Wenn Männer über Männer reden, reden Männer Männern nach
Gendergerechte Sprache wird gerne als unnötige Zwängerei abgetan. Aber Sprache, die nur Männer sichtbar macht, hat reale Konsequenzen – nicht nur für Frauen und nicht-binäre Menschen.
Von David Bauer, Marie-José Kolly (Text) und Anna Wiederkehr (Illustration), 12.06.2020
Wenn Sie von Ihrer Arbeit erzählen, sagen Sie dann «meine Kolleginnen und Kollegen»? Vielleicht sogar: «meine Kolleg*innen» – mit einer kurzen Pause zwischen Kolleg und innen, damit klar wird, wen Sie alles meinen?
Oder sagen Sie meistens «Kollegen» – weil es einfacher ist, weil es weniger holpert – und weil ja schliesslich die Kolleginnen mitgemeint sind?
Starten wir mit einem Stimmungsbild:
Umständlich in der Anwendung, unschön zu lesen, überflüssig, weil Frauen mitgemeint sind – so argumentieren Gegner von gendergerechter Sprache, etwa in der «Neuen Zürcher Zeitung», im «Tages-Anzeiger» oder in der «Welt».
Zu den Sprachregelungen der Republik
Wir verzichten in den Beiträgen auf Sparformen («Schüler/-in»), Doppelformen («Schülerinnen und Schüler»), Sonderzeichen (Gendersternchen, Gendergap etc.) und Binnenversalien («SchülerIn»). Wir wechseln bewusst zwischen den verschiedenen Geschlechtsformen ab. Ein Effekt davon ist, dass es auf sprachlicher Ebene zum Nachdenken anregen kann: «unsere Autorinnen Olivia Kühni und Simon Schmid».
Ausnahmen: Es geht um eine personell klar umgrenzte Gruppe: «Dies sagten Alain Berset, Guy Parmelin und Ueli Maurer in einem Statement. Diese drei Politiker und Bundesräte …» Oder es geht um das wörtliche Zitat aus einer Quelle, wo eine der eingangs genannten Formen verwendet wird.
Übrigens: Unsere traditionelle Anrede «Ladies and Gentlemen» haben wir aufgrund von Feedback und Gesprächen geändert. Wir begrüssen jetzt mit: «Ladies and Gentlemen and everyone beyond».
Man kann trefflich über all das streiten – letztlich sind diese Argumente allesamt Nebenschauplätze.
Zum Argument der Ästhetik: Ob bestimmte Formulierungen schön sind oder nicht, ob Wörter holprig daherkommen oder Sätze in die Länge gezogen werden, ist für die wichtigste Aufgabe von Sprache sekundär. Wir nutzen Sprache, um zu kommunizieren. Und dabei haben wir ein Ziel: Wir wollen verstanden werden.
Wenn Sie eine Tür öffnen wollen, mag es nett sein, wenn Sie einen besonders schön glänzenden Schlüssel haben – wenn er nicht ins Schloss passt, hilft Ihnen das herzlich wenig.
Wir müssen also nicht über Ästhetik sprechen, sondern über Effektivität.
Das zweite Argument, das Kritiker gerne gegen gendergerechte Sprache anführen, ist jenes, dass Frauen mitgemeint seien. Sie argumentieren dabei grammatikalisch: Der «Bürger» sei nur dem grammatischen Geschlecht nach männlich, könne aber dem biologischen Geschlecht nach männlich oder weiblich sein. «Bürger» meine alle Geschlechter. Andere argumentieren schlicht mit dem gesunden Menschenverstand: Es ist doch klar, dass wir Frauen mitmeinen! Mag sein. Auch das ist aber sekundär.
Entscheidend ist, ob die mitgemeinte Person oder Gruppe mit wahrgenommen wird. So, wie Sprache beim Empfänger ankommt, so entfaltet sie ihre Wirkung – ziemlich losgelöst davon, was die Absenderin bezwecken wollte.
Wir müssen also nicht über das Gesagte sprechen, sondern über das Gehörte.
Es geht dabei auch gar nicht so sehr darum, ob Frauen sich wiedererkennen und angesprochen fühlen. Sondern darum, ob die Adressierten generell – egal welchen Geschlechts – Frauen mit wahrnehmen, wenn sie von Lesern, Bürgern, Patienten, Wissenschaftlern hören.
