliesslich demoliert er systematisch Amerikas Bündnisse.

Seine Aussenpolitik hat nicht einen Augenblick lang Amerikas Interessen gedient. Zwar versuchen einige seiner Kabinetts­minister und Freunde in den Medien Trump als antichinesischen Nationalisten darzustellen – und aussen­politische Kommentatorinnen über das ganze politische Spektrum hinweg haben erstaunlicher­weise diese Fiktion unhinterfragt akzeptiert.

Doch Trumps Instinkt war seit jeher der, sich auf die Seite von Diktatoren zu stellen, auch im Falle des chinesischen Präsidenten Xi Jinping. Von einem früheren Angehörigen seiner Regierung, der Trump sowohl im persönlichen Umgang mit Xi als auch mit Wladimir Putin aus erster Hand miterlebt hat, habe ich erfahren, man hätte den Eindruck haben können, da treffe ein B-Promi auf einen aus der A-Liste. Trump sprach nicht mit ihnen als Vertreter des amerikanischen Volkes; ihm war einzig daran gelegen, etwas von ihrer Aura absoluter Macht, Grausamkeit und Berühmtheit abzukommen, um damit sein eigenes Image zu heben.

Auch das hat bereits fatale Konsequenzen gehabt. So nahm Trump im Januar Xi beim Wort, als der behauptete, Covid-19 «unter Kontrolle» zu haben, so wie er Nordkoreas Kim Jong-un glaubte, als dieser einen Atom­waffen­deal unterschrieb. In Trumps katzbuckelnder Art gegenüber Diktatoren offenbart sich seine Ideologie ganz unverhüllt: Zuerst kommt bei ihm die Befriedigung seiner eigenen psychischen Bedürfnisse; an sein Land denkt er ganz zuletzt. Das wahre Wesen der Ideologie, mit der Trump in Washington Einzug hielt, ist keineswegs «America first», es ist «Trump first».

Ein Wendepunkt? Das Begräbnis des langjährigen Senators John McCain wird zur politischen Kund­gebung gegen den Präsidenten – ähnlich wie in kommunistischen Regimen

Es ist vielleicht nicht überraschend, dass man die Implikationen von «Trump first» nicht sofort verstand. Immerhin priesen sich die kommunistischen Parteien Osteuropas – oder, um ein aktuelleres Beispiel zu nehmen, die Chavistas in Venezuela – alle als Streiterinnen für Gleichheit und Wohlstand, auch wenn sie in der Praxis für Ungleichheit und Armut sorgten. Aber so wie die Wahrheit über Hugo Chávez’ Bolivarische Revolution dem Volk nach und nach zu dämmern begann, so wurde schliesslich auch klar, dass Trump nicht die Interessen der amerikanischen Öffentlichkeit am Herzen lagen. Und als sie schliesslich erkannten, dass ihr Präsident kein Patriot war, begannen Republikanerinnen und Topleute seiner Regierung nach Ausflüchten zu suchen – ganz so wie Menschen unter einem fremden Regime.

Im Rückblick erklärt diese dämmernde Erkenntnis, warum das Begräbnis von John McCain im September 2018 gar so merkwürdig wirkte – und das allem Vernehmen nach nicht nur im Fernsehen. Zwei ehemalige Präsidenten, der eine Republikaner, der andere Demokrat, beide Patrioten vom alten Schlag, sagten einige Worte, ohne den amtierenden Präsidenten auch nur zu erwähnen. Auch die Lieder und Symbole der alten Ordnung sprachen eine deutliche Sprache: «The Battle Hymn of the Republic», Sternen­banner, zwei von McCains Söhnen erschienen in ihren Offiziers­uniformen – der Unterschied zu Trumps Söhnen hätte grösser nicht sein können.

Susan Glasser beschrieb das Begräbnis im «New Yorker» als «Treffen der Résistance unter einer gewölbten Decke und Buntglasfenstern». In Wirklichkeit ähnelte es auf geradezu unheimliche Weise dem zweiten Begräbnis von László Rajk 1956, eines ungarischen Kommunisten. Er war von 1946 bis 1948 Innenminister und 1949 den stalinistischen Säuberungen zum Opfer gefallen. Da seine Frau sich mittlerweile zu einer schonungslosen Kritikerin des Regimes entwickelt hatte, geriet das Begräbnis ihres rehabilitierten Gatten de facto zu einer politischen Kundgebung, die mit zur anti­kommunistischen Revolution einige Wochen später beitrug.

So dramatisch waren die Ereignisse in der Folge von McCains Beerdigung zwar nicht, aber es sorgte für eine Klärung der Situation. Anderthalb Jahre nach Trumps Amtsantritt markierte es einen Wendepunkt: den Augenblick, in dem viele im öffentlichen Leben stehende Amerikanerinnen ebendie Strategien, Taktiken und Selbst­rechtfertigungen zu übernehmen begannen, deren sich in der Vergangenheit die Bewohner besetzter Länder bedienten – und das, obwohl die persönlichen Risiken in ihrem Fall relativ gering waren. Polnische Bürger wie Czesław Miłosz landeten in den Fünfziger­jahren im Exil; ostdeutsche Dissidenten verloren ihr Recht auf Studium und Arbeit. In brutaleren Regimen wie Stalins Sowjetunion konnte einem der öffentliche Protest Jahre im Gulag einbringen, ungehorsame Wehrmachts­offiziere wurden langsam stranguliert.

Im Gegensatz dazu droht einem republikanischen Senator, der infrage zu stellen wagte, dass Trump im Interesse des Landes handle, gerade mal – ja, was eigentlich? Dass er seinen Sitz im Senat verliert und sich mit einem sieben­stellig dotierten Job als Lobbyist oder einer Professur an der Harvard Kennedy School abfinden muss? Womöglich droht ihm das schreckliche Los Jeff Flakes, des ehemaligen Senators von Arizona, der als freier Mitarbeiter bei CBS News unterkam. Oder es trifft ihn so hart wie Mitt Romney, der sich tragischer­weise nicht zur Political Action Conference der Konservativen eingeladen sah, die sich dieses Jahr als Brutstätte des Coronavirus erwies.

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Nichtsdestotrotz begannen sich Senatoren und andere durchaus seriöse Republikanerinnen nach zwanzig Monaten Trump Geschichten einzureden, die sich wie eine von denen aus Miłosz’ Buch «Verführtes Denken» anhören. Einige dieser Geschichten überlappen sich; einige sind gerade mal faden­scheinige Deck­mäntelchen über dem Eigennutz. Bei allen jedoch handelt es sich um die vertrauten Recht­fertigungen der Kollaboration, wie sie uns aus der Vergangenheit bekannt sind.

