«Die Zielscheiben wechseln – aber im Visier sind immer Menschen, die als Fremde, als andere dargestellt werden»
Fremdenhass, geschlossene Grenzen, Elitenkritik: Vor 50 Jahren scheiterte die Schwarzenbach-Initiative knapp, ihre Folgen aber sind bis heute sichtbar, und nicht nur hierzulande. Ein Gespräch mit dem Historiker Damir Skenderovic.
Von Daniel Binswanger (Text) und Maurice Haas (Bilder), 05.06.2020
Überfremdung: Es ist ein Unwort, das heute keine Partei der Schweiz mehr offiziell in Anspruch nehmen will – und das die Geschichte dieses Landes doch entscheidend geprägt hat.
Am 7. Juni 1970 stimmten die Schweizer Bürger über die sogenannte Überfremdungsinitiative ab und verwarfen sie relativ knapp mit 54 Prozent Nein-Stimmen. James Schwarzenbach, der Vater der Initiative, wurde nicht nur zu einer der populärsten politischen Figuren seiner Zeit, er bereitete einem neuen Politikstil, einer neuen Radikalität, einer neuen politischen Agenda den Weg. War er der grosse Vorreiter des heutigen Rechtspopulismus? Ein Gespräch mit Damir Skenderovic, dem führenden Experten für die Geschichte der radikalen Rechten in der Schweiz.
Herr Skenderovic, die Schweiz feiert am Wochenende ein unerfreuliches Jubiläum: den Jahrestag der sogenannten Überfremdungsinitiative, die vor genau einem halben Jahrhundert zur Abstimmung kam.
Es ist interessant, wie stark dieses «Jubiläum» die Öffentlichkeit beschäftigt, unter anderem ja auch die Republik. Es ist meines Wissens das erste Mal in der Schweizer Geschichte, dass ein negatives Erinnerungsereignis einen solchen Jubiläumsstatus bekommt, im Übrigen nicht nur in der Schweiz, sondern auch im Ausland. Die italienische Botschaft organisiert ein Symposium und lädt internationale Expertinnen und Experten ein, um zum «Schwarzenbach-Jahrestag» zu sprechen.
Wie deuten Sie dieses Phänomen? Wird die Überfremdungsinitiative einfach als ein so negatives Ereignis wahrgenommen, dass man sich davon aktiv distanzieren will, oder spielt hier auch eine gewisse Ambivalenz hinein?
Ich glaube, es kommen zwei Faktoren zum Tragen: Zum einen hat die inzwischen weitgehend durchgeführte Aufarbeitung der Schweizer Geschichte von Xenophobie und Rechtspopulismus dazu geführt, dass man sich diesem Ereignis heute stellen kann und stellen muss. Inzwischen kommt man nicht mehr darum herum zu sagen: Ja, das ist ein Teil der Geschichte der Schweiz. Verdrängen geht nicht mehr. Zum anderen stellt sich natürlich, wie immer in der Erinnerungspolitik, die Frage nach den Kontinuitäten. Die Jubiläumsanstrengungen kommunizieren uns auch: Diese Geschichte ist nicht vorbei. Natürlich gibt es Transformationen, Hybridisierungen, neue Feindbilder und Zielobjekte der Xenophobie. Aber sie geht weiter. Das gibt dem Jubiläum seine Brisanz. Allerdings ist auch zu erwähnen, dass der Widerstand gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus tendenziell an Bedeutung gewinnt. Dies ist jedoch bisher historisch in der Schweiz noch wenig erforscht worden.
Damir Skenderovic, 55, ist Schweizer Historiker und Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg. Skenderovic gilt als der führende Experte für Rechtsradikalismus und Rechtspopulismus in der Schweiz und hat 2009 die zum Standardwerk gewordene Studie «The Radical Right in Switzerland. Continuity & Change, 1945–2000» publiziert. Letztes Jahr gab er gemeinsam mit Barbara Lüthi den Sammelband «Switzerland and Migration» heraus.