Umfangreiches Forschungsmaterial für mehrere Sprachen – auch für das Deutsche – und mit verschiedenen Methoden zeigt aber konsistent: Wir Menschen denken seltener an Frauen, wenn wir generisch maskuline Formen hören. Bei Lesern, Patienten, Wissenschaftlern denken wir zunächst an Männer.
In einer dieser Untersuchungen sollten deutsche Testpersonen fiktive Figuren («Zwei Vegetarier stehen vor der Metzgerei») näher beschreiben. Sie interpretierten die Figuren bedeutend häufiger als Männer, als wenn gendergerechte Formen wie Vegetarier/innen vorgegeben wurden.
Eine andere Studie zeigt: Deutschsprachige nennen mehrheitlich Männer, wenn man sie nach ihrem Lieblingsmusiker oder nach für das Amt des Kanzlers geeigneten Personen fragt. Sie denken Frauen erst dann vermehrt mit, wenn sie ihren Lieblingsmusiker oder ihre Lieblingsmusikerin oder eine geeignete Person als Kanzler oder Kanzlerin nennen sollen.
Ein Rätsel: Ein Vater und sein Sohn haben einen Autounfall. Der Vater wird dabei getötet, das Kind schwer verletzt. Als das Kind in den Operationssaal gebracht wird, sagt einer der Chirurgen: «Ich kann diese Operation nicht durchführen, dieser Junge ist mein Sohn.» Wie ist das möglich?
Vielen Testpersonen fällt eine Antwort auf diese Frage erstaunlich schwer. Manche denken, der Chirurg sei ein Geist oder der Vater sei nicht wirklich gestorben. Andere denken, der Sohn könnte zwei Väter haben. Auf diese Idee kamen viel mehr Testpersonen als auf die richtige Antwort: Der Chirurg ist die Mutter des Kindes – sie war mitgemeint.
Gerade bei Berufsbezeichnungen liegt der Einwand nahe, dass es nicht die Sprache ist, die diese einseitigen Zuschreibungen bewirkt, sondern stereotype Rollenbilder in der Gesellschaft. Bauarbeiter oder Chirurg nehmen wir als männliche Berufe wahr und denken eher an Männer. Kosmetik umgekehrt wird eher als weiblicher Beruf wahrgenommen, und deshalb denken wir beim Wort Kosmetiker … ebenfalls an Männer. Die generisch maskuline Form ist hier, wie Studien gezeigt haben, offensichtlich stärker als das Klischee. Es ist also die Sprache, die Männer in unsere Köpfe setzt, nicht das Stereotyp.
Nennt die Sprache Frauen mit, nehmen wir sie mental mit wahr. Auch der Bund hält in einem Leitfaden zum Sprachgebrauch fest: «Mit geschlechtergerechten Formulierungen werden Frauen […] sprachlich sichtbar, sie treten in Erscheinung und rücken ins Bewusstsein. […] Denn Sprache und gesellschaftliche Wirklichkeit sind nicht voneinander zu trennen.»
Sprache, die nur Männer sichtbar macht, hat reale Konsequenzen:
Die generisch maskuline Formulierung in der Bundesverfassung von 1848 – «Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich» – war einer der Gründe, mit denen Frauen das Wahlrecht vorenthalten wurde. Eine Petition im Jahr 1928 argumentierte, «Schweizer» meine auch Frauen mit, das Stimmrecht sei deshalb auf Frauen auszudehnen.
Ob die Verfassung Frauen tatsächlich mitmeinte, ist unklar – das männliche Genus wurde dort mal nur für Männer verwendet, mal für Männer und Frauen. Klar ist: Die Verfassung nannte Frauen nicht mit, und so konnte das Bundesgericht die Petition ablehnen.
Erst seit 1971 ist die Schweizerin als Bürgerin gleichberechtigt und der entsprechende Passus umformuliert: «Bei eidgenössischen Abstimmungen und Wahlen haben Schweizer und Schweizerinnen die gleichen politischen Rechte und Pflichten.»
Es ist aber keineswegs so, dass geschlechtergerechte Sprache nur Frauen und nicht-binären Menschen hilft und damit lediglich eine Frage der Gerechtigkeit wäre. Arbeitgeber etwa, die in Stellenausschreibungen nur Männer explizit ansprechen, verschaffen sich einen Nachteil am Markt: Sie limitieren ihre Auswahl bei der Suche nach der am besten geeigneten Person.
