Die falsche Katastrophe
Gern sieht sich die Schweiz in der Zuschauerrolle, wenn sich die Unglücke der Weltgeschichte vollziehen. Ihre innere Katastrophenkultur ist nur auf alpine Naturgefahren geeicht. Deshalb hat sie die Pandemie so unvorbereitet getroffen.
Von Peter Utz, 09.06.2020
Wir sind immer die, die davonkommen. So war es über Jahrhunderte: Die Schweiz blieb im Zuschauerraum der Weltgeschichte, die Katastrophen waren die der anderen. Zugleich hat sie im Umgang mit ihren eigenen Naturgefahren zu sich selbst gefunden. Denn die Schweiz ist im 19. Jahrhundert nicht nur dadurch zum modernen Staat zusammengewachsen, dass man partikulären Interessen eine allgemein verbindliche politische Form gab und sich auf eine gemeinsame Geschichte berief. Die Schweiz hat sich als Nation auch in den Gefahren erfunden, die von den Gipfeln drohen: In den Alpen, die man zum Zentralmassiv der eidgenössischen Identität auffaltete, zu dem man von allen Seiten aufblicken kann, stecken auch die potenziellen Katastrophen. Ihnen muss man in gemeinsamer Anstrengung begegnen, und von ihnen kann man immer weitererzählen.
So gehören Bergstürze, Lawinen oder Überschwemmungen seit über zweihundert Jahren zur helvetischen Katastrophenkultur. An dieser inneren Front kann sich die Schweiz immer wieder neu als «Schicksalsgemeinschaft» erleben und als «Willensnation» bewähren.
Verstrickungen in die äusseren Konflikte Europas dagegen bedrohen die multikulturelle Schweiz in ihrem inneren Zusammenhalt. Umso entschiedener zieht man sich auf den scheinbar neutralen «Schweizer Standpunkt» zurück, wie ihn Carl Spitteler in seiner jüngst wieder gefeierten Rede von 1914 fixiert hat. Es ist der Zuschauerraum, oder jener «Balcon sur l’Europe», von dem aus der Westschweizer Journalist Pierre Béguin im Jahr 1950 die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg dargestellt hat.
Klar sind wir am liebsten Zuschauer, in jener klassischen Rollenteilung, die uns die vertrauten Katastrophen zuweisen: Wo Berge rutschen oder Flüsse über die Ufer treten, gibt es die unschuldigen Opfer, die heldenhaften Helfer und die Zuschauerinnen, die beiden ihr Mitleid und ihre Bewunderung spenden. Sie sind meist nicht direkt vor Ort, wenn ein Erdrutsch oder eine Lawine die Unschuldigen trifft, sondern sie nehmen über Erzählungen und Bilder Anteil, die sie aus der Ferne zur materiellen Hilfe für die Opfer und für den Wiederaufbau motivieren.
Das galt schon bei der ersten grossen Katastrophe des 19. Jahrhunderts in der Schweiz, dem Bergsturz von Goldau von 1806: Der Maler Franz Xaver Triner wurde mit der Herstellung von offiziellen Katastrophenbildern beauftragt, die zugunsten der Opfer in einer ersten nationalen Sammelkampagne gezeigt und verkauft wurden.
Die Katastrophe eräugnet sich
Erst als Bild wird die Katastrophe zum kulturellen und medialen Ereignis. Beim Begriff Ereignis hörte man im Deutschen noch im frühen 19. Jahrhundert etymologisch mit, dass da etwas sich eräugnet, also vor die Augen kommt. Die Bildhaftigkeit der Katastrophe erlaubt uns, sie mental zu rahmen, sie einzubauen in unsere Kultur. Sie kann integriert werden in das kollektive Gedächtnis und in jene Erinnerungsrituale, auf die sich die imaginierte Gemeinschaft der Nation stützt.
In diesem Rahmen kann die Bewältigung von Katastrophen zum Ritual der Selbstversicherung werden: Als im Walliser Dorf Gondo im Oktober 2000 eine Schlammlawine dreizehn Menschen tötet und zehn Häuser zerstört, überfliessen die Spendenkonten, und noch ein halbes Jahr später gibt eine Mehrheit von befragten Bürgerinnen der Romandie an, bei diesem Ereignis hätten sie sich zum letzten Mal als Schweizer gefühlt. Beim Bergsturz von Bondo im Jahr 2017 fliegt Bundespräsidentin Doris Leuthard zum Schuttkegel, und die Glückskette bringt schnell sechs Millionen zusammen.
So kann sich die Schweiz in ihrer Katastrophenkultur selbst erkennen – und international Anerkennung finden: Seit 2018 steht der «Umgang mit der Lawinengefahr» auf der Unesco-Liste des «immateriellen Kulturerbes der Menschheit».