Hier sind die beliebtesten:

1 – Wir können diesen Augenblick nutzen, um Grosses zu schaffen.
Im Frühjahr 2019 brachte mich ein befreundeter Trump-Anhänger mit einem Regierungs­mitglied zusammen, nennen wir ihn Mark, mit dem ich mich schliesslich auf einen Drink traf. Ich möchte nicht ins Detail gehen, da es sich nicht um ein offizielles Interview handelte, abgesehen davon, dass Mark weder Informationen herausgab noch in irgendeiner Weise Kritik am Weissen Haus übte. Ganz im Gegenteil, er bezeichnete sich als Patrioten und wahren Gläubigen. Er stand voll und ganz hinter «America first» und glaubte durchaus an die Möglichkeit ihrer Umsetzung.

Einige Monate später traf ich mich ein zweites Mal mit Mark. Die Hearings des Impeachments hatten begonnen, und die Rückberufung der US-Botschafterin aus der Ukraine, Marie Yovanovitch, war in den Nachrichten. Das wahre Wesen der Ideologie der Regierung – «Trump first», nicht «America first» – zeigte sich deutlicher denn je. Trumps Missbrauch der Militär­hilfe für die Ukraine und seine Attacken gegen Leute im Staats­dienst wiesen weniger auf ein patriotisches Weisses Haus als auf einen auf seine persönlichen Interessen bedachten Präsidenten. Mark entschuldigte sich jedoch nicht für den Präsidenten; er wechselte stattdessen das Thema. Unterm Strich sei es die Sache wert, sagte er mir – wegen der Uiguren.

Ich meinte erst, mich verhört zu haben. Der Uiguren wegen? Wie kam er auf die Uiguren? Falls die Regierung etwas zur Unter­stützung der unterdrückten muslimischen Minderheit im chinesischen Xinjang unternommen haben sollte, so war mir das entgangen. Mark versicherte mir, man habe Noten ausgetauscht, Erklärungen abgegeben, den Präsidenten dazu bekommen, sich vor den Vereinten Nationen zu äussern. Ich bezweifelte stark, dass die Uigurinnen von diesen Phrasen profitiert hatten, jedenfalls hatte China sein Verhalten nicht geändert, und die eigens für das Volk der Uiguren gebauten Konzentrations­lager standen noch. Wie auch immer, Mark hatte ein reines Gewissen. Sicher, Trump ruiniere Amerikas Ruf in der Welt, und ja, Trump demoliere Amerikas Bündnisse, aber Mark hielt sich für so wichtig, was die Sache der Uigurinnen anging, dass Leute wie er – guten Gewissens – weiter für die amtierende Regierung arbeiten konnten.

Ich musste dabei an Wanda Telakowska denken, eine Aktivistin, die sich für die polnische Kultur starkgemacht hatte und 1945 in etwa so dachte wie er. Telakowska hatte vor dem Krieg Volks­kunst gesammelt und gefördert; nach dem Krieg traf sie die folgen­reiche Entscheidung, ins polnische Kultus­ministerium zu gehen. Obwohl die kommunistische Führung ihre Gegner verhaftete und ermordete, das wahre Wesen des Regimes deutlich zu werden begann, war Telakowska der Ansicht, sie könnte ihre Position innerhalb des polnischen Establishments dazu nutzen, polnischen Künstlerinnen und Designern zu helfen, ihre Arbeit fördern, polnische Unternehmen dazu zu bekommen, ihre Designs in Masse zu produzieren. Aber die frisch verstaatlichten polnischen Hersteller waren an den von ihr in Auftrag gegebenen Designs nicht interessiert. Kommunistische Politiker, die an ihrer Loyalität zweifelten, liessen Telakowska sinnlos marxistische Artikel schreiben. Schliesslich trat sie zurück; sie hatte nichts von dem erreicht, was sie sich vorgenommen hatte. Eine spätere Generation von Künstlerinnen verurteilte sie als Stalinistin und vergass sie schliesslich.

2 – Wir sind die, die das Land durchaus vor dem Präsidenten schützen können.
Was auch das Argument von «Anonymous» war, einem Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin der Trump-Administration und Autor eines unsignierten Kommentars in der «New York Times» im September 2018. Für alle, die es vergessen haben sollten, schliesslich ist seither viel passiert: Der Artikel schilderte die «Unberechenbarkeit» des Präsidenten, seine Unfähigkeit zur Konzentration, seine Ignoranz, vor allem aber seinen Mangel an «Affinität für die angestammten Ideale der Konservativen: freies Denken, freie Märkte und freie Menschen». Die «Wurzel des Problems», so schloss Anonymous, liege in der «Amoralität des Präsidenten».

Im Wesentlichen beschrieb der Artikel das wahre Wesen des alternativen Werte­systems, mit dem Trump ins Weisse Haus einzog, und das in einem Augenblick, in dem es in Washington noch niemand verstand. Aber selbst als man zu verstehen begann, dass Trumps Präsidentschaft allein unter dem Leitstern seines Narzissmus stand, zog Anonymous keine Konsequenzen; weder kündigte sie, noch protestierte sie, noch machte sie viel Wesens darum, geschweige denn, dass sie gegen Trump und seine Partei ins Feld zog.

Für Staatsdiener wie ihn, so Anonymous’ Schluss aus alledem, sei das einzig Richtige, im System zu verbleiben, von wo aus der Präsident sich auf die eine oder andere raffinierte Weise ablenken und kontrollieren lasse. Anonymous stand mit dieser Ansicht nicht allein. Gary Cohn, damals Wirtschafts­berater im Weissen Haus, sagte dem Journalisten Bob Woodward gegenüber, er habe persönlich Papiere vom Schreib­tisch des Präsidenten verschwinden lassen, um zu verhindern, dass er sich aus einem Handels­abkommen mit Südkorea zurückzog. James Mattis, Trumps ursprünglicher Verteidigungs­minister, blieb im Amt, weil er meinte, den Präsidenten über den Wert der Bündnisse aufklären oder sie wenigstens vor der Zerstörung schützen zu können.

Diese Art von Verhalten hat Analogien in anderen Ländern und anderen Zeiten. Erst vor einigen Monaten sprach ich in Venezuela mit Víctor Álvarez, einem Minister in einer von Hugo Chávez’ Regierungen, der zuvor ein hochrangiger Beamter gewesen war. Álvarez erklärte mir, warum er für den Schutz eines Teils der privaten Industrie eintrat und die Massenver­staatlichung ablehnte. Er gehörte der Regierung von den ausgehenden Neunziger­jahren bis Ende 2006 an, in einer Zeit, in der Chávez zunehmend Polizei gegen friedliche Demonstranten einsetzte und demokratische Institutionen untergrub. Dennoch blieb Álvarez dabei, in der Hoffnung, die ruinösesten von Chávez’ ökonomischen Instinkten bremsen zu können. Er trat zurück, nachdem er zum Schluss gekommen war, dass Chávez einen Loyalitäts­kult – Álvarez sprach von einem «Subklima» des Gehorsams – um sich geschaffen hatte und auf niemanden mehr hörte, der ihm widersprach.

