Berlin Alexanderplatz im Juni 2020: 15’000 Menschen demonstrieren gegen Rassismus und Diskriminierung. Pierre Adenis/laif

Mein «Black Coming Out»

Als Germanistik­studentin in Berlin emanzipierte sich die britische Autorin Sharon Dodua Otoo von der «weissen» Norm. 25 Jahre später schaut sie zurück auf die Literatur, die sie auf diesem Weg geprägt hat.

Von Sharon Dodua Otoo, 23.06.2020

Es gibt eine Szene in meiner ersten Novelle, in der die britische Haupt­figur zugibt:

Ich glaubte ehrlich, dass ich die erste Schwarze Person sein würde, die jemals deutschen Boden betreten hatte – und ich liebte diese Vorstellung. «One small step for man» und so weiter …

Diese Stelle in «Die Dinge, die ich denke, während ich höflich lächle» ist lustig gemeint. Immer wenn ich sie vor einem überwiegend Schwarzen Publikum vorlese, wird herzlich gelacht. Denn wir wissen, dass die Vorstellung, die «erste Schwarze Person» zu sein, hier tatsächlich lächerlich ist. Doch schmerz­haft oft, wenn ich diese Stelle vor einem hierzulande gewöhnlichen Publikum vortrage, ernte ich betretenes Schweigen. Denn dann steht die Frage im Raum, ob ich womöglich eine falsche Vorstellung von der Geschichte Schwarzer Menschen in Deutsch­land noch verstärke, statt sie, wie gehofft, zu untergraben.

Zur Schreibweise

Anmerkung der Autorin: «Schwarz» wird hier gross­geschrieben, um zu signalisieren, dass damit nicht die Bezeichnung einer vermeintlichen Haut­farbe gemeint ist, sondern eine politische Selbst­zeichnung. Sie signalisiert die Zugehörig­keit zu einer Gruppe, die bestimmte Erfahrungen und kulturelle Referenzen teilt.

Die Unwissenheit über Schwarzes Leben und Schwarze Geschichte im deutsch­sprachigen Raum ist immer noch gross – auch unter Menschen der afrikanischen Diaspora. Als Londoner Germanistik­studentin Anfang der Neunziger­jahre habe ich keine Belletristik von Schwarzen deutsch­sprachigen Autorinnen gelesen und nichts über die deutsche Kolonial­geschichte gelernt. Während des gesamten Studiums wurden weder die rassistische Diffamierung der sogenannten «Rheinland-Kinder» noch die Schwarzen Gefangenen in NS-Konzentrations­lagern erwähnt. Kant habe ich jahrelang gelesen, ohne von seinen rassistischen Ansichten zu wissen. Dürrenmatt gehörte zum Kanon, seine problematische Darstellung Schwarzer Neben­figuren wurde nicht thematisiert. Beispiels­weise McArthur, einer der zwei «riesen­haften» Pfleger in «Die Physiker»: Aus unerklärlichem Grund, ohne dass es zur Handlung des Theater­stücks irgend­etwas beiträgt, wird er vom Autor als nicht weiss markiert – mit dem N-Wort. Damals überlas ich solche Stellen.

Zur Autorin

Sharon Dodua Otoo, geboren 1972 in London, schreibt literarische Prosa und Essays und ist Heraus­geberin der englisch­sprachigen Buchreihe «Witnessed» in der Edition Assemblage. Dort erschien 2012 auch ihre erste Novelle «Die Dinge, die ich denke, während ich höflich lächle» auf Englisch und auf Deutsch. Mit dem Text «Herr Gröttrup setzt sich hin» gewann sie 2016 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Vor wenigen Tagen hielt sie die Klagenfurter Rede zur Literatur 2020, mit dem Titel «Dürfen Schwarze Blumen malen?» Politisch aktiv ist Otoo bei der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland e.V. und Phoenix e.V. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Ich erinnere mich eindrücklich an den Sommer, in dem ich Mittel­hochdeutsch lernte und mich durch Wolfram von Eschen­bachs Roman «Parzival» quälte.

Die Geburt von Parzivals Halb­bruder, möglicher­weise der ersten Schwarzen Figur in der deutsch­sprachigen Literatur, wird so beschrieben:

diu frouwe an rehter zît genas
eins suns, der zweier varwe was,
an dem got wunders wart enein:
wîz und swarzer varwe schein.

In der Übersetzung heisst das:

Als die rechte Zeit gekommen war,
da brachte die Dame einen Sohn zur Welt, der war von zweierlei Farbe;
an ihm wollte Gott ein Wunder wirken:
Weiss schien seine Haut und schwarz.

