Wer ist mit «du» gemeint?
Über ein Pronomen in antirassistischen Texten von Claudia Rankine, James Baldwin und Ta-Nehisi Coates.
Von Daniel Graf, 23.06.2020
Einer der einflussreichsten rassismuskritischen Texte der letzten Jahre beginnt mit einer Anrede. Eine Silbe, drei Buchstaben, die das kleinste denkbare Publikum adressieren: «Son», «Mein Sohn». Dann hebt der Autor zu einer Abrechnung mit dem Amerika der «Dreamers» an.
Ich schreibe dir in deinem fünfzehnten Lebensjahr. Ich schreibe dir jetzt, denn dies ist das Jahr, in dem du gesehen hast, wie Eric Garner erwürgt wurde, weil er Zigaretten verkaufte, in dem du erlebt hast, dass Renisha McBride erschossen wurde, weil sie Hilfe holen wollte, und dass John Crawford erschossen wurde, weil er durch ein Kaufhaus schlenderte. Du hast gesehen, wie Männer in Uniform im Vorbeifahren Tamir Rice ermordeten, einen zwölfjährigen Jungen, den sie ihrem Eid gemäss hätten beschützen sollen. Und du hast Männer in ebensolchen Uniformen gesehen, wie sie am Strassenrand auf Marlene Pinnock einprügelten, eine Grossmutter. Und spätestens jetzt weisst du, dass die Polizeireviere deines Landes mit der Befugnis ausgestattet sind, deinen Körper zu zerstören.
Ta-Nehisi Coates’ «Zwischen mir und der Welt», in den USA 2015 erschienen, hat die Form eines Briefes an den eigenen Sohn, vielleicht kann man sogar sagen: die Form eines vorgezogenen Vermächtnisses.
Trotz dieser intimen Konstellation mit ihrer Du-Anrede wird niemand auf die Idee kommen, das Buch richte sich ausschliesslich an einen Adressaten. Und dies nicht bloss, weil es eine Widmung trägt («Für David und Kenyatta, die glaubten»), sein Autor also erkennbar auch mit anderen Leserinnen und Lesern rechnet; und nicht nur, weil Coates’ Text in der sprachlichen Gestaltung mindestens so sehr die Merkmale eines politischen Essays aufweist wie die eines familiären Gesprächs. Dieser «Brief», veröffentlicht als Publikums-Sachbuch (und als «Letter to My Son» teilweise vorab im «Atlantic»), ist vom ersten Wort an erkennbar auch ein öffentlicher.
Für wie viele «du» also ist er geschrieben?
Coates’ Text hat ein berühmtes Vorbild. Im Dezember 1962 veröffentlichte James Baldwin «A Letter to My Nephew», einen Brief, der im folgenden Jahr in Baldwins Essayband «The Fire Next Time» eingehen sollte, eines der einflussreichsten Bücher der amerikanischen Geschichte. «Dear James», beginnt dieser bis heute brandaktuelle Text, weil Baldwins Neffe zugleich sein Namensvetter ist, «ich habe diesen Brief fünf Mal angefangen und fünf Mal wieder zerrissen.»
Auch Baldwins Brief ist eine Anklage: gegen die «hunderttausendfache» Zerstörung von Leben und gegen die anhaltende Verdrängung dieser Gewaltgeschichte. Und schon bei ihm, wie später bei Coates und vielen anderen, spielen Zitate eine immense Rolle, weil sie unverzichtbarer Bestandteil einer «schwarzen» Traditionsbildung sind, Bezugspunkte einer eigenen, nicht von der Mehrheitsgesellschaft übernommenen Geschichtsschreibung.
Keine Geringere als Toni Morrison hat Ta-Nehisi Coates als den legitimen Nachfolger von James Baldwin ausgerufen. Andere, wie Melvin Rogers, betonen zugleich, dass sich Baldwin und Coates in ihrem Denken ebenso wie im Schreibstil signifikant unterscheiden; was auch unmittelbar einleuchtet, wenn man ihrer beider «Briefe» liest.
Wer aber sollte sie überhaupt lesen – und wie?
«Eine der grossen Tugenden beider Bücher» sei es, schrieb Michelle Alexander in ihrer Coates-Rezension, «that they are not addressed to white people» – «nicht an Weisse gerichtet». Geht es hier also um «Bücher über Schwarze von Schwarzen für Schwarze», wie Ta-Nehisi Coates im Text die Bibliothek seines Vaters kommentiert? Und heisst das, «white people» müssten sich gar nicht erst betroffen fühlen? Ja wohl kaum.
An wen also richten sich diese Texte, oder besser: an wen in welcher Weise? Was bedeuten ihre Sprechhaltung und ihr Anrede-Du für die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaften (zu denen auch der Autor dieses Artikels gehört)?
Es lohnt sich, nicht nur für diese Fragen, sich eingehender mit einem Buch zu befassen, das in den USA bereits ein halbes Jahr vor Ta-Nehisi Coates’ «Zwischen mir und der Welt» erschien und im ursprünglichen Untertitel «An American Lyric» heisst.
Claudia Rankines «Citizen» changiert zwischen Prosagedicht und literarischem Essay – und hat es damit in die «New York Times»-Bestseller für Non-Fiction (!) geschafft. Vielleicht kann man das Buch, da es sich ohnehin dem Schubladendenken entzieht, auch als Meditation über das Pronomen «du» bezeichnen.