In autoritären Regimen kommen viele Insider irgendwann zum Schluss, dass ihre Anwesenheit schlicht keine Rolle spielt. So hatte sich Gary Cohn zwar öffentlich über seine Probleme mit der Aussage des Präsidenten geäussert, bei dem tödlichen Aufmarsch weisser Suprematisten in Charlottesville, Virginia, seien «auf beiden Seiten anständige Leute» dabei gewesen. Er nahm aber erst dann den Hut, als der Präsident in einer für US-Firmen fatalen Entscheidung Zölle auf Stahl und Aluminium erhob. Für Mattis wiederum war die Bruch­stelle erreicht, als der Präsident die Kurden im Stich liess, Amerikas langjährige Verbündete im Kampf gegen den Islamischen Staat.

Aber obwohl sie beide den Hut nahmen, liess sich weder Cohn noch Mattis gross darüber öffentlich aus. Ihre Anwesenheit im Weissen Haus hatte zur Glaub­würdigkeit Trumps bei traditionellen republikanischen Wählern beigetragen; ihr Schweigen spielt dem Präsidenten nach wie vor in die Hände. Was Anonymous betrifft, so wissen wir nicht, ob die Person bis heute bei der Regierung geblieben ist.

Nur um das hier nochmals ganz klar zu sagen: Álvarez lebt in Venezuela, mit anderen Worten in einem Polizei­staat, und dennoch ist er zur Kritik des Systems bereit, das er selbst mitgeschaffen hat. Cohn, Mattis und auch Anonymous dagegen, die alle die freie Luft der Vereinigten Staaten atmen, zeigen nicht annähernd denselben Mut.

3 – Ich werde persönlich davon profitieren.
Das sind Worte, die kaum jemand laut aussprechen mag. Vielleicht räumt die eine oder andere sich selbst gegenüber ein, dass sie weder resigniert noch protestiert hat, weil sie das Geld oder Status kosten würde. Aber wer möchte schon gern als Karrieristin oder Wende­hals gelten? Nach dem Fall der Berliner Mauer versuchte selbst Markus Wolf, sich als Idealisten darzustellen. Er habe aufrichtig an die marxistisch-leninistischen Ideale geglaubt, sagte der Zyniker 1996 in einem Interview. «Ich glaube heute noch an sie.»

Viele in und um Trumps Regierung suchen den persönlichen Profit. Einige von ihnen tun dies mit einem Mass an ungenierter Offenheit, die in der zeitgenössischen amerikanischen Politik – zumindest auf dieser Ebene – so beunruhigend wie ungewöhnlich ist. Als Ideologie passt diesen Leuten «Trump first», weil sie ihnen erlaubt, sich ebenfalls ganz obenan zu stellen.

Um ein willkürliches Beispiel zu nehmen: Landwirtschafts­minister Sonny Perdue, ein ehemaliger Gouverneur von Georgia, hat sich als Geschäfts­mann – wie Trump selbst – standhaft geweigert, seine landwirtschaftlichen Unternehmen in einen «Blind Trust» zu überführen, als er sein Minister­amt übernahm, die Leitung der Firma also aus der Hand zu geben. Perdue versucht noch nicht einmal den Anschein zu geben, seine politischen und persönlichen Interessen zu trennen. Seit seinem Eintritt ins Kabinett liess er – praktisch ohne Aufsicht und Kontrolle – Milliarden von Dollar an «Entschädigung» an Farmer zukommen.

Er hat sein Ministerium bis unters Dach mit ehemaligen Lobbyisten besetzt, die jetzt ihre eigenen Branchen regulieren: Perdues zweiter Mann im Ministerium, Stephen Censky, war 21 Jahre lang CEO der American Soybean Association; Brooke Appleton war Lobbyistin für die National Corn Growers Association, bevor sie Censkys Stabschefin wurde, und ist seither wieder dorthin zurück­gekehrt; Kailee Tkacz, Mitglied eines bundesweit zuständigen Ernährungs­beirats, war früher Lobbyistin für die Snack Food Association. Die Liste ist nicht weniger lang als Listen von ähnlich kompromittierten Angehörigen des Energie­ministeriums, des Amts für Umwelt­schutz und anderer Institutionen.

Perdues Ministerium beschäftigt darüber hinaus eine ausser­ordentlich hohe Zahl von Leuten ohne die geringste Erfahrung in der Land­wirtschaft. Zu diesen modernen Apparatschiks, die man mehr um ihrer Loyalität als um ihrer Kompetenz willen einstellt, gehörten ein Fernfahrer, der Cabana-Boy eines Country-Clubs und ein Volontär beim Republican National Committee. Der Fernfahrer bekam 80’000 Dollar im Jahr für die Förderung der amerikanischen Land­wirtschaft im Ausland. Was ihn dazu qualifizierte? Seine Erfahrung mit «Transport und Logistik landwirtschaftlicher Produkte».

4 – Ich brauche den Dunstkreis der Macht.
Ein weiterer Nutzen, der schwieriger zu messen ist, hält viele Leute davon ab, den Mund aufzumachen: die berauschende Erfahrung der Macht und der Glaube, dass die Nähe zu Mächtigen einem einen höheren Status verleiht. Auch das ist nichts Neues. James Thomson, ein amerikanischer Ostasien­spezialist, erklärte 1968 in einem Artikel für «The Atlantic» auf exzellente Weise die Funktions­weise der Macht innerhalb der US-Bürokratie während der Vietnam-Ära. Als man mit dem Krieg in Vietnam nicht vorankam, traten viele allein schon deshalb nicht zurück, meldeten sich allein schon deshalb nicht öffentlich zu Wort, weil ihnen die Bewahrung ihrer «Effektivität» – «eine mysteriöse Kombination aus Ausbildung, Stil und Verbindungen», wie Thomson sie definierte – zum übermächtigen Anliegen geworden war. Er nannte dies «Effektivitätsfalle»:

Diese Neigung, den Mund zu halten oder sich in Gegenwart grosser Männer zu fügen – zu überleben, um weiter­kämpfen zu können, in einer Sache nachzugeben, um später bei anderen «effektiv» sein zu können –, ist überwältigend. Und sie ist auch nicht nur eine Tendenz der Jugend; einige unserer höchsten Staats­diener, reiche und berühmte Männer, deren Platz in der Geschichte längst gesichert ist, schweigen, auf dass man ihnen ihre Verbindung zur Macht nicht kappt.

