Was Black Lives Matter für die Schweiz bedeutet
Zum ersten Mal prangert eine breite Öffentlichkeit den strukturell verankerten Rassismus in der Schweiz an – und räumt mit helvetischen Mythen auf.
Von Jovita dos Santos Pinto und Stefanie Boulila, 23.06.2020
Wenn in der Schweiz bis vor kurzem öffentlich über Rassismus gesprochen wurde, dann meistens mit Blick auf die USA oder Südafrika. Wie vielen in Europa fällt es den meisten schwer, Rassismus als ein in der Schweiz strukturell verankertes Phänomen zu sehen. Auch antirassistische Bewegungen in Europa beriefen sich lange auf ein individualisiertes und ahistorisches Verständnis von Rassismus: dass Rassismus von einzelnen Individuen, also «Rassisten», ausgehe, während der Staat neutral sei. Im angelsächsischen und französischen Diskurs gibt es dafür den Begriff Anti-Rassialismus; ein Begriff, der in der deutschsprachigen Debatte noch viel zu wenig verbreitet ist.
Dieses Verständnis von Rassismus wird von den Black-Lives-Matter-Protesten in Europa infrage gestellt. Innerhalb der Bewegung solidarisieren sich People of Color mit Schwarzen Menschen, um den strukturell verankerten Rassismus in der Schweiz sichtbar zu machen. Diese Solidarität ergibt sich aus der gemeinsam erlebten Marginalisierung von nicht weissen Stimmen in Debatten um Rassismus und Zugehörigkeit.
Jovita dos Santos Pinto ist Doktorandin am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bern. Stefanie Boulila ist Mitglied der Jungen Akademie Schweiz und Autorin des Buches «Race in Post-racial Europe: An Intersectional Analysis», 2019, Rowman & Littlefield International.
In der Debatte zu Black Lives Matter in der Schweiz zeigt sich, wie problematisch dieser ahistorische und individualisierte Anti-Rassialismus ist. Die Proteste fallen mit dem 50. Jahrestag der Schwarzenbach-Initiative zusammen. Also wird vor diesem Hintergrund ein Unterschied gemacht zwischen dem Rassismus in den USA, der geprägt sei vom Gegensatz zwischen Schwarz und Weiss, und dem Rassismus in der Schweiz, der sich vor allem entlang der Frage der Staatsbürgerschaft zeige.
Diese Vereinfachung und Gegenüberstellung der beiden Kontexte verneint die Verwurzelung der Schweiz in der europäischen Kolonialgeschichte und die damit einhergehende strukturelle Verankerung von Anti-Schwarze-Rassismus.
Die Rolle des europäischen Kolonialismus wurde für aktuelle Debatten und Diskurse immer wieder unterschätzt und beiseitegeschoben. In der Schweiz zeigt sich das dadurch, dass eine Aufarbeitung kolonialer Geschichte als nicht notwendig erachtet wird, weil die Schweiz angeblich nicht am europäischen Kolonialismus beteiligt gewesen sei.
Die Forschung zeigt jedoch, dass sich kolonialrassistische Diskurse stark in kulturellen wie auch politischen Debatten niederschlagen.
So haben die SVP-Kampagnen etwa zur Minarettinitiative oder zur Ausschaffungsinitiative («Schäfchenplakate») immer wieder das Bild der nicht assimilierbaren, aussereuropäischen, barbarischen anderen bedient. Wie die Politologin Noémi Michel argumentiert, wurde in der «Schäfchen»-Kampagne Schwarz ikonografisch als Gefahr für Weiss eingesetzt.
Solche Bilder sind Teil von historischen Mustern, die das Schweizer Selbstverständnis seit dem 19. Jahrhundert mitgeprägt haben. Sie sind damit Teil eines unmissverständlichen und unhinterfragten Archivs, das in zeitgenössischen Debatten immer wieder hervorgezogen werden kann, um Schwarze Menschen und People of Color zu entmenschlichen, zu dämonisieren und als in der Schweiz nicht zugehörig zu erklären.
«Schwarz» wird in diesem Beitrag grossgeschrieben, um zu signalisieren, dass damit nicht die Bezeichnung einer vermeintlichen Hautfarbe gemeint ist, sondern eine politische Selbstzeichnung.
Entmenschlichung
Spätestens ab dem 18. Jahrhundert waren Schweizer Einzelpersonen, Familien und Firmen auf unterschiedliche Weise an der Unterwerfung, Versklavung und Ausbeutung von Schwarzen Menschen beteiligt. Die daraus gewonnenen Profite flossen in Schweizer Banken, Anlagen und Infrastruktur.
Doch Entmenschlichung durch die Versklavung und koloniale Gewalt schlug sich auch sozial, kulturell und im Wissen nieder.
Die Literaturwissenschafterin Hortense Spillers schreibt von einer Einschreibung von Schwarzsein ins Fleisch. Schwarzsein bedeutete, zum Objekt gemacht zu werden, als Besitz verwertbar und quantifizierbar zu gelten und dadurch über den Atlantik handelbar zu sein.
Diese Idee wurde von einem Wissenssystem gestützt, das Weisssein ins Zentrum stellte und auf Schwarzsein als Negativfolie zurückgriff. Schwarzsein beschrieb dabei nicht nur charakterliche oder körperliche Merkmale von entrechteten Menschen in Philosophie, Geschichte und Biologie, sondern symbolisierte das Böse und Negative schlechthin. In diesem Sinne übte Schwarzsein eine Kernfunktion aus für die Konstruktion Europas: Es war das konstitutiv andere. Dieses Wissen wurde in Abenteuerromanen, Werbung, Missionsheften, Postkarten und in der Schweiz bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt auch in Völkerschauen popularisiert.