Als Steve Bannon vor zwei Jahren in Zürich war, hat er zur Begeisterung des anwesenden Publikums gesagt, Donald Trump habe einen grossen Schweizer Vorgänger, und das sei Christoph Blocher. War der eigentliche Schweizer Vorläufer von Trump nicht James Schwarzenbach, war nicht schon er ein früher Repräsentant des heutigen Rechtspopulismus?
Sowohl Schwarzenbach als rechtspopulistische Leaderfigur als auch die Nationale Aktion, die Republikanische Bewegung und all die anderen Kleinparteien in ihrem ideologischen Umfeld spielen in der Geschichte des europäischen, wenn nicht des weltweiten Rechtspopulismus eine unbestreitbare Vorläuferrolle. Die Schweiz bildete die Avantgarde des Rechtspopulismus, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen handelte es sich um die ersten Parteien in der Nachkriegszeit, welche die Migration zum alles dominierenden Zentrum ihrer politischen Agenda machten. Schwarzenbach war damals die erste Leaderfigur, die ausschliesslich deshalb populär wurde, weil sie die Migrationspolitik bewirtschaftete. Die Nationale Aktion ging praktisch vollständig auf in ihrer Anti-Ausländer-Agenda. Zum anderen kam noch ein weiteres Element hinzu: der Anti-Establishment-Diskurs. Schwarzenbach selber war zwar aus einer Grossindustriellenfamilie, hatte ein Geschichtsdoktorat der Universität Freiburg und gehörte zur obersten gesellschaftlichen Elite. In seinem Diskurs schoss er aber mit einer neuen, extrem radikalen Rhetorik gegen ebendiese Elite – ein Widerspruch, den wir ja auch von heutigen Rechtspopulisten kennen. Mit dieser politischen Agenda – im Wesentlichen Elitenkritik und Fremdenfeindlichkeit – hatte Schwarzenbach bereits das ideologische Profil, das auch für den heutigen Rechtspopulismus bestimmend ist.
Gibt es nicht noch eine weitere wichtige Parallele? Schwarzenbach war nicht nur eine starke Leaderfigur, sondern ein eigentliches Medienphänomen.
Auch auf der Ebene der Vermittlungsinstrumente und der kommunikativen Strategien hat Schwarzenbach vieles vorweggenommen. Man muss sich bewusst sein, dass Ende der Sechziger-, Anfang der Siebzigerjahre der Durchbruch des Fernsehens zum Massenkommunikationsmittel stattfand. Das war eine mediale Revolution, die völlig neue Möglichkeiten schuf, sich politisch in Szene zu setzen. Für die Parlamentswahlen 1971 hat die SRG zum Beispiel erstmals offizielle Wahlkampfspots produziert, in denen alle Schweizer Parteien Sendezeit für ihre Propaganda bekamen. Auch die Schweizerische Republikanische Bewegung, wie Schwarzenbachs Partei damals hiess, bekam ihren Spot. Er wusste das Fernsehen zu nutzen.
Schwarzenbach umwitterte die Aura des Einzelgängers und des Grandseigneurs. Aber er wurde getragen von einer sehr breiten Bewegung. Es gab ein weitläufiges ideologisches Umfeld. Wie muss man sich dieses Umfeld vorstellen?
Die ersten parteiförmigen Ursprünge gehen auf das Jahr 1961 zurück. Eine Bürgerinitiative in Winterthur, im Umfeld der Arbeiterschaft der Sulzer-Werke, gründete die «Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat» und machte sich durch Plakate bemerkbar. 1963 entstehen vor allem im Kanton Zürich weitere Kleinstparteien mit verwandter Agenda, hauptsächlich in Reaktion auf das sogenannte Italienerabkommen, das der Bundesrat mit Rom abschliessen wollte und das bei der Integration von Arbeitsmigranten aus Italien Verbesserungen bringen sollte.
Welche migrationspolitischen Veränderungen brachte das Italienerabkommen konkret?
Es wurde 1964 nach langjährigen Verhandlungen zwischen Italien und der Schweiz abgeschlossen und führte dazu, dass die Umwandlung des Aufenthaltsstatus vom Saisonnier zum Jahresaufenthalter erleichtert wurde, dass sich die Sozialleistungen verbesserten und dass der Familiennachzug schneller möglich wurde.
