BOOMBAYAH, oder: Warum wir es uns nicht mehr erlauben können, von K-Pop keine Ahnung zu haben
Dürfen wir vorstellen? Die mächtigste Fanszene der Welt.
Von Ronja Beck, 03.07.2020
Was erwarten Sie zu sehen, wenn Sie jetzt auf Twitter oder einem sozialen Netzwerk Ihrer Wahl «White Lives Matter» – einen von Rassisten verwendeten Slogan – in die Suchleiste tippen? Sinngemäss wahrscheinlich: rassistischen Dreck.
Dann kennen Sie die mächtigste Fanszene der Welt nicht.
Anfang Juni starteten K-Pop-Fans – also Liebhaberinnen von südkoreanischer Popmusik – eine ungewöhnliche Aktion. Unter dem rassistischen Hashtag #WhiteLivesMatter posteten sie Fotos oder Tanzaufnahmen, sogenannte Fancams, ihrer südkoreanischen Stars. Sie posteten und posteten und posteten, sie schwemmten. Bis alles Diskriminierende oder strafrechtlich Relevante in einer Flut aus zuckersüssen Popstars ertrank.
Das Ganze war eine Aktion der Solidarisierung mit der Bürgerrechtsbewegung Black Lives Matter. Und es war der Beweis, dass die globale Liebesbeziehung mit der Popkultur in Südkorea keinen besseren Titel tragen könnte: Hallyu, zu Deutsch: die koreanische Welle.
Diese Welle riss dieses Jahr unter anderem ein Stück von Präsident Donald Trumps Stolz mit sich, als K-Pop-Fans wie wild Tickets für seine Wahlkampf-Rally in Oklahoma bestellten – und dann, wie sich deutlich zeigte, nicht erschienen. Die Welle überflutete eine App der Polizei in Dallas, die damit Demonstrierende hatte identifizieren wollen, mit Fancam-Videos. Und die Welle spülte eine Million Dollar in die Kassen von Black Lives Matter – in 24 Stunden.
Entsteht hier gerade eine ernst zu nehmende politische Macht, von der wir nichts ahnten?
Die Republik hat mit Menschen gesprochen, die sich intensiv mit dem Phänomen K-Pop auseinandersetzen – sei es als Wissenschaftler oder als Fan. Ihre Schilderungen zeigen, wieso diese Aktionen erwartbar waren – und trotzdem spektakulär. Und warum es sich lohnt, ein kleines bisschen über das Phänomen K-Pop Bescheid zu wissen.
Fangen wir beim Grundsätzlichen an: Was ist K-Pop?
Eine Spotify-Playlist zu K-Pop
Die passenden Songs zum Beitrag finden Sie hier bei Spotify, zusammengestellt von der Autorin.
In erster Linie ist es Popmusik – meist auf Koreanisch, meist von Hip-Hop durchzogen, meist von grossen Frauen- oder Männergruppen gesungen, die meist sehr gut aussehen. Im weiteren Sinn – und dieser ist der viel wichtigere – ist K-Pop ein vom südkoreanischen Staat gepushtes Milliardengeschäft.
100 Millionen Fans soll diese Industrie 2019 weltweit generiert haben, meldet die staatliche Korea Foundation – und zählte dabei nur die, die einem Fanclub angehören. Über Youtube und die sozialen Netzwerke hüpfte K-Pop aus Südkorea nach der Jahrtausendwende um den ganzen Globus. In den 2010ern hatten die ersten K-Pop-Gruppen Auftritte in US-amerikanischen Stadien und Late-Night-Shows – sie sangen zur Primetime koreanische Lieder, das war wegweisend. Das kuriose «Gangnam Style» von Psy erschien 2012 und war bis 2014 das weltweit meistgeklickte Musikvideo. Kooperationen der Gruppen mit US-Stars wie Nicki Minaj und Steve Aoki temperierten die Musik für den westlichen Markt.
Und die Boyband BTS brachte K-Pop vollends in den Mainstream. Die sieben BTS-Jungs allein generierten im Jahr 2018 Einnahmen in Höhe von 4,65 Milliarden US-Dollar. Das waren 0,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts von Südkorea.
How You Like That
Die K-Pop-Fanszene ist nur schwer fassbar, sie ist diffus und versteckt sich häufig hinter anonymen Social-Media-Accounts. Sie zeigt sich dann, wenn auf Twitter Namen der Idole oder Songtitel trenden. Oder wenn ein neues Musikvideo auf Youtube Rekorde bricht – wie erst diese Woche das neueste Video der Frauengruppe Blackpink. Oder wenn 2018 die Boyband BTS aufs Cover des «Time»-Magazins gevotet wird.