Die Entmenschlichung zeigte sich auch in einem der wenigen dokumentierten Fälle versklavter Menschen in der Schweiz. Es handelt sich dabei um den Rechtsfall um die mögliche Einbürgerung von Samuel Buisson in Yverdon um das Jahr 1800. Buisson war der Sohn der versklavten und aus Haiti verschleppten Pauline Buisson. Buisson wurde entmenschlicht, indem sie mit «anderen Gütern» gleichgesetzt und nie registriert wurde. Sie wurde dämonisiert als «erregte N-» und «entflammbare Materie», deren schiere Präsenz eine «Gefahr» «für Europa» darstellte.
Abwertung
Der Anti-Schwarze-Diskurs verschwand nicht mit dem Überfremdungsdiskurs des 20. Jahrhunderts. In James Schwarzenbachs Parteiblatt beispielsweise wurden Schwarze sehr wohl von anderen Menschen unterschieden. «Ein N- bleibt ein N- – auch nach Generationen», stand da, «Afrikaner und Chinesen müssten ewig Fremdkörper bleiben (siehe USA!). Wer kommt zu uns? Sind sie Träger einer guten oder schlechten Erbmasse?»
Hier wird die koloniale Logik aufgegriffen, wonach Schwarze Menschen und People of Color nicht assimilierbar seien, auf diese Weise werden nicht europäische Schwarze Menschen und People of Color in der Geschichte von beispielsweise südeuropäischen Migrantinnen unterschieden. Weiter verstand sich der Süden Europas mit Italien, Spanien oder Portugal als Teil der europäischen Kolonialmächte und teilte mit diesen rassistische Diskurse, die zwischen der weissen Bevölkerung Europas und den Kolonialisierten unterschieden. So befanden sich die südeuropäischen Migranten in der paradoxen Lage, dass sie für die Schweiz nicht weiss genug waren, aber in anderen Regionen Europas und den Kolonien durchaus zu den Kolonisatoren gehörten.
Eine solche situative Zugehörigkeit blieb und bleibt bis heute für Schwarze und andere People of Color kategorisch ausgeschlossen. Wie die Kulturwissenschafterin Fatima El-Tayeb darlegte, gilt «nicht weiss» als «nicht europäisch» und folglich als minderwertig. Die sozialen Bewegungen der 1970er-Jahre, die sich für einen gerechteren Umgang mit den südeuropäischen Migrantinnen einsetzten, sind damit nicht mit der amerikanischen Civil-Rights-Bewegung gleichzusetzen, unterscheiden sich die Hintergründe beider Bewegungen doch massiv.
Sicherheitspolitiken
Die Grundsteine des Schweizer Rassismus gehen wesentlich weiter zurück als die Schwarzenbach-Initiative 1970. Rassismus ist nicht bloss eine Frage der Staatsbürgerschaft. Wer Rassismus nur auf die Frage nach dem Pass einschränkt, übernimmt im Kern die individualisierte und ahistorische antirassistische Sichtweise: Denn diese Perspektive verkennt die vielfältigen Formen des vom Staat ausgehenden Rassismus.
So übersieht die Frage nach Staatsbürgerschaft die alltäglichen Erfahrungen, die Schwarze Schweizerinnen und Schweizer of Color im Umgang mit Sicherheits- und Schutzbehörden, dem Gesundheits- oder dem Bildungssystem machen. Zudem verunmöglicht dieser Anti-Rassialismus eine kritische Haltung gegenüber dem europäischen Grenzregime, das nicht weisse Menschen zu einer angeblichen Gefahr für Europa macht.
Den Fokus auf die Frage nach Staatsbürgerschaft statt kolonialrassistisches Wissen zu legen, hat für die Betroffenen verheerende Folgen. Die Behörden konnten bisher ungestraft diversen rassistischen Praktiken nachgehen, wie etwa eine Studie zu Racial Profiling in der Schweiz aufzeigte. So berichteten Betroffene unter anderem von rassistischen Beschimpfungen durch Beamte, illegitimen Fahrzeugkontrollen, unrechtmässigen Leibesvisitationen und der ständigen Gefahr, aus Menschengruppen herausgezogen und kontrolliert zu werden.
Die Black-Lives-Matter-Bewegung macht die Erfahrungen von Schwarzen Menschen in der Schweiz sichtbar und kritisiert damit den strukturell verankerten Rassismus. Die Bewegung bricht mit dem bisherigen Blick auf Staatsbürgerschaft und fordert einen reflektierten Umgang mit der eigenen Kolonialgeschichte. Hierbei stehen die Schweizer Behörden ebenso im Zentrum der Kritik wie auch die Schweizer Populär- und Konsumkultur, wie die Debatten um rassistische Produktnamen, Medienberichterstattungen oder Fasnachtscliquen illustrieren.
Black Lives Matter zeigt, dass es kaum einen Bereich der Schweizer Kultur gibt, der nicht von kolonialen Stereotypen geprägt wäre.
Die Bewegung bricht also mit der kolonialen Amnesie und der Idee, dass Rassismus von einzelnen Individuen ausgeht. Black Lives Matter zeigt einen Antirassismus, der darauf abzielt, die Schweizer Gesellschaft so zu verändern, dass Schwarze Menschen und People of Color nicht mehr exotisiert, entmenschlicht und kriminalisiert werden.