Dann gab es also mindestens in der Schweizer Regierung durchaus einen Willen zu besserer Ausländerintegration?
Das Abkommen kam vor allem aufgrund des grossen Drucks von Italien zustande. Die Schweiz war sehr zurückhaltend und hat sich lange geziert. Es betraf auch nur die italienischen Arbeitskräfte, die weit davon entfernt waren, die einzige Migrantengruppe in der Schweiz zu sein. Und das Italienerabkommen löste eine heftige politische Gegenwehr aus.
Und diese Gegenwehr führte zur Überfremdungsinitiative?
Die erste Überfremdungsinitiative wurde schon 1965 durch die gut etablierten Zürcher Demokraten eingereicht, die später in der FDP aufgehen sollten. Im Nachgang zum Italienerabkommen entstanden aber auch andere relativ ephemere Kleinstparteien, die sehr radikal und fremdenfeindlich waren. Sie trugen Namen wie «Schweizerische Volksbewegung gegen die Überfremdung» oder «Partei gegen die Überfremdung durch Südländer». Sie hatten bei den Wahlen zwar sehr geringen Erfolg, aber sie bildeten den Nährboden für das spätere Erblühen der Nationalen Aktion unter der Führung von Schwarzenbach.
Die Schweiz ist ein konservatives Land. Viele politische Entwicklungen – zum Beispiel die Einführung der AHV oder des Frauenstimmrechts – haben wir gegenüber dem übrigen Europa mit mehreren Jahrzehnten Verspätung vollzogen. Beim Rechtspopulismus jedoch waren wir die Avantgarde. Wie erklären Sie sich das?
Ein erster Grund liegt darin, dass die Schweiz nicht durch eine faschistische Vergangenheit belastet war. Da das Land nie ein nationalsozialistisches oder ein faschistisches Regime gekannt hatte und da es während des Zweiten Weltkriegs auch nicht besetzt wurde, schien dieser Schatten nicht über seiner Geschichte zu hängen. Als die Schwarzenbach-Initiative zur Abstimmung kam, hat zum Beispiel die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» geschrieben, dass «Blut und Boden»-Ideen in der Schweiz Verbreitung fänden und von Teilen der schweizerischen Bevölkerung befürwortet würden. Sie bezeichnete die Überfremdungsinitiative als «faschistoid». In der Schweizer Debatte über die Überfremdungsinitiative spielte dieser Begriff hingegen kaum eine Rolle. In anderen europäischen Ländern waren offener Rassismus und Xenophobie aufgrund der Geschichte des Zweiten Weltkrieges damals viel stärker tabuisiert als bei uns.
Aber so vollkommen unvorbelastet ist doch auch die Schweizer Geschichte nicht.
Natürlich, das ist der zweite Grund: die Kontinuitäten. Das zeigt sich in geradezu paradigmatischer Weise am Diskurs über «Überfremdung». In Deutschland war der Begriff Überfremdung nach dem Zweiten Weltkrieg ein No-Go. In der Schweiz konnte er sich halten und zum Kampfbegriff avancieren, nicht zuletzt, weil er in der Schweiz erfunden wurde.
Woher kommt der Begriff?
Er wurde 1900 eingeführt vom Zürcher Armensekretär Carl Alfred Schmid. Unter Intellektuellen richtete sich der Begriff damals zum Beispiel gegen die Dominanz deutscher Schriften im Schweizer Buchhandel, er attackierte eine ausländische, in der Schweiz produzierende Elite. Einen ersten Höhepunkt erlebt der migrationspolitische Überfremdungsdiskurs erst nach dem Ersten Weltkrieg, in den Zwanziger- und Dreissigerjahren, wo er eine primär antisemitische Ausrichtung hatte und die Basis legte für die Schweizer Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg. Dieses Erbe konnte von Schwarzenbach in den Sechzigerjahren reaktiviert werden. Es war intakt, unhinterfragt. Auch die Person Schwarzenbachs steht ja für gewisse Kontinuitäten.
Was meinen Sie?