Dass die «Time»-Redaktion stattdessen den ermordeten Journalisten Jamal Khashoggi zur «Person des Jahres» kürte, ist nachvollziehbar, aber auch bezeichnend. Die fremde Subkultur drückte in heftigen Schüben an die Oberfläche. Das wurde den Boomern etwas unheimlich.
Richtig ernst wurde es, als das BOK Center in Tulsa, Oklahoma, am 20. Juni erstaunlich leer war. Tausende K-Pop-Fans und Nutzerinnen der Videoplattform Tiktok machten gemeinsame Sache und registrierten sich mit gefälschten Kontaktangaben für den Anlass, ohne die Absicht, je bei der Rally aufzukreuzen. Trumps Kampagnenteam wollte den Coup nicht gelten lassen. Man habe «Zehntausende falsche Telefonnummern» vor dem Anlass erkannt und ausgesondert, beteuerte Kampagnenchef Brad Parscale.
Ganz genau werden wir nie wissen, wie gross die Rolle der K-Pop-Fans in der Pleite von Tulsa war. Aber sie spielten eine. Da war also diese Masse, die plötzlich in der Politik mitmischte, drei Monate vor den US-Wahlen, und die Welt fragt sich: Was hatte das alles zu bedeuten?
«Mein erster Gedanke, als ich die Aktion mitbekommen hab, war: Don’t mess with K-Pop fans», sagt der 20-jährige Chen Wild, Lackierer aus Baden und K-Pop-Fan seit 2013. «Die Leute unterschätzen uns. Sie denken, wir sind naive Teenies. Dabei haben wir eine grosse Macht. Wenn wir etwas erreichen wollen, dann erreichen wir das.»
Was nach Superheldenfilm tönt, ist erstaunlich wahrheitsgetreu. Massenaktionen, wie sie sich in den letzten Monaten in den USA prominent abgespielt haben, sind für K-Pop-Fans nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil: In der südkoreanischen Popindustrie mit immer mehr konkurrenzierenden Bands ist kollektiver Aktivismus ein fest verankerter, meist matchentscheidender Bestandteil.
Er zeigt sich auf Youtube, bei Streamingdiensten und in den sozialen Netzwerken. Besonders auf Twitter sind die Fangruppierungen der Bands, auch Fandoms genannt, zu einem mächtigen Kollektiv angewachsen, das die Algorithmen perfekt für sich zu nutzen weiss. Grosse Fanaccounts geben Hashtags vor, die genutzt werden sollen, um ein neues Album oder Musikvideo einer Band zu promoten. Die Fans leisten treu Folge: Praktisch täglich ist unter den zehn grössten weltweiten Trends auf Twitter irgendwas, das mit K-Pop zu tun hat. Diese Sichtbarkeit ist, in Anbetracht der ganzen Twitter-Community, immens. Und für die Musiklabels ist sie Gold wert.
Auf Twitter wird im Akkord gepostet, auf Youtube nonstop gestreamt. Fans veröffentlichen Texte oder Videos, die erklären, wie man die Viewerzahlen am schnellsten in die Höhe treibt: nicht auf Pause drücken, nicht auf lautlos stellen, kein Auto-Repeat, sonst checkt der Algorithmus, was du da tust. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn Fans die Videos tagelang ohne Unterbrechung auf ihren Computern abspielen. Mit Erfolg: Seit mehreren Jahren brechen K-Pop-Gruppen einen Youtube-Rekord nach dem nächsten. Zwei Videos, von BTS und Blackpink, sind unter den zehn meistgeschauten Musikvideos des vergangenen Jahres. Unter den zehn Videos, die am häufigsten gelikt wurden, sind drei südkoreanische Produktionen.
Im K-Pop gibt es keinen Platz für Zufälle. Nicht bei den Fans, und erst recht nicht in der Industrie. Wieso auch: Die absolute Kontrolle erwies sich für die grossen Entertainment-Konzerne als sehr ergiebig. Nicht nur, was das Geld anbelangte. Es ging um die internationale Anerkennung eines ganzen Staates. Und es ging um Macht.
Fantastic Baby
Ihren Anfang nahm die moderne südkoreanische Popmusik in den frühen 1990er-Jahren, als in Südkorea die ersten modernen Boygroups ihre Alben veröffentlichten. Das Land befand sich gerade im Wandel zu einer modernen Demokratie: Reformen verliehen der Musikindustrie plötzlich neue Freiheiten und Exportmöglichkeiten. Die drei Musiklabels, die alles verändern würden – SM, YG und JYP Entertainment, auch die «Big 3» genannt – wurden gegründet.