James Thomson, «How Could Vietnam Happen? An Autopsy».

In jeder Organisation, sei sie privat oder öffentlich, wird die Chefin die eine oder andere Entscheidung treffen, die ihren Unter­gebenen nicht gefällt. Werden jedoch ständig fundamentale Prinzipien verletzt, schieben Leute den Rücktritt ständig hinaus – nach der Devise «ich kann auch morgen noch Harakiri begehen» –, dann bleiben törichte politische Entscheidungen fataler­weise unangefochten stehen.

In anderen Ländern firmiert die Effektivitäts­falle unter anderen Namen. In seinem jüngst erschienenen Buch über den Putinismus – «Between Two Fires» – beschreibt Joshua Yaffa die russische Version dieses Syndroms. Das Russische, so schreibt er darin, habe mit приспособленец (prisposabljenetz) ein Wort, das einen Menschen bezeichnet, «der intuitiv versteht, was von ihm erwartet wird, und sein Glaubens­bekenntnis und Verhalten geschickt entsprechend anzupassen versteht».

In Putins Russland weiss jeder, der im Spiel bleiben – der Macht nahe bleiben, Einfluss behalten, Respekt gebieten – möchte, um die Notwendigkeit, ständig kleine Änderungen an seiner Sprache und seinem Verhalten vorzunehmen. Sie weiss, dass sie vorsichtig sein muss mit dem, was sie sagt und zu wem, und sie versteht, welche Art von Kritik akzeptabel ist und was einen Verstoss gegen die ungeschriebenen Regeln konstituiert. Wer gegen sie verstösst, wird – in der Regel – nicht im Gefängnis landen, Putins Russland ist nicht Stalins Sowjet­union, aber er muss dennoch mit etwas Schmerz­haftem rechnen: der Verbannung aus dem inneren Kreis.

All denen, die sie nie erfahren haben, ist die mystische Anziehungs­kraft dieser Nähe zur Macht, das Gefühl, eine Insiderin zu sein, schwer zu erklären. Trotzdem ist sie eine Realität und stark genug, um selbst die hochrangigsten, bekanntesten und einfluss­reichsten Persönlichkeiten Amerikas zu befallen.

John Bolton, Trumps ehemaliger nationaler Sicherheits­berater, nannte sein Buch «The Room Where It Happened», weil das natürlich der Raum war, in dem er immer sein wollte. Ein Freund, der in Washington öfters Lindsey Graham über den Weg läuft, erzählte mir, dass er bei jeder Begegnung ganz aufgeregt «damit angibt, sich gerade mit Trump getroffen zu haben» – wie der Nerd aus der Highschool, der kurz die Aufmerksamkeit des Quarter­backs erhascht hat. Diese Art von intensiver Freude wieder aufzugeben, ist nicht so einfach – und noch schwieriger lebt es sich ohne sie.

5 – LOL, es ist eh alles egal.
Zynismus, Nihilismus, Relativismus, Amoral, Ironie, Sarkasmus, Langeweile, Amüsement – all das sind Gründe für die Kollaboration, und das seit jeher. Marko Martin, ein in der DDR aufgewachsener Schrift­steller und Publizist, erzählte mir, dass es in der dortigen Boheme in den Achtziger­jahren eine Reihe von Leuten gegeben habe, die unter dem Einfluss damals angesagter französischer Intellektueller der Ansicht waren, dass es so etwas wie Moral oder Unmoral ebenso wenig gebe wie Gut und Böse, Richtig und Falsch – warum also nicht einfach kollaborieren?

Dieser Instinkt hat eine amerikanische Spielart. Hier kann es durchaus vorkommen, dass Politikerinnen, die ein Leben lang nach den Regeln spielen und auf die Wahl ihrer Worte achten, die ihre Sprache justieren und fromme Reden über Moral und Governance halten, eine heimliche Bewunderung für jemanden wie Trump hegen, der sich über alle diese Regeln hinwegsetzt und damit durchkommt. Er lügt. Er betrügt. Er erpresst. Er weigert sich, Mitleid, Sympathie oder Empathie zu zeigen. Er gibt noch nicht einmal vor, an etwas zu glauben oder sich an einen moralischen Code zu halten. Er simuliert Patriotismus mit Flaggen und Gesten, verhält sich aber nicht wie ein Patriot. Seine Kampagne hat sich 2016 alle Beine ausgerissen, um Hilfe aus Russland zu bekommen («Wenn Sie haben, was Sie sagen, liebe ich es», sagte Donald Trump Jr., als man ihm russische «schmutzige Wäsche» über Hillary Clinton anbot). Trump selbst hat Russen damit beauftragt, seine Gegnerin zu hacken.

Und für einige der Leute an der Spitze seiner Regierung – wie seiner Partei – haben diese Charakter­züge möglicher­weise, auch wenn sie es sich nicht eingestehen, eine starke Anziehungs­kraft. Wenn es so etwas wie moralisch und unmoralisch nicht gibt, dann sind implizit alle von der Notwendigkeit befreit, nach den Regeln zu spielen. Wenn der Präsident die Verfassung nicht respektiert, warum sollte ich es dann tun? Wenn der Präsident bei den Wahlen betrügen kann, warum nicht auch ich? Wenn der Präsident mit Porno­darstellerinnen ins Bett gehen kann, warum nicht auch ich?

Das war natürlich die Einsicht der «alternativen Rechten», die die finstere Anziehungs­kraft von Amoral, offenem Rassismus, Anti­semitismus und Misogynie lange vor vielen anderen Republikanern verstand. Der russische Philosoph und Literatur­kritiker Michail Bachtin erkannte die Verlockungen des Verbotenen bereits ein Jahr­hundert früher, als er über den starken Appeal des Karnevals schrieb, einen Raum, in dem alles Verbotene plötzlich erlaubt, wo Exzentrik gestattet ist, wo das Profane über die Gottheit obsiegt. Genau so ist die Regierung Trump: Nichts bedeutet etwas, Regeln spielen keine Rolle, und der Präsident ist der Karnevals­könig.

6 – Meine Seite mag Fehler haben, aber die Opposition ist schlimmer.
Als Marschall Philippe Pétain Chef des Vichy-Regimes wurde, das mit dem Deutschen Reich kollaborierte, tat er das im Namen der Wieder­herstellung des Frankreichs, das ihm verloren gegangen schien. Pétain war ein erbitterter Kritiker der französischen Republik gewesen, und nachdem er die Kontrolle übernommen hatte, ersetzte er deren berühmten Glaubens­satz «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» durch das Motto «Arbeit, Familie, Vaterland». Anstelle der «falschen Vorstellung von der natürlichen Gleichheit des Menschen» schlug er die Wieder­einsetzung der «gesellschaftlichen Hierarchie» vor – Ordnung, Tradition und Religion. Anstatt die Moderne zu akzeptieren, wollte Pétain die Uhr zurück­gedreht sehen.

