Rave on Corona!
Die Schweizer Behörden versagen auf breiter Front. Es war voraussehbar, dass die zweite Welle kommt. Gehandelt wurde nicht.
Von Daniel Binswanger, 04.07.2020
Regieren heisst vorausschauen: Leider impliziert dieses viel zitierte Bonmot, dass die Schweiz momentan nur bedingt als Land mit einer Regierung zu bezeichnen ist. Die Behörden vermitteln immer weniger den Eindruck, eine Gesamtstrategie zu verfolgen, die antizipiert, was auf uns zukommt. Stattdessen sichern sich die Entscheidungsträger behutsam gegen politische Risiken ab, reichen Verantwortung weiter wie eine heisse Kartoffel und ringen sich genau dann zum Handeln durch, wenn ihnen die Fallzahlen keine andere Wahl mehr lassen.
Warum haben wir dreieinhalb Monate nach der Erklärung der ausserordentlichen Lage keine schweizweite, zuverlässige, über solide Kapazitätsreserven verfügende Contact-Tracing-Infrastruktur? Hiess es offiziell nicht, dass schon auf die ersten Lockerungen vom 27. April hin das Contact-Tracing stehen müsse?
Warum erklärt sich der Bund am Montag für das Maskenobligatorium gar nicht zuständig, beschliesst es am Mittwoch plötzlich doch und wartet dann geschlagene fünf Tage, bis es in Kraft treten soll?
Warum werden Corona-Hotspot-Clubs nicht geschlossen? Bevor man sich mit einem potenten Branchenverband anlegt, beschwört man offenbar lieber noch ein letztes Mal die «Eigenverantwortung der Bevölkerung». Oder wie Natalie Rickli – als Gesundheitsdirektorin des bevölkerungsreichsten Kantons heute theoretisch die wichtigste Verantwortungsträgerin im Kampf gegen die tödliche Pandemie – voll Freude über die tolle Formulierung es am Mittwoch verkündete: «Let’s rave on safe!»
Im Hinblick auf die wirtschaftspolitischen Massnahmen zur Abfederung der Covid-19-Krise hat der Bundesrat am Mittwoch zwar einen durchaus vorausschauenden Entschluss gefasst und die maximale Kurzarbeitsdauer von 12 auf 18 Monate erhöht. Bis September 2021 können im Lockdown begonnene Kurzarbeitsverhältnisse nun weitergeführt werden.
Was jedoch die epidemiologische Containment-Strategie betrifft, sind die Schweizer Behörden zu vorausschauendem, stringentem Handeln in verblüffendem Masse unfähig geworden. Es macht sich allmählich der Eindruck eines Systemversagens breit.
Immerhin ist das Maskenobligatorium vom Bund nun doch noch beschlossen worden. Besser spät als nie. Angesichts des Schreckens erneut in den dreistelligen Bereich hochgeschossener Ansteckungszahlen wird nun eine Massnahme ergriffen, welche die wissenschaftliche Covid-Taskforce des Bundesrates schon seit April angemahnt hat. Matthias Egger – der Leiter eben jener Taskforce und in letzter Zeit einer der wenigen Corona-Zuständigen in der Schweizer Öffentlichkeit, die so etwas wie staatsmännisches Rückgrat an den Tag legten – hat zudem durch sich häufende, zunehmend unzweideutige Medienplädoyers für Masken den Druck auf die Regierung zu erhöhen begonnen. Die bange Frage ist allerdings, weshalb die klar identifizierten Infektionsherde – Clubs und vollbepackte Bars – nicht wieder geschlossen werden. Volkswirtschaftlich sind sie nicht matchentscheidend. Epidemiologisch offensichtlich schon.
In der ersten akuten Phase der Epidemie galt es die Kurve abzuflachen – was die Schweiz mit Bravour zustande gebracht hat. Heute käme es darauf an, so weit als möglich der Kurve voraus zu sein, das heisst, klug kalibrierte Strategien zu implementieren, bevor die Fallzahlen signifikant nach oben gehen. Es käme darauf an, alle Massnahmen, die geringe wirtschaftliche Kosten und einen erwiesenen epidemiologischen Nutzen haben, ohne langes Fackeln umzusetzen; und diejenigen Lockerungen, die wirtschaftlich notwendig sind, zügig voranzutreiben, bei Rückschlägen aber schnell und entschlossen eine Anpassung vorzunehmen. Davon ist nicht mehr viel zu spüren.