Dann kam 1997 die Asienkrise. Die wirtschaftliche Wundernation Südkorea geriet plötzlich ins Straucheln. Der Internationale Währungsfonds stützte sie mit 55 Milliarden US-Dollar. Dieser Betrag war damals beispiellos. Doch das Geld kam mit harten Bedingungen. Als Südkorea unter anderem dazu gezwungen wurde, kulturelle Güter aus Japan zu importieren – ausgerechnet von ihren ehemaligen Besatzern –, ging die Regierung zum Gegenangriff über. Der K-Pop wurde zu einer ihrer effektivsten Waffen.
Es steht zur Debatte, wie konkret die Staatsgewalt das geplant hatte. Dass da im Mindesten die Absicht schlummerte, K-Pop über die Landesgrenzen hinweg bekannt zu machen, ist unverkennbar. Ende der 90er-Jahre blähte sie das Kulturministerium finanziell auf, um an den Hochschulen Institute für Kulturtechnologie errichten zu lassen. Der in der Krise gewählte Staatschef Kim Dae-jung gab sich selbst den Titel des «Kulturpräsidenten». Gleichzeitig gewann die Industrie massiv an Fahrt: Im Akkord verpflichteten die Big-3-Labels junge Teenager – teilweise mit Knebelverträgen – und formten aus ihnen die scheinbar perfekten Stars. Die sogenannte soft power wurde zum beinharten Businesscase. Die Kombination aus hyperrationalisierter Industrie und Staatshilfe verhalf K-Pop im neuen Jahrtausend in ganz Ostasien zu riesigen Erfolgen.
Den Rest der Welt, den holte man sich mit – Videos.
Das sagt Sung Un Gang, Kulturwissenschaftler an der Uni Köln und K-Pop-Experte. Youtube sei als Videoplattform massgeblich für den internationalen Durchbruch von K-Pop verantwortlich. «Koreanische Fans haben Aufnahmen der Chartshows hochgeladen oder Fancams. Die Plattenfirmen liessen sie gewähren.» Sie sahen die Urheberrechtsverletzungen, liessen die Videos aber nicht entfernen. «Bei den japanischen Entertainment-Firmen war das ganz anders», sagt Gang. Diese stellten zum Teil nicht mal die ganzen Musikvideos online. «Ob es von den Labels in Korea beabsichtigt war oder nicht: K-Pop wurde auf der ganzen Welt so sehr zugänglich. Und klickte man mal auf ein Video, führte der Algorithmus gleich zum nächsten.»
So wandelte sich das Internet von Video zu Video zur «Arena für die K-Pop-Fankultur», wie Gang sagt.
In dieser Arena kämpfen die Fans mit beispiellosem Ehrgeiz für ihre Idole – angestachelt von der Industrie: In den verschiedenen Musikshows im südkoreanischen Fernsehen treten die Gruppen auf, sobald sie ihre erste oder ihre neue Single veröffentlicht haben. Über einen Mix aus Musikstreams, Albumverkäufen und Zuschauervoting wird jede Woche eine Gewinnerin gekürt.
«Vor allem der first win, der erste Gewinn einer Band, ist enorm wichtig», sagt K-Pop-Liebhaber Chen Wild. «Erst ab diesem Punkt wirst du in Südkorea wahrgenommen. Danach ist es eine Kettenreaktion: Je öfter eine Gruppe gewinnt, desto bekannter wird sie, desto häufiger gewinnt sie. Und wenn sie nie gewinnt, wird sie aufgelöst. Die Fans haben uhuere viel Macht.»
Lion Heart
Ist das Internet die Arena der Fans, ist die Musikshow die der Künstler. Wer es in Südkorea nicht schafft, schafft es für gewöhnlich nirgends. Die Fans entscheiden wöchentlich, wohin der Daumen zeigt. Wer dem Druck standhält, dem blühen ausverkaufte Arenen auf der ganzen Welt und Fans, die als «Botschafterinnen» agieren, wie Forscher Sung Un Gang sagt. Oder, in den Worten von Chen Wild, als «Familie».
Und in einer Familie, da schaut man zueinander. Geburtstage oder Jubiläen der Stars werden mit Twitter-Hashtags gefeiert oder mit riesigen Werbeflächen von den U-Bahn-Schächten in Seoul bis zum Times Square in New York. Die Kosten von 30’000 Dollar für 6 Minuten am Tag, eine Woche lang: geschenkt.