Das Kind wird Feirefiz (vaire fiz, gescheckter Sohn) genannt. Da war also in einem kanonischen Text des deutschen Kultur­erbes endlich einmal eine Schwarze Person aktiv in die Handlung integriert – und dann wird uns ein geschecktes Fantasie­wesen «von zweierlei Farbe» präsentiert!

Es dauerte bis 1995 – dem Jahr, als ich für mein obligatorisches Auslands­jahr nach Berlin zog und meine allererste Black-History-Month-Veranstaltung besuchte – bis ich nicht nur einzelne, sondern Generationen von Schwarzen Deutschen und andere Menschen der afrikanischen Diaspora kennenlernte.

Sharon Dodua Otoo gewinnt den Bachmannpreis 2016 und wird von ihrer Familie geherzt. Helmuth Weichselbraun/Kleine Zeitung

In diese Zeit fiel, was ich liebevoll als mein «Black Coming Out» bezeichne. Bis dahin war mein Schwarz­sein etwas gewesen, das ich bestenfalls ausgehalten habe – obwohl ich bei meinen ghanaischen Eltern aufgewachsen bin und somit durchaus täglich Umgang mit Menschen hatte, mit denen ich mich hätte identifizieren können. Ein positives, starkes Bewusst­sein hatte ich aber nicht, denn die mal subtile, mal sehr deutliche Botschaft in der Werbung, in den Medien, in Pop­kultur, Literatur und Film, dass die Norm als «weiss» zu gelten hatte, überschattete alles: sogar den Blick auf mich selbst.

Zu dieser Zeit hat mich ein Buch besonders geprägt: «Farbe bekennen: Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte». 1986 im Orlanda-Verlag erschienen, war diese Anthologie die bis dahin erste umfassende Veröffentlichung zu Schwarzer deutscher Geschichte. Erst dieses Jahr ist es in einer neuen Ausgabe erschienen. «Farbe bekennen» basiert grössten­teils auf einer Diplom­arbeit der Wissen­schaftlerin und Aktivistin May Ayim, die damals noch Opitz hiess. Sie erzählt darin eine bis ins 18. Jahr­hundert zurück­reichende Kultur- und Sozial­geschichte der Afro­deutschen, doch der Band beinhaltet auch persönliche Erinnerungen afrodeutscher Zeit­zeuginnen mehrerer Generationen sowie Interviews und Gedichte. Ausserdem gilt das Buch als erster Schritt zur Gründung der «Initiative Schwarze Menschen in Deutsch­land» (damals ISD: Initiative Schwarze Deutsche) und der ADEFRA (damals «Afro-deutsche Frauen»). Ich war von der Lektüre dieses einzig­artigen Buches intellektuell heraus­gefordert und emotional bewegt.

Doch das Buch, das mich damals am meisten berührt hat und woraus ich bis heute immer wieder Kraft ziehe, ist ein anderes von May Ayim: ihr Gedicht­band «blues in schwarz weiss».

Mein Exemplar ist fast 25 Jahre alt und etwas beschädigt durch die vielen Umzüge, die ich hinter mir habe. Der grüne Einband ist bedruckt mit Adinkra-Symbolen, wie sie auch zwischen den Seiten wiederkehren. Welch eine Ironie, dass ich erst nach Deutsch­land reisen musste, um die west­afrikanische Symbol­sprache der Ashanti kennenzulernen! Diese besondere Kombination von deutsch­sprachiger Lyrik und Adinkra-Symbolen hat eine Sehnsucht in mir gestillt, von der ich bis dahin noch gar nicht wusste, dass ich sie hatte: Es machte mich wieder ganz. So habe ich in der Schwarzen Community in Deutsch­land, die auch in sich heterogen ist, einen positiven Zugang zum Schwarz­sein gefunden. Ich lernte mich als Schwarze Frau zu identifizieren: als Teil einer widerständigen Bewegung. Mit einem kulturellen Erbe und der Verantwortung, dies auch weiterzugeben.

Vorspulen in den Sommer 2020.

Ein entsetzlicher Mord vor laufender Kamera: Ein weisser Polizist kniet so lange auf dem Hals von George Floyd, dass dieser letztlich daran stirbt. In fast allen Bundes­staaten der USA und auf der ganzen Welt protestieren Menschen trotz Covid-19-Einschränkungen gegen rassistische Polizei­gewalt. Die Demonstrationen erreichen auch den deutsch­sprachigen Raum. Schwarze Medien­schaffende hierzulande können sich vor Anfragen kaum retten.