Verschiedene Studien zu unterschiedlichen Sprachen haben nämlich gezeigt, dass sich Frauen eher auf Stellen bewerben, wenn sie explizit angesprochen werden. Derselbe Effekt tritt auf bei männlichen Bewerbern für stereotype Frauenberufe, wo in Ausschreibungen teilweise Männer nicht explizit genannt werden.
Auch auf das Image der Arbeitgeber wirkt sich geschlechtergerechte Sprache in Stelleninseraten positiv aus: Sie werden als attraktiver wahrgenommen. Und zwar von allen Geschlechtern. Der Anteil gendergerecht formulierter Inserate stieg in den vergangenen Jahren an – wenn es um wirtschaftliche Nachteile geht, ist die Sprache schnell angepasst.
Manchmal geht es sogar um Leben und Tod. Männer haben bessere Möglichkeiten als Frauen, sich vor dem Coronavirus zu schützen, weil Masken und Schutzkleidung für männliche Körper optimiert sind. Männer haben bessere Chancen als Frauen, einen Herzinfarkt zu überleben, weil die Symptome bei Männern bekannter sind und Medikamente vor allem an Männern erforscht wurden. Männer haben bessere Chancen als Frauen, einen schweren Autounfall zu überleben, weil Autos mit Crashtest-Dummys getestet werden, die der männlichen Anatomie nachempfunden sind.
Nun lässt sich gut argumentieren, dass solche Effekte nicht viel mit Sprache zu tun haben, sondern vielmehr damit, dass Männer in vielen Bereichen immer noch im Vordergrund stehen. Schaut man aber etwas genauer hin, so wird der Zusammenhang mit Sprache sichtbar.
Frauen wurden zu wenig mitgedacht, weil die Forscher, die Ärzte, die Ingenieure über lange Zeit zur Mehrheit Männer waren und die weibliche Perspektive auf die Fragestellungen fehlte. Wie aber kommt es dazu?
Eine offensichtliche Selektion findet bei der Rekrutierung statt: wenn also laut Stelleninserat nur ein «Notfallarzt» gesucht wird und keine «Notfallärztin». Und selbst wenn eine Frau angestellt wird, so hat diese in ihrer Ausbildung häufiger von Patienten gelesen. Sie hat damit die Bedürfnisse von Patientinnen weniger im Blick, als wenn in Lehrbüchern geschlechtergerechte Sprache verwendet würde.
Wir können noch einen Schritt weiter zurück machen, in die Kindheit späterer Ärzte und Ingenieure. Experimente mit Primarschülerinnen und Primarschülern aus Deutschland und Belgien haben gezeigt, dass sich Mädchen weniger für stereotyp männliche Berufe interessieren, wenn sie nur mit der männlichen Bezeichnung konfrontiert werden.
Selbstverständlich ist Sprache allein nicht dafür verantwortlich, dass in vielen Bereichen Männer im Vordergrund stehen, aber: Wenn Mädchen sich vorstellen können, Ärztin zu werden; wenn Medizinstudierende von Patientinnen und Patienten lesen; wenn Medizinerinnen sich angesprochen fühlen vom Inserat des Spitals – dann erkennt am Ende möglicherweise eine Notfallärztin die alarmierenden Symptome und rettet einer Frau das Leben.
Darum: Ja, gendergerechte Sprache ist etwas umständlich. Und vielleicht unschön. Und womöglich stimmt es auch, dass Frauen jeweils mitgemeint sind. Die Forschung jedoch zeigt eindeutig: Wenn Frauen nicht sichtbar gemacht werden, werden sie nur begrenzt wahrgenommen – und das hat Konsequenzen. Dieses Argument muss die anderen ausstechen.
Kommen wir zum Schluss nochmals auf das Stimmungsbild zurück: Hat sich etwas verändert?
Ein besonderer Dank geht an Sharon Funke. Ohne sie wäre dieser Beitrag nicht möglich gewesen.
Ausserdem bedanken wir uns bei JobCloud für die Auswertung von jobs.ch-Stelleninseraten.
Zum Co-Autor
David Bauer ist Journalist und lebt in Zürich. Bis Ende 2019 war er Ressortleiter Visuals bei der «Neuen Zürcher Zeitung», aktuell arbeitet er für das Start-up Refind und entwickelt dessen Inhalts- und Produktstrategie weiter. Jeden Freitag erscheint sein Newsletter Weekly Filet mit dem Besten aus dem ganzen Internet.