Es beginnt so:
Wenn du allein bist und zu müde selbst, um auf deine Technik zu setzen, überlässt du dich einer Vergangenheit, die sich zwischen deinen Kissen stapelt. Meist igelst du dich ein und das Haus ist leer. (…)
Der Weg ist oft assoziativ. Du riechst gut. Du bist zwölf, du besuchst die Saints Philip and James School an der White Plains Road, und das Mädchen hinter dir bittet dich, dich bei Klassenarbeiten nach rechts zu neigen, damit sie von dir abschreiben kann.
Dieses Du also bedeutet: Selbstanrede. Erinnerung. Es vergegenwärtigt Vergangenes, das frühere Ich tritt dem jetzigen vor Augen. Weil aber Rankines Text keine Autobiografie ist, sondern Literatur, lässt sich dieses Du immer auch universeller lesen. Es geht in jedem Moment über das Persönliche hinaus, kann plötzlich einen Gender Switch vollziehen; und Szenen heraufrufen, wie sie uns in diesen Tagen wieder umso deutlicher vor Augen stehen. Unter dem Titel «Verkehrskontrolle» etwa heisst es da:
Du bist nicht ihr Mann, und trotzdem passt die Beschreibung, weil es nur einen gibt, der immer der Mann ist, auf den die Beschreibung passt.
Es gibt in «Citizen», über die verschiedenen Kapitel hinweg, die unterschiedlichsten Kontexte und Verwendungsweisen des Wortes «du». Es gibt das Du im Rahmen eines Dialogs; und das Du im Rahmen radikaler Fremdbestimmung:
Und doch radiert die Welt immerzu rabiat aus –
Was glaubst du, wer du bist, dass du ich sagst zu mir?
Du nichts.
Du niemand.
Du.
(…)
Die schlimmste Verletzung ist zu spüren dass du nicht sehr
dir gehörst –
So führt Claudia Rankine im Gang durch die verschiedenen Pfade ihres Buches und mithilfe unterschiedlicher «du»-Varianten vor, wie sehr die Bedeutung eines Wortes vom jeweiligen Gebrauch bestimmt ist.
Gilt nicht Ähnliches auch für all die impliziten «Dus» eines jeden Buches? Mit jeder konkreten Leserin, jedem konkreten Leser verändert sich das Verhältnis zwischen der Sprecher- und der Leserposition. Dabei entstehen unterschiedliche Näheverhältnisse in Bezug auf die Erfahrungen, von denen der Text spricht.
In der Tradition des Listengedichts ruft Claudia Rankine an einer Stelle Namen von Landsleuten in Erinnerung, die durch rassistische Gewalt ums Leben kamen – wobei die Aufzählung in ein Fade-out verblassender Schrift mündet: eine Mahnung an die Gefahr des Vergessens; und eine Erinnerung daran, dass die Liste in Wirklichkeit endlos ist.
#SayTheirName: Auch der Text von Ta-Nehisi Coates folgt diesem Motto. Und von da aus erscheint das Wort «du» in seinem Brief im engen Wortsinn als Pro-Nomen: Es adressiert eine konkrete Person, Coates’ Sohn Samori, steht zugleich aber stellvertretend für die Namen all derer, die systemischer rassistischer Gewalt ausgesetzt sind – weil sie alle von dieser Gewalt bedroht sind und im Bewusstsein leben, dass es statt Trayvon Martin, Eric Garner, Renisha McBride oder George Floyd auch sie selbst hätte treffen können.
Deshalb adressieren die Briefe von Coates und Baldwin auch all die anderen Töchter und Söhne, Neffen und Nichten, die durch rassistische Strukturen in ihrer körperlichen Integrität bedroht sind. Und in diesem Sinne sind ihre Briefe tatsächlich «nicht an Weisse gerichtet» – ganz ähnlich allerdings, wie jeder offene Brief zwischen Adressaten und Leserinnen unterscheidet.
Denn natürlich sind es auch und gerade diejenigen, die selbst keiner rassistischen Diskriminierung ausgesetzt sind, die solchen Büchern Aufmerksamkeit schenken sollten. Weil sie darin zwar nicht die Angesprochenen sind; aber doch diejenigen, die – zunächst für sich – Antworten finden und Veränderung in Gang setzen müssen.
Vielleicht also lässt sich für Angehörige der Mehrheitsgesellschaft auch dies aus antirassistischen Texten lernen: dass es Situationen gibt, wo sie selbst – entgegen bisherigen Gewohnheiten – nicht die Ersten sind, die sprechen; nicht die Ersten, die angesprochen sind; und dennoch die Ersten, die in der Verantwortung stehen. Wenn das irgendwann niemanden mehr irritiert, dann beginnt sich vielleicht ein Stück weit die Lücke zu verringern, die heute nicht nur Ta-Nehisi Coates zwischen sich und der Welt der Dominanzkultur empfindet.
James Baldwin: «Nach der Flut das Feuer – The Fire Next Time». Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow. dtv, München 2019. 128 Seiten, ca. 24 Franken.
Ta-Nehisi Coates: «Zwischen mir und der Welt». Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow. Hanser Berlin 2016. 240 Seiten, ca. 27 Franken.
Claudia Rankine: «Citizen». Aus dem amerikanischen Englisch von Uda Strätling. Spector Books, Leipzig 2018. 182 Seiten, ca. 22 Franken.
Claudia Rankine hat vor wenigen Tagen ein neues Gedicht zu Black Lives Matter mit dem Titel «Weather» in der «New York Times» veröffentlicht. In der Online-Ausgabe kann man die Autorin das Gedicht auch vorlesen hören.