Einerseits freue ich mich, denn ich sehe viele wichtige Personen aus der Community endlich in den Diskussionen als Expertinnen und Experten vertreten. Publizistinnen wie Hadija Haruna-Oelker und Vanessa Spanbauer werden zu Talkshows eingeladen, Politiker wie Karamba Diaby und Aminata Touré sind auf den Titel­seiten nationaler Zeitungen, Politologinnen wie Vanessa Eileen Thompson und Daniel Gyamerah berichten in ausführlichen Fernseh- und Radio­interviews über ihre Forschung. Sie erläutern Studien zu rassistischer Polizei­gewalt und betonen die Notwendig­keit, Schwarze Lebens­realitäten, ihre Diskriminierungs­erfahrungen und Perspektiven zu erfassen, um damit entsprechende Forderungen an Politik und Gesell­schaft zu stellen.

Ich freue mich darüber. Gleichzeitig habe ich Angst: dass dieser Moment nur an der Oberfläche bleiben könnte; und dass Schwarze Bewegungen weltweit wieder um Jahre zurückgeworfen werden könnten. Denn wenn schon Mitt Romney, ehemaliger republikanischer US-Präsidentschafts­kandidat, «Black Lives Matter» skandiert, ist die Gefahr gross, dass der Kampf für Gerechtig­keit, der immerhin seit über dreihundert Jahre andauert, vereinnahmt wird und die politischen Forderungen Schwarzer Communities so lange weichgespült werden, bis wir wieder bei «All Lives Matter» landen. Es wäre nicht das erste Mal. In seiner viel zitierten Rede «I have a dream» hatte Martin Luther King zwar seinen Traum geschildert, wonach seine Kinder einmal nicht mehr aufgrund äusserer Merkmale beurteilt würden. Doch seine Absicht war sicherlich nicht, weissen Menschen Argumente zu liefern, um zu sagen: «Ich sehe keine Farben.» Er wollte Gerechtigkeit. Um nichts weniger geht es.

Die Veränderungen, die unsere Gesell­schaften brauchen, um den Rassismus zu überwinden, werden schmerzhaft, langwierig und von Höhen und Tiefen geprägt sein. Schwarze Menschen werden wieder Ausdauer aufbringen müssen. We can’t breathe – aber jetzt wird wieder ein langer Atem nötig sein. Die «Initiative in Gedenken an Oury Jalloh» kämpft inzwischen seit über fünfzehn Jahren darum, den gewaltsamen Feuer­tod in einer Dessauer Polizei­zelle aufzuklären. Vor hundert Jahren wurde die sogenannte «Dibobe-Petition» im Reichs­kolonial­ministerium eingereicht. Die aus dem heutigen Kamerun und Tansania stammenden Unterzeichner forderten unter anderem «Gleich­berechtigung und Selbst­ständigkeit» für Menschen der afrikanischen Diaspora in Deutsch­land. Die Aufarbeitung der deutschen Kolonial­zeit hat auf staatlicher Ebene noch kaum begonnen.

Für den langen Weg vor uns möchte ich anregen, auch auf die Schwarzen Bewegungen zu schauen, die keine Online­präsenz haben: Menschen, die zum Teil nicht mehr unter uns sind, allerdings bereits vor dreissig Jahren dafür gekämpft haben, dass der rassismus­kritische Diskurs im deutsch­sprachigen Raum überhaupt so weit kam, wie er jetzt ist.

Manche ihrer Errungen­schaften sind dokumentiert: in der Anthologie «Euer Schweigen schützt euch nicht. Audre Lorde und die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland» von 2012; und in «Spiegelblicke. Perspektiven Schwarzer Bewegung in Deutschland» von 2015, beide ebenfalls im Orlanda-Verlag erschienen. Beide Bücher bilden auch die Hetero­genität der Schwarzen Communitys in Deutschland eindrücklich ab.

In meiner Vorstellung wird es in der Zukunft möglich sein, dass ich die am Anfang erwähnte Stelle aus meiner Novelle vorlese und das Publikum zum Lachen bringe – egal, wer im Publikum sitzt. Wie schnell sich das ereignet, hängt sehr davon ab, wie nachhaltig der aktuelle Fokus auf Rassismus sein wird. Dabei ist es nicht entscheidend, wie viele rassismus­kritische Trainings absolviert oder wie viele Bücher Schwarzer Autorinnen gelesen werden – am wichtigsten finde ich es, die innere Haltung zu überprüfen. Ein Gedicht von May Ayim, «vertrauen», bringt das sehr treffend zum Ausdruck:

gelassen
wie ein spiegel
zeigen was ist
ohne angst zerschlagen zu werden
von dem was sichtbar wird
bevor was sichtbar wird