Das grosse Durcheinander
Die Katastrophenbewältigung haben die Schweizerinnen und Schweizer also eigentlich fest eingebaut in ihren genetischen Code. Doch für das neue Virus scheint dieser nicht gerüstet. Trotz allem entsprechenden Erfahrungswissen überrascht uns die aktuelle Krise. Unsere Verunsicherung ihr gegenüber lässt sich auch damit erklären, dass wir die Pandemie nicht in unsere eingeübten Schemata von Wahrnehmung, Darstellung und Deutung von Katastrophen einbauen können.
Das beginnt schon mit unserer eigenen Rolle, die sich nicht klar definieren lässt: Zwar traten wir als applaudierende Zuschauerinnen auf unsere Balkone. Damit wollen wir nicht nur jene «Helden» unterstützen, die sich gemäss der traditionellen Rollenteilung an unserer Stelle an der «Front» der Katastrophe einsetzen. Wir versuchen damit auch, uns in die bewährte Zuschauerrolle zu flüchten. Bloss sind wir in diesem Fall alle auch potenzielle Opfer, ja vielleicht sogar Mittäterinnen, indem wir das Virus übertragen. Es gibt also diesen Zuschauerstandpunkt nicht mehr, so wenig wie ihn die Schweiz als ganze für sich reklamieren kann. Denn die Pandemie ist universell und macht vor keinen nationalen Grenzen halt, sosehr man diese dichtzumachen versucht hat.
Sie ist aber auch kein Ereignis im Wortsinn, denn sie «vor Augen» zu bringen, ist nur sehr schlecht möglich. Das Virus ist unsichtbar, selbst wenn sein Bild als gigantisches Logo in eigenartiger Pracht wie ein mutierter Weihnachtsstern allabendlich am Himmel der «Tagesschau» aufgeht. Die Bilderflut, der wir uns täglich auf allen Kanälen aussetzen, bleibt immer nur an den peripheren Erscheinungen hängen – in ihrem Zentrum ist sie so leer wie die Strassen der Metropolen zu Lockdown-Zeiten. In ihrem viralen Kern ist diese Katastrophe für uns nicht wahrnehmbar, und deshalb wirkt sie erst recht unheimlich.
Eine neue Zeitlogik
Zudem sprengt die Pandemie die Zeitdimension unserer traditionellen Katastrophenerfahrung – auch diesbezüglich ist sie kein Ereignis. Eine Flut oder ein Erdbeben spaltet die Zeit in ein Vorher und ein Nachher auf, wie dies mit Katastrophenbildern gelegentlich sichtbar gemacht wird, indem sie direkt gegeneinander montiert werden. Diesen Bruch in der Zeit überbrücken dann die traditionellen Katastrophenerzählungen in Text oder Film mit ihren Narrativen: Sie bringen nach dem Schock die Zeit wieder zum Laufen.
Die Zeitlogik der aktuellen Pandemie dagegen ist uns noch nicht bekannt; in einer Fernsehreportage hat ein amerikanischer Zeitzeuge neulich erklärt, man fühle sich wie inmitten eines enorm verlangsamten Erdrutsches. Das zeigt die Schwierigkeit, diese neue, verstörende Erfahrung in eine alte, vertraute Zeitlogik zu übersetzen. In ihr hatte das katastrophale Ereignis einen Zeitpunkt markiert, der in unsere Agenden und in unsere Lebenszeit eingebaut werden konnte. Doch nun wird schon der Begriff selbst unsicher: Handelt es sich überhaupt um eine punktuelle Katastrophe oder doch eher um eine anhaltende Krise? Ein als Datum fixiertes «9/11» gewährt uns die Corona-Pandemie jedenfalls nicht, und wann ihr Nachher beginnt, kann heute keiner sagen.
Zu selten, zu fremd
Auch in der längeren historischen Zeit ist die gegenwärtige Situation ohne eine Referenz, auf die wir uns beziehen und stützen könnten, um sie zu bewältigen. In unserer Gesellschaft bleiben Bedrohungslagen präsent, wenn sie sich mindestens einmal pro Generation in Katastrophen manifestieren. Bilder, literarische Zeugnisse, Filme, aber auch die mündliche Tradition halten die Erinnerung aufrecht, machen sie zum Teil des kollektiven Gedächtnisses. Das gilt etwa für jene Überschwemmungen, die in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert immer wieder gewaltige Anstrengungen im Wasserbau motiviert haben.