Schwarzenbach war in den Dreissigerjahren Mitglied der Nationalen Front, also der Partei der Schweizer Anhänger des Nationalsozialismus. In seinem späteren Leben hat er jedoch immer bestritten, Frontist gewesen zu sein, und hat sich mit Erfolg juristisch gewehrt gegen Journalisten, die ihn früherer Sympathien für Nationalsozialismus und Faschismus und einer Frontenmitgliedschaft bezichtigten.
Wie ist das möglich?
Es lagen zu seinen Lebzeiten keine Beweise vor. Es war zwar aktenkundig, dass er in der Nationalen Front, also dem Organ der Frontisten, flammende Artikel veröffentlicht hatte, aber Schwarzenbach hat immer abgestritten, auch Mitglied der Partei gewesen zu sein. Erst lange nach seinem Tod hat der Historiker Thomas Buomberger Polizeiakten gefunden, die entstanden, als Schwarzenbach 1934 festgenommen wurde, weil er mit Mitstreitern eine Vorstellung des antinazistischen Kabaretts Pfeffermühle gestört hatte, und in denen er selber zu Protokoll gab, dass er Mitglied war bei der Nationalen Front.
Ist es nicht erstaunlich, dass ein so wichtiger Schweizer Politiker eine Vergangenheit als Nazi-Sympathisant hat und man es öffentlich nicht einmal sagen darf?
Sie sollten nicht vergessen, dass 1975 drei Mitglieder des Nationalrates ehemalige Frontenmitglieder waren. Nicht nur Schwarzenbach, sondern auch Mario Soldini, der ehemalige Sekretär des Genfer Faschisten Georges Oltramare, der für Vigilance im Parlament sass, und Walter Jäger-Stamm, der bei der Nationalen Aktion war. Drei ehemalige Frontisten im Nationalrat: Das hat nie einen Aufruhr oder eine Debatte ausgelöst. Ich glaube, man kann das Phänomen Schwarzenbach und den Erfolg der Überfremdungsinitiative nicht verstehen, wenn man nicht auch den damaligen Umgang mit der eigenen Vergangenheit mit in Betracht zieht.
Ist mangelnde Vergangenheitsbewältigung wirklich die Erklärung für den frühen Siegeszug der Xenophobie in der Schweiz?
Natürlich gab es auch systemische Gründe, insbesondere die direkte Demokratie. Sie stellt nun einmal ein ideales Instrumentarium dar, um den Volkswillen gegen die Elite auszuspielen. Auch Schwarzenbach ist gross geworden mit seiner Initiative, nicht mit erfolgreicher Parteipolitik oder Parlamentsarbeit. In der Schweiz ist die direkte Demokratie das unbestrittene Fundament des politischen Systems, und noch heute blicken alle Rechtspopulisten in Europa neidvoll auf schweizerische Volksabstimmungen und fordern mehr direkte Demokratie für ihre Länder. Es gibt also auch einen institutionellen Grund, weshalb in der Schweiz der Rechtspopulismus schon früh politische Macht entfalten konnte.
Aber gab es nicht auch ganz banale, realpolitische Gründe für den Erfolg der Überfremdungsinitiative, nämlich die Tatsache, dass es in der Hochkonjunktur der Sechzigerjahre eine sehr starke Arbeitsmigration in die Schweiz gab und dass das an einem gewissen Punkt einen Backlash begünstigte?
Hier kommen wir in die Diskussion, wie stark der reale Ausländeranteil überhaupt einen Einfluss auf die Xenophobie hat. Wir wissen ja, dass das historisch kaum korreliert. Eine Hochphase des Überfremdungsdiskurses bildeten die Zwanziger- und die Dreissigerjahre, als es so wenige Ausländer in der Schweiz gab wie sonst nie im 20. Jahrhundert. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, in den Fünfzigerjahren, nahm die Arbeitsmigration in die Schweiz wieder zu. Diese Zahlen konnte man dann natürlich verwenden, um gegen Ausländer Stimmung zu machen – und sie wurden auch verwendet.
Es gibt doch noch ein weiteres Element für den Erfolg von Schwarzenbach, auf dem zum Beispiel der von Ihnen bereits erwähnte Thomas Buomberger insistiert. Er sagt: Die Linke hat den Boden bereitet. Die Schweizer Linke war ebenfalls Trägerin des Überfremdungsdiskurses.