In Pétains Kalkül war die Kollaboration mit den Deutschen nicht bloss eine peinliche, sondern eine kritische Notwendigkeit, ermöglichte sie doch den Patrioten, gegen die wahren Feinde vorzugehen: Parlamentarier, Sozialisten, Anarchisten, Juden und andere Linke und Demokraten, die seiner Ansicht nach die Nation zersetzten, sie ihrer Vitalität beraubten, ihr Wesen zerstörten. «Besser Hitler als Blum» hiess es damals Mitte der 1930er-Jahre in Anspielung auf Frankreichs sozialistischen – und jüdischen – Premier Léon Blum. Pierre Laval, einer von Pétains Ministern, brachte öffentlich die Hoffnung zum Ausdruck, Deutschland würde ganz Europa erobern. Anderenfalls, versicherte er, würde sich dort morgen schon der Bolschewismus durchsetzen.

Amerikanern dürfte diese Art der Rechtfertigung durchaus vertraut anmuten, bekommen wir sie doch seit 2016 in immer neuen Variationen zu hören. Immer wieder ist hier von der existenziellen Natur der Bedrohung durch «die Linke» die Rede. «Unsere gegenwärtige links­liberale Realität und künftige Richtung ist mit der menschlichen Natur nicht vereinbar», schrieb Michael Anton (unter seinem Pseudonym Publius Decius Mus) in seinem Artikel «The Flight 93 Election». Fox-News-Moderatorin Laura Ingraham sieht Amerika von «massiven demografischen Veränderungen» bedroht: «In einigen Teilen des Landes scheint es das Amerika, das wir kennen und lieben, nicht mehr zu geben.»

Es ist dies die Logik von Vichy. Die Nation ist tot oder liegt im Sterben – was jede Anstrengung rechtfertigt, sie wieder­herzustellen. Was immer sich Trump vorwerfen lässt, welchen Schaden auch immer er Demokratie und Rechts­staatlichkeit zugefügt haben mag, was immer seit seinem Einzug ins Weisse Haus an korrupten Deals über die Bühne gegangen ist – all das verblasst in ihren Augen im Vergleich zu der entsetzlichen Alternative von Liberalismus, Sozialismus, moralischer Dekadenz, demografischer Veränderung und kultureller Zersetzung, wie sie im Falle einer Präsidentschaft Hillary Clintons unvermeidlich gewesen wäre.

Die republikanischen Senatorinnen, die privat mit ihrem Abscheu vor Trump nicht hinterm Berg halten, sich aber im Februar dennoch gegen seine Amts­enthebung aussprachen, sind alle von der einen oder anderen Variation dieser Ansicht beseelt. (Trump ermöglicht ihnen, die Verfassungs­richter zu bekommen, nach denen ihnen ist, und diese Richterinnen werden ihnen beim Aufbau eines Amerikas nach ihren Vorstellungen behilflich sein.)

Dasselbe gilt für all die evangelikalen Pastoren, die eigentlich entsetzt sein sollten über Trumps persönliches Gebaren, aber stattdessen biblische Präzedenz­fälle für die gegenwärtige Situation ins Feld führen. Wie König David ist der Präsident ein Sünder, ein «missratener Topf», wie es in der Bibel heisst, der einer gefallenen Nation dennoch einen Weg zum Heil bieten kann.

Die drei wichtigsten Mitglieder von Trumps Kabinett – Vize Mike Pence, Aussen­minister Mike Pompeo und Justiz­minister William Barr – sind alle zutiefst geprägt von diesem apokalyptischen Denken à la Vichy. Alle drei sind gescheit genug, um zu verstehen, was es mit dem Trumpismus auf sich hat. Sie wissen sehr wohl, dass Trump nichts am Hut hat mit Gott oder Glauben und dass er eigennützig, habgierig und unpatriotisch ist. Trotzdem sagt mir ein ehemaliges Mitglied der Regierung (das im Gegensatz zu den meisten anderen tatsächlich seinen Hut nahm), dass sowohl Pence als auch Pompeo sich «in einem biblischen Augenblick» wähnen. Was immer ihnen am Herzen liege, sie sähen es bedroht: sei es das Verbot von Abtreibung und gleich­geschlechtlicher Ehe, sei es – auch wenn das keiner von ihnen öffentlich sagen würde – die Bewahrung der weissen Mehrheit in Amerika. Die Zeit wird knapp. Sie glauben tatsächlich, dass «wir uns dem Zeitpunkt der Entrückung nähern und dass wir uns in einem Augen­blick von tiefer religiöser Bedeutung befinden».

William Barr brachte darüber hinaus in einer Rede an der University of Notre Dame seine Überzeugung zum Ausdruck, «militante Säkularisten» seien dabei, Amerika zu zersetzen, und man nötige «Gläubigen Gottlosigkeit und säkulare Werte» auf. Was immer Donald Trump anrichten, was immer er beschädigen oder zerstören mag, er ermöglicht es Barr, Pence und Pompeo, Amerika vor einem weit schlimmeren Los zu bewahren. Wenn man davon überzeugt ist, in der Endzeit zu leben, dann kann man dem Präsidenten nachsehen, was auch immer er macht.

7 – Ich habe Angst, den Mund aufzumachen.
Angst ist selbstredend der wichtigste Grund, aus dem Bürgerinnen einer autoritären oder totalitären Gesellschaft nicht protestieren oder den Hut nehmen – selbst wenn das Staats­oberhaupt Verbrechen begeht, seine offizielle Ideologie verrät oder jemanden zu etwas zwingt, von dem der Betreffende weiss, es ist falsch.

In extremen Diktaturen wie dem Dritten Reich oder Stalins Russland müssen Menschen um ihr Leben fürchten. In weniger brutalen Fällen wie der DDR nach 1950 oder Putins heutigem Russland fürchten die Leute um den Arbeits­platz oder ihre Wohnung. Angst wirkt selbst dann noch motivierend, wenn die Gewalt eher in der Erinnerung als in der Realität existiert. Als ich in den Achtziger­jahren in Leningrad studierte, gab es tatsächlich noch Leute, die entsetzt einen Schritt zurück­traten, wenn ich sie mit meinem Akzent nach dem Weg fragte. Nicht dass man 1984 jemanden verhaftet hätte, nur weil er mit einem Ausländer sprach, aber dreissig Jahre zuvor wäre das durchaus denkbar gewesen, und das kulturelle Gedächtnis war noch aktiv.