In wohl keiner anderen Musikindustrie verwischen die Grenzen zwischen Sender und Empfänger so sehr wie im K-Pop. Fans berichten der Republik von einem intrinsischen Drang, ihren Stars etwas zurückzugeben. Ungeachtet des sehr bewussten Fakts, dass Grosskonzerne hinter ihnen stecken, die sie mit strengen Moralklauseln und Datingverboten in die gewünschte Form falten.
Das unbändige Engagement der Gemeinschaft zeigt sich in den regelmässigen Spendenaktionen von Fanclubs, durchgeführt im Namen ihrer geliebten Stars. Oder, kommerzieller, bei den Albumverkäufen. 2018 nahm der Umsatz physischer Alben in Südkorea um sagenhafte 30 Prozent zu – während er weltweit um 10 Prozent fiel. Dieser Anstieg war einzigartig.
Es war dieses virale Engagement, welches das Unerwartbare erwartbar machte. Wer die Szene kannte, konnte von den jüngsten Aktionen in den USA und auf Twitter also nicht überrascht gewesen sein. Und gleichzeitig eben doch.
Die globale Fanszene war hochaktiv und vernetzt. Aber politisch brisante Themen mied sie für gewöhnlich so sehr wie die Kuh den Schlachter.
Wie kams also?
Black Lives Matter prangert ein politisches Problem an, aber eben auch eine humanitäre Notlage – was es dann wieder in die Nähe der üblichen Spendenaktionen führt, erklärt es sich Kulturwissenschaftler Sung Un Gang. «K-Pop-Fans positionieren sich häufig zu menschenrechtlichen Themen. Zudem ist die internationale Gemeinschaft sehr divers, es gibt viele queere und schwarze Fans.» Das trifft im Besonderen auf die US-Fans zu, die grösste K-Pop-Anhängerschaft ausserhalb Asiens.
We Are Bulletproof
Experten erkennen aber auch einen Wandel in der Branche, getrieben, allen voran, von BTS. In ihren Lyrics thematisiert die Band immer wieder gesellschaftliche Probleme in Südkorea, den Leistungsdruck in den Schulen zum Beispiel, oder psychische Erkrankungen. In dem zwanghaft sterilen Umfeld der Popindustrie ist es bis heute ungewöhnlich, überhaupt Haltung zu zeigen. Diese Haltung spiegelte sich bei den BTS-Fans, genannt Armys, wider.
Als sich die Megastars Anfang Juni mit Black Lives Matter solidarisierten, zum Beispiel. Da brachen für die Armys die Dämme.
Bei Trump war das etwas anders.
Zum Sinnbild wurde das Interview der jungen Band TXT im Morgenprogramm des US-Fernsehsenders Fox, kurz nach der Trump-Rally. Die Moderatorin fragte die fünf jungen Männer, was sie zur Ticketaktion wussten. Nach kurzem Zögern parierte einer der Sänger, dass man sich auf einen Auftritt vorbereite und deshalb von nichts wisse.
Das kurze Interview sorgte auf Twitter für Empörung. Die Fans fanden es unerhört, wie TXT da zu einem politischen Thema in den USA befragt wurde. Die Fox-Moderatorin gab sich auf Twitter reumütig.
Die US-Wahlen waren verfänglich, diese Politik verlangte Positionierung, und das galt es von den Idolen ganz offensichtlich streng zu meiden. Aber auch die Fans wurden für ihre Ticketattacke kritisiert, und zwar aus den eigenen Reihen: Die Basis in Südkorea fürchtete, die Bands könnten für politische Kampagnen missbraucht werden. Am Ende würde die ganze Industrie leiden.
Am Ende war das alles aber egal. Ob es in Südkorea erwünscht war oder nicht: Die internationale K-Pop-Fangemeinde war offensichtlich gross und flexibel genug für diesen «Ad-hoc-Aktivismus», wie Experte Sung Un Gang ihn nennt. «Vielleicht befinden sich die Fans gerade in einer Phase, in der sie sich als politische Akteure erkennen», sagt er.
Heute ist klar: Wenn sie wollen, können sie. Sie haben die Kraft, und zwar auch politisch. Jetzt bleibt nur die Frage, ob sie es auch wieder tun.
Und für wen.
PS: Vielleicht hat Sie der BOOMBAYAH-Titel irritiert. Dann sind Sie jetzt gerüstet für die Auflösung – selbstverständlich auf Youtube.