Wenn es unausweichlich geworden ist, werden die Landesregierung oder die Kantone zwar sicherlich weitergehende Beschlüsse fassen, aber es wird wohl nicht geschehen, bevor, sondern erst, nachdem sich die Lage noch einmal massiv verschlechtert hat. Nach heutigem Kenntnisstand finden die Superspreader-Events nicht in der S-Bahn, sondern auf der Tanzfläche statt.
Warum also setzt man jetzt nur beim ÖV an und werden die Clubs nicht wenigstens teilweise geschlossen? Warum überdenkt man nicht noch einmal die Versammlungsgrösse von maximal 300 Personen? Die Antwort muss man nicht allzu weit suchen: Die Massnahmen wären unpopulär, die Widerstände wären grösser, das politische Risiko wäre höher. Da der Wille, sich zu exponieren, rapide abgenommen hat, sind die Schweizer Behörden mittlerweile erst dann beschlussfähig, wenn es spät, extrem spät ist.
Häufig wird behauptet, das föderalistische Gerangel zwischen Bund und Kantonen sei für das Führungsvakuum verantwortlich. Auch andere föderalistische Länder haben ja ihre Probleme: Trump versucht sich feige aus der Verantwortung zu stehlen, indem er das Krisenmanagement vollständig den Bundesstaaten aufhalst. Merkel prallt teilweise heftig mit den Bundesländern zusammen, die auf ihrer Zuständigkeit beharren. In den USA führt der Föderalismus in der Pandemie zu Fahnenflucht, in der Bundesrepublik zu übereifrigem Kompetenzgerangel. Die Schweizer Politik scheint tendenziell leider den amerikanischen Weg zu gehen.
Natürlich haben auch die Medien ihren Anteil an diesem tristen Politikversagen. Noch am 31. Mai forderte Tamedia-Chefredaktor Arthur Rutishauser in der «SonntagsZeitung», man müsse Ideen entwickeln in Bern, «wie man den Lockdown aus den Köpfen bringt», und dringend nötig sei «ein Rückzug des Bundesrates aus dem Alltagsleben», ja ein «Shutdown der Regierung». Nicht einmal einen Monat später hiess es dann ganz plötzlich: «Warum der Bundesrat nicht auf die Experten hört und immer sehr spät reagiert, ist unbegreiflich.» Der abrupte Gesinnungswandel des mächtigsten Chefredaktors im Land ist extrem erfreulich. Ob ihm wenigstens begreiflich ist, dass er selber zur fatalen Paralyse der politischen Verantwortungsträger einen massiven Beitrag geleistet hat?
Wie geht es weiter? Unter den Epidemiologen scheint ein weitgehender Konsens zu bestehen, dass die ÖV-Masken zwar notwendig, aber nicht ausreichend sind, um die Fallzahlen auf dem aktuellen Niveau von über 100 zu stabilisieren. Sehr wahrscheinlich werden sie also weiter steigen – bis die Politik erneut der Kurve hinterheragieren, die Maskenpflicht ausdehnen, die Club-Frage überdenken und noch weitere Massnahmen ergreifen wird. Wie hoch müssen die täglichen Fälle gehen, bevor das geschehen kann? 300? 500? 1000?
Die Tragödie ist, dass es extrem anspruchsvoll werden wird, von einem einmal erreichten Fallzahlen-Plateau ohne einen strikten Lockdown wieder herunterzukommen. Machen wir mal eine optimistische Prognose: Sagen wir, es wird unter grossen Anstrengungen gelingen, die Zahlen bei 200 Ansteckungen zu stabilisieren und die Reproduktionszahl wieder in den Bereich von 1 zu bringen. Dann werden wir über längere Zeit jeden Tag um die 200 zusätzliche Fälle haben. Anfang Juni waren es etwa 15 Fälle pro Tag. Das heisst, man hätte mit denselben Massnahmen, die nun kommen werden, Anfang Juni die Situation bei 15 statt Hunderten täglichen Neuansteckungen halten können. Mit etwas Voraussicht hätten wir erneute wirtschaftliche Schäden und nicht wenige Hospitalisationen und Todesopfer vermeiden können.
Aber eben: mit etwas Voraussicht. Es hätte schon jemand regieren müssen.
Illustration: Alex Solman
In einer früheren Version haben wir Nathalie statt Natalie Rickli geschrieben. Wir entschuldigen uns für den Fehler.