Im Falle der Vereinigten Staaten ist Angst als Motiv kaum vorstellbar. Es gibt bei uns keine Massen­morde an Regime­gegnern; es hat so etwas hier nie gegeben. Die politische Opposition ist legal; Presse- und Rede­freiheit sind von der Verfassung garantiert. Und dennoch, selbst in einer der ältesten und stabilsten Demokratien der Welt bleibt Angst ein Motiv. «Die haben alle Angst», meinte der ehemalige Regierungs­angehörige, von dem ich über die Bedeutung des apokalyptischen Christentums in Trumps Washington weiss.

Nicht dass sie Angst vor der Inhaftierung hätten, sagte er, nein, sie hätten Angst, von Trump auf Twitter angegriffen zu werden. Sie hätten Angst davor, von Trump einen Spitz­namen zu bekommen; sie hätten Angst davor, sich – wie Mitt Romney – verspotten zu lassen, sich zu blamieren; sie hätten Angst vor dem Ausschluss aus ihrem sozialen Umfeld, Angst davor, nicht mehr auf Partys eingeladen zu werden; und sie hätten Angst, dass ihre Freundinnen und Anhänger, vor allem aber ihre Geld­geber, sie fallen lassen.

John Bolton hat seine eigene starke Lobby­gruppe hinter sich und jede Menge Pläne für deren Einsatz­möglichkeiten; wen wundert es da, dass er nicht gegen Trump aussagen will. Paul Ryan, der ehemalige Sprecher des Repräsentanten­hauses, ist nur einer von Dutzenden von republikanischen Abgeordneten, die den Kongress seit Trumps Amts­antritt verlassen haben – selten ist die Fluktuation unter Parlamentarierinnen so hoch gewesen wie unter dieser Regierung. Sie gingen, weil sie nicht mitansehen konnten, was er mit ihrer Partei macht, mit ihrem Land. Und dennoch, selbst nach ihrem Ausscheiden aus dem Kongress hat bislang keiner den Mund aufgemacht.

Sie haben Angst, scheinen aber nicht zu sehen, dass sie damit nicht die Ersten sind, dass es Präzedenz­fälle gibt oder dass ihre Angst Konsequenzen haben könnte. Ihnen ist nicht klar, dass ähnliche Wellen von Angst dazu beigetragen haben, aus Demokratien Diktaturen zu machen. Sie scheinen nicht zu sehen, dass der amerikanische Senat tatsächlich zur russischen Duma oder zum ungarischen Parlament werden könnte, zu einem Gremium hochgestellter Männer und Frauen, die ohne Macht und Einfluss in einem eleganten Gebäude herumsitzen. Wir sind dieser Realität bereits näher, als so mancher sich das je hätte vorstellen können.

Den Preis für die Feigheit bei der möglichen Amts­enthebung von Trump bezahlt die amerikanische Gesellschaft mit den verheerenden Folgen der Corona-Krise

Im Februar begründeten zahlreiche Republikaner aus Parteispitze, Senat und Regierung mit dem einen oder anderen dieser Argumente ihr Nein gegen die Amts­enthebung. Allen lagen die Beweise dafür vor, dass Trump bei seinen Geschäften mit dem Präsidenten der Ukraine zu weit gegangen war. Alle wussten sie, dass er versucht hatte, Instrumente amerikanischer Aussen­politik wie etwa die Finanz­hilfe für das dortige Militär als Druck­mittel einzusetzen, um das Oberhaupt eines anderen Staates zu Ermittlungen gegen einen politischen Gegner im eigenen Land zu zwingen.

Und dennoch nahmen republikanische Senatorinnen, allen voran Mitch McConnell, die Vorwürfe auch nicht einen Augenblick ernst. Als die Führungs­riege der Demokraten im Repräsentanten­haus ihre Vorwürfe vorbrachte, mokierten sie sich über sie; die Beweise dafür wollten sie erst gar nicht sehen. Mit Ausnahme von Romney stimmten sie alle für die Einstellung der Ermittlungen. Sie nutzten mit anderen Worten die Gelegenheit nicht, das Land von einem Präsidenten zu befreien, dessen korruptes, auf autoritäre Ansätze, Eigennutz und die Geschäfts­interessen seiner Familie gebautes operatives Werte­system allem zuwiderläuft, was die meisten von ihnen zumindest nach aussen hin propagieren.

Nur einen Monat später, im März, traten die Konsequenzen dieser Entscheidung zutage. Als sich die USA zusammen mit dem Rest der Welt durch das Corona­virus in die Krise gestürzt sahen, war der von seinem auf sich selbst bezogenen, selbst­kontrahierenden Narzissmus – seiner einzigen wirklichen «Ideologie» – angerichtete Schaden schliesslich deutlich zu sehen. Die chaotische Art seiner landes­weiten Reaktion auf das Virus ist von historischer Einmaligkeit. Das Verschwinden der Bundes­regierung erfolgte weder in Form einer geplanten Übertragung der Macht auf die einzelnen Staaten, wie der eine oder andere behauptete, noch infolge einer durchdachten Entscheidung, sich dazu privat­wirtschaftlicher Kompetenz zu bedienen. Sie war vielmehr das unvermeidliche Resultat einer dreijährigen Attacke auf Professionalismus, Loyalität, Kompetenz und Patriotismus. Mehr als hundert­tausend sind gestorben, die Wirtschaft ist ruiniert.

Dieses Desaster war vermeidbar. Hätte der Senat den Präsidenten einen Monat zuvor per Impeachment aus dem Amt entfernt; hätte das Kabinett sich in dem Augenblick, in dem seine Unfähigkeit sich offenbarte, auf den 25. Verfassungs­zusatz berufen; hätten die Regierungs­mitglieder, die sich – anonym oder inoffiziell – zu Trumps Inkompetenz äusserten, die Öffentlichkeit gemeinsam gewarnt; wäre es ihnen nicht stattdessen einzig darum gegangen, sich ihre Nähe zur Macht zu bewahren; hätten Senatorinnen nicht solche Angst vor ihren Geld­gebern gehabt; hätten Pence, Pompeo und Barr nicht geglaubt, in diesem «biblischen Augenblick» eine von Gott zugewiesene Rolle zu spielen – wäre auch nur etwas davon anders gelaufen, es hätten sich womöglich Tausende von Todes­fällen und ein wirtschaftliches Desaster von historischem Ausmass vermeiden lassen.

Für diese Kollaboration haben die USA schon jetzt einen ausser­gewöhnlich hohen Preis bezahlt. Und dennoch setzt man sie wie in der Vergangenheit in vielen besetzten Ländern fort. Zunächst akzeptierten Trumps Zuhelfer seine absurden Lügen hinsichtlich seiner Amts­einsetzung; jetzt akzeptieren sie eine menschliche Tragödie und den Verlust der amerikanischen Führungs­position in der Welt.