Auch die Lawinen sind in der Schweiz längst kulturell heimisch, ja vertraut geworden. Erdbeben hingegen, eigentlich auch in der Schweiz die potenziell folgenreichste Naturgefahr, haben in unserem kulturellen Bewusstsein keinen Platz gefunden, anders als etwa in Japan.
Die Frequenz von Erdbeben ist hierzulande zu gering, deshalb nimmt man sie nicht nur bautechnisch zu wenig ernst. Selbst die Versicherungen, die – parallel zur Katastrophenkultur – in der Schweiz zu einem eigenen Dienstleistungssektor mit weltweiter Reichweite ausgebaut worden sind, haben sie in den meisten Kantonen nicht in die Gebäudeversicherung integriert: Die Mehrheit der Schweizer Häuser ist nicht gegen Erdbeben versichert.
Ebenso wenig betroffen fühlte sich bis anhin die überwältigende Mehrheit der Schweizer Bevölkerung von der Gefahr einer Pandemie, und entsprechend fehlt auch hier meist der Versicherungsschutz für wirtschaftliche Folgen. Obwohl die Übungsszenarien der helvetischen Katastrophenstäbe in den letzten Jahrzehnten mit einer Pandemie rechneten, sind konkrete Vorbeugemassnahmen offensichtlich nicht umgesetzt worden, weil die direkte Erfahrung oder kulturelle Zeugnisse für den Umgang mit dieser Gefahr bei uns, anders als in asiatischen Kulturen, fehlten. Gegen Corona hat man keine Dämme errichtet.
Widerwilliger Blick zurück
Fast hilflos tastet man sich deshalb in die Vergangenheit zurück, sucht Orientierung in der kulturellen und geschichtlichen Erfahrung. Dabei stösst man, schon hundert Jahre entfernt und damit ausserhalb der Reichweite mündlicher Traditionen, auf die Spanische Grippe von 1918. Nur ist diese Pandemie in der Schweiz nie zu einer historischen und kulturellen Referenz geworden. Denn nicht nur überlagerte sie sich mit dem Ende des Ersten Weltkriegs, dieses brachte mit dem Landesstreik auch die sozialen Gegensätze brutal ans Licht. Ja, die Grippewelle wurde durch das Truppenaufgebot gegen die Streikenden noch verstärkt. Kein Ruhmesblatt der helvetischen Katastrophenbewältigung, sondern im Gegenteil ein politisch-gesellschaftliches Desaster. Umso schneller wollte man dieses desintegrative Ereignis vergessen, und es wurde entsprechend auch nur selten in Bild, Text oder Film dargestellt.
Dennoch zeigte die Grippewelle von 1918 soziale Spannungen und Ungleichheiten an, so wie jede Katastrophe im alten, fast biblischen Sinne einer Offenbarung ja auch aufdecken kann, welche inneren Spannungen und Widersprüche in einer Gesellschaft stecken. Dies ist mit anderen Vorzeichen auch heute der Fall: Dass die helfenden «Helden» nicht nur beklatscht, sondern auch real besser entlohnt werden möchten, ist nur die erste Zeile jener enormen gesellschaftlichen Rechnung, welche uns das Virus präsentiert.
Gegen all das, was nun an Differenzen aufbricht, beschwört man, wie immer in solchen Momenten, die «Solidarität», und im Rückgriff auf ein bewährtes Ritual wurde auch gleich die Glückskette mobilisiert. Doch das patriotische Fieber, das man traditionell dadurch anheizen konnte, will nicht steigen. Auch diese «Übertragungskette» scheint unterbrochen. Denn jenes nationale Zusammenstehen, das Katastrophen immer ausgelöst haben, wird nun im körperlichsten Sinn verunmöglicht: Social Distancing statt Schulterschluss. Corona fordert die helvetische Katastrophenkultur auch diesbezüglich fundamental heraus: Jene integrativen Rituale, durch welche sich die Gesellschaft in den traditionellen Katastrophen als ein Ganzes definieren konnte, muss der Staat nun ausgerechnet im Interesse des Ganzen verbieten.
In einer früheren Version haben wir vom «Bergsturz im Val Bondo» geschrieben. Richtig muss es «Bergsturz von Bondo» heissen. Wir entschuldigen uns für den Fehler.
Peter Utz lehrte von 1987 bis 2019 als Professor für neuere deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Er forscht zur Schweizer Literatur, besonders zu Robert Walser, zum literarischen Übersetzen, zum Feuilleton und zu Katastrophendarstellungen in der Literatur. 2013 erschien sein Buch «Kultivierung der Katastrophe. Literarische Untergangsszenarien aus der Schweiz»; 2017 kam eine erweiterte Fassung in der Übersetzung von Marion Graf heraus.