Und es könnte noch schlimmer kommen. Werden sie im November einen Angriff auf das Wahl­system tolerieren, wenn nicht gar aktiv unterstützen: offene Anstrengungen zum Verbot der Briefwahl, die Schliessung von Wahl­lokalen, das Schüren von Ängsten vor dem Urnen­gang bei den Wählern? Müssen diese mit gewalt­tätigen Übergriffen rechnen, wenn die Follower des Präsidenten in den sozialen Medien zur Gewalt gegen Wahlhelfer aufrufen?

Jede Verletzung unserer Verfassung und unseres bürgerlichen Friedens wird absorbiert, rationalisiert und akzeptiert – und das von Leuten, die früher nun wirklich gescheiter waren. Falls Trump in einer der vermutlich hässlichsten Wahlen der amerikanischen Geschichte eine zweite Amts­zeit gewinnt, werden diese Leute noch weit Schlimmeres akzeptieren. Es sei denn, sie entscheiden sich bewusst dagegen.

So, wie man sich der Unmoral anpassen kann, lässt sich Dissidententum erlernen. Langsam, mit vielen kleinen Entscheidungen. Plötzlich ist die andere Seite erreicht. Die Geschichten von Fiona Hill und Alexander Vindman

Marianne Birthler hielt eine Unterhaltung über Kollaboration in der DDR schon deshalb für uninteressant, weil dort jede kollaborierte. Also sprach ich sie auf das Dissidenten­tum an: Wenn alle unsere Freunde, die Lehrerinnen, alle unsere Arbeit­geber geschlossen hinter dem System stehen, woher soll da der Mut zur Opposition kommen? Birthler vermied in ihrer Antwort bewusst das Wort «Mut». So wie man sich der Korruption oder der Unmoral anpassen kann, sagte sie mir, kann man auch langsam lernen, Einwände zu erheben. Die Entscheidung, zur Dissidentin zu werden, könne sehr gut das Resultat einer «Reihe von kleinen Entscheidungen sein, die man trifft» – zum Beispiel nicht zur Mai-Parade zu gehen oder den Text des Lieds der Partei nicht zu singen. Und eines Tages dann finde man sich unweigerlich auf der anderen Seite. Nicht selten seien dabei Vorbilder mit im Spiel. Man sehe Menschen, die man bewundere, und möchte sein wie sie. Das könne durchaus von «Eigennutz» motiviert sein. «Man möchte etwas für sich selbst tun», sagte Birthler, «um sich zu respektieren.»

Manchen wird das Ringen mit dieser Entscheidung durch die Erziehung erleichtert. Die Eltern des Schrift­stellers Marko Martin etwa hegten eine tiefe Abneigung gegen das DDR-Regime, die sich auf ihn übertrug. Sein Vater war Kriegs­dienst­verweigerer, also wurde auch er einer. Schon seine Urgross­eltern in der Weimarer Republik hätten zur anti­kommunistischen «anarcho­syndikalistischen» Linken gehört. Er hatte Zugang zu ihren Büchern. In den Achtziger­jahren weigerte er sich, der Freien Deutschen Jugend beizutreten, sodass ihm der Weg zum Studium verwehrt blieb. So trat er denn, nachdem er die Metzger­lehre verweigert hatte, eine Lehre als Elektriker an. Eines Tages nahm ihn einer der anderen Lehrlinge beiseite und liess ihn durch die Blume wissen, die Stasi sammle Informationen über ihn: «Du brauchst mir nicht alles zu sagen, was dich bewegt.» Man erlaubte ihm schliesslich im Mai 1989 die Ausreise, nur wenige Monate vor dem Mauerfall.

Auch in den USA leben Birthlers und Martins, Menschen, denen zu Hause Respekt vor der Verfassung beigebracht wurde, die auf die Herrschaft des Rechts vertrauen, die an die Bedeutung eines uneigen­nützigen Dienstes an der Öffentlichkeit glauben, die sich an Werte und Vorbilder ausserhalb der Welt der Regierung Trump halten.

Im Verlauf des letzten Jahres haben viele dieser Menschen den Mut gefunden, sich öffentlich zu ihrem Glauben zu stellen. Einige wenige sahen sich dadurch plötzlich im Rampen­licht. Fiona Hill zum Beispiel, die personifizierte Erfolgs­geschichte einer Einwanderin und eine wahre Gläubige, was die amerikanische Verfassung angeht, hatte keine Angst, bei den Impeachment-Hearings des Repräsentanten­hauses auszusagen. Sie fürchtete sich auch nicht, Republikanern Paroli zu bieten, die eine Falsch­meldung über eine Einmischung der Ukraine in die Wahl von 2016 zu verbreiten versuchten. «Es handelt sich hier um ein fiktives Narrativ, das von den russischen Nachrichten­diensten in die Welt gesetzt und verbreitet wurde», sagte sie bei ihrer Aussage vor dem Kongress. «Die traurige Wahrheit ist: Russland war die ausländische Macht, die 2016 systematisch unsere demokratischen Einrichtungen attackierte.»

Lieutenant Colonel Alexander Vindman ist ebenfalls ein erfolgreicher Einwanderer, der tatsächlich an die amerikanische Verfassung glaubt. Auch er fand den Mut, Trumps vorschrifts­widriges Telefonat mit seinem ukrainischen Gegenüber zu melden, das Vindman als Angehöriger des Nationalen Sicherheits­rates mitgehört hatte. Und er meldete es nicht nur, er ging damit an die Öffentlichkeit. In seiner Aussage hob er ausdrücklich die Werte von Amerikas politischem System hervor, die so ganz anders seien als die des Landes, in dem er geboren ist. «In Russland», so sagte er, «würde mich die öffentliche Zeugen­aussage gegen den Präsidenten sicher das Leben kosten.» Aber als «amerikanischer Bürger und Staatsdiener … kann ich frei von Angst um meine und die Sicherheit meiner Familie leben».

Einige Tage nach der Abstimmung über die Amts­enthebung wurde Vindman von der Eskorte eines rach­süchtigen Präsidenten aus dem Weissen Haus geführt. Eines Präsidenten, der Vindmans Loblied auf den Patriotismus so gar nichts abgewinnen konnte. Im Gegensatz offensichtlich zum ehemaligen Stabs­chef des Präsidenten, John Kelly, einem General a. D. des Marine Corps. Vindmans Verhalten, so sagte Kelly einige Tag darauf in einer Rede, sei «genau das gewesen, was wir ihnen von der Wiege bis ins Grab beibringen. Er ging mit dem, was er gehört hatte, zu seinem Chef.»

Aber sowohl Fiona Hill als auch Alexander Vindman hatten einige wichtige Vorteile auf ihrer Seite. Keine von ihnen hatte sich Wählerinnen oder Geld­gebern gegenüber zu verantworten. Beide sind sie nicht aus der ersten Riege der Republikaner. Was bräuchte es wohl im Gegensatz dazu bei Pence oder Pompeo, um zum Schluss zu kommen, ihr Präsident trage die Verantwortung für die katastrophale Gesundheits- und Wirtschafts­krise? Was bräuchte es bei den Republikanerinnen im Senat, sich einzugestehen, dass Trumps Loyalitäts­kult das Land zerstört, das sie zu lieben behaupten? Was bräuchte es im Falle ihrer Berater und Unter­gebenen, um zum Schluss zu kommen, den Hut zu nehmen und gegen den Präsidenten ins Feld zu ziehen? Was, mit anderen Worten, bräuchte es wohl im Falle eines Lindsey Graham, sich wie Wolfgang Leonhard zu verhalten?

Wenn der Historiker Stanley Hoffmann schrieb, angesichts der zahlreichen Erscheinungs­formen des Phänomens müsse man von «Kollaborationismen» sprechen, gilt das auch für die Dissidenz, sodass von «Dissidenzen» zu sprechen wohl treffender wäre. Hinter einem plötzlichen Meinungs­umschwung kann eine intellektuelle Offenbarung stehen wie die von Wolfgang Leonhard beim Betreten des noblen Speise­saals für die Nomen­klatura mit seinen weiss gedeckten Tischen und den 3-Gänge-Menüs.

Es können jedoch auch externe Ereignisse wie eine jähe politische Veränderung überzeugen. So war es mit die Erkenntnis, dass das Regime seine Legitimität verloren habe, was Harald Jäger, einen gesichtslosen und bis zu diesem Augen­blick absolut linien­treuen ostdeutschen Grenz­beamten, dazu brachte, am Abend des 9. November 1989 den Schlagbaum zu öffnen und seine Mitbürger nach Westberlin ausreisen zu lassen – eine Entscheidung, die im Lauf der nächsten Tage und Monate zum Ende der DDR führen sollte. Jägers Entscheidung war nicht geplant, sie war eine reine Reaktion auf die Unerschrockenheit der Menge. «Ihr Wille war so gross», sagte er Jahre später über die Leute, die nach Westberlin gehen wollten, «es gab keine andere Alternative, als die Grenze zu öffnen.»

Wann werden die Mitläufer ihre Beihilfe erkennen, den Weg Amerikas hin zum historischen Tiefst­stand geebnet zu haben, in ein politisches Chaos von einem Ausmass wie seit den Jahren vor dem Bürger­krieg nicht mehr?

Doch all das ist eng miteinander verwoben und nicht leicht zu entwirren. Das Persönliche, Politische, Intellektuelle und das Historische vermengen sich bei jeder auf unterschiedliche Art, und das Resultat kann unberechenbar sein. Leonhards plötzliche «Offenbarung» mochte sich über Jahre hinweg aufgebaut haben, womöglich schon seit der Verhaftung seiner Mutter. Jäger war an jenem Abend im November bewegt von der Grösse des historischen Augen­blicks, sorgte sich aber auch um Bagatellen: Er ärgerte sich über seinen Vorgesetzten, der ihm keine Anweisungen gegeben hatte, was zu tun war.

Könnte eine ähnliche Kombination von Bagatelle und Politikum irgendwann auch Lindsey Graham zum Bewusstsein bringen, dass er Beihilfe leistet, sein Land in eine Sack­gasse zu führen? Vielleicht könnte ihn eine persönliche Erfahrung bewegen, ein Stups von jemandem, der für seine alten Wert­vorstellungen steht – ein Kamerad von der Air Force vielleicht, oder eine Freundin aus seiner Heimat­stadt.

Vielleicht bedarf es dazu aber auch eines politischen Massen­ereignisses: Wenn die Wählerschaft umzudenken beginnt, zieht Graham dann vielleicht mit demselben Argument wie Jäger mit: «Ihr Wille war so gross … es gab keine Alternative.» Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem sich das Kalkül des Konformismus zu ändern beginnt. Es wird irgendwann so peinlich wie unbequem werden, zu «Trump first» zu stehen, zumal die Amerikaner unter der schlimmsten Rezession seit Menschen­gedenken leiden und in höheren Zahlen an Corona sterben als in vielen anderen Ländern der Welt.

Oder vielleicht ist auch das einzige Gegenmittel die Zeit. Zu gegebener Zeit werden Historikerinnen die Geschichte unserer Ära schreiben und ihre Lehren daraus ziehen, so wie heute die Geschichte der Dreissiger- oder Vierziger­jahre des 20. Jahr­hunderts geschrieben wird. Die Miłoszs und Hoffmanns der Zukunft werden ihre Urteile mit der Klarheit der nach­träglichen Einsicht fällen. Sie werden – klarer als wir heute – den Weg Amerikas hin zum historischen Tiefst­stand seines politischen Einflusses in der Welt erkennen, den Weg in die ökonomische Katastrophe, in ein politisches Chaos von einem Ausmass wie seit den Jahren vor dem Bürger­krieg nicht mehr. Dann werden vielleicht Graham, Pence, Pompeo, McConnell und die vielen anderen in unter­geordneten Chargen verstehen, wozu sie Beihilfe geleistet haben.

In der Zwischenzeit sei jeder, die im Augenblick das Pech haben sollte, im öffentlichen Leben zu stehen, noch ein Gedanke von Władysław Bartoszewski mit auf den Weg gegeben. Er gehörte während des Zweiten Weltkriegs dem polnischen Unter­grund an und wurde sowohl von den Nazis als auch von Stalinisten inhaftiert, um schliesslich Aussen­minister zweier demokratischer polnischer Regierungen zu werden. Im fortgeschrittenen Alter – er wurde 93 – brachte er die Philosophie auf den Punkt, die all die turbulenten politischen Veränderungen hindurch sein Leitstern gewesen war. Weder Idealismus noch grosse Ideen hätten ihn getrieben, sagte er, sondern die schlichte Devise «warto być przyzwoitym» – versuch einfach, anständig zu sein.

Ob man anständig gewesen sei – daran werde man sich erinnern.

Zur Autorin

Anne Applebaum ist mehrfach ausgezeichnete Journalistin und Historikerin polnisch-jüdischer Herkunft. Die 55-Jährige ist mit dem ehemaligen polnischen Aussenminister Radosław Sikorski verheiratet und lebt seit 2006 in Polen. Sie besitzt neben der amerikanischen auch die polnische Staats­angehörigkeit. Dieser Beitrag erschien im Original unter dem Titel «History Will Judge the Complicit» in der aktuellen Juli-/August-Nummer des Magazins «The Atlantic».