Das ist ein wichtiger Punkt. In den Gewerkschaften und der Schweizer Linken gibt es schon früh eine Kritik an der staatlichen Ausländerpolitik und der Arbeitsmigration. Das beginnt bereits Ende des 19. Jahrhunderts, als es in Zürich und Bern zu Krawallen gegen Ausländer kommt, also zum Käfigturm- und zum Italiener-Krawall. Die sogenannten Grütlianer, eine nationalistische Gruppierung der schweizerischen Arbeiterbewegung mit einer eigenen Zeitschrift, wetterten schon damals massiv gegen italienische Immigranten. Ende der Fünfzigerjahre herrscht dann in den Schweizer Gewerkschaften tatsächlich ein sehr migrationskritischer Diskurs vor. Das ist zwar leider von der Geschichtsforschung noch wenig aufgearbeitet, aber man weiss, dass an den verschiedenen Kongressen des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes immer wieder scharf gegen die zu hohe Arbeitsmigration geschossen wird. Der Tenor ist stets derselbe: Ausländer führen zu verschärfter Konkurrenz um Arbeitsplätze und zu Lohndumping. Wenn die Italiener kommen, werden die Löhne gedrückt. Und es gab in der linken Mobilisierung gegen die Einwanderer auch ein kulturalistisches Moment: Es hiess, die arbeiten anders, die sind nicht fleissig, auf die kann man sich nicht verlassen.
Das Lohndumping-Argument war vermutlich auch nicht ganz falsch. Es gab schliesslich keine flankierenden Schutzmassnahmen, so wie sie heute existieren. Hat die Migration die Löhne nicht tatsächlich gedrückt?
Davon ist auszugehen. Aber dann wären die Adressaten der Kritik ja eigentlich eher die Arbeitgeber gewesen und nicht die Migranten. Die Gewerkschaften hätten auch sagen können: Es gibt Lohndumping, und deshalb müssen wir schauen, dass auch die ausländischen Arbeiter mehr Lohn bekommen und dass alle Arbeiter sich solidarisch erklären gegen unfaire Bedingungen.
Die Gewerkschaften hätten sich also für die Löhne der Ausländer starkmachen müssen?
Nach heutigem Kenntnisstand ist das kaum geschehen. Man hat den Eindruck, dass die internationalistische Klassensolidarität in den Schweizer Gewerkschaften ab den Dreissigerjahren immer weniger zum Tragen kam, was mit dem Friedensabkommen und der in der Folge sehr gut gelingenden nationalen Einbindung der Gewerkschaften und der Sozialdemokraten zu tun haben dürfte. Noch in den Sechziger- und Siebzigerjahren spielte so etwas wie eine nationale Verteidigungshaltung auch für einen Teil der Schweizer Linken eine wichtige Rolle.
Die Schwarzenbach-Initiative wurde abgelehnt, die von ihm gewollte Verfassungsänderung wurde an der Urne verworfen. Hatte Schwarzenbach überhaupt einen Einfluss auf die Schweizer Einwanderungspolitik, so wie sie de facto gestaltet wurde?
Die Initiative wurde abgelehnt, aber es war knapp. Für die Einwanderungspolitik wurde vor allem wichtig, dass der Bundesrat ein paar Wochen vor der Abstimmung eine Pressekonferenz gab und einige der Forderungen von Schwarzenbach, vor allem die zentrale Forderung der Plafonierung der Einwanderungen, in vorauseilendem Gehorsam zu erfüllen versprach. Schwarzenbach wollte, dass nicht mehr als 10 Prozent der Wohnbevölkerung aus Ausländern bestehen dürfen, was dazu geführt hätte, dass 300’000 Menschen die Schweiz hätten verlassen müssen. Die von der Regierung angestrebte Plafonierung war zwar viel moderater, aber dennoch eine grosse Konzession. Allerdings war es auch schon davor nicht so, dass jeder, der wollte, einfach in die Schweiz kommen und arbeiten konnte. Es gab schon vorher Kontingente.
Schon vor der Schwarzenbach-Initiative zeigte die Landesregierung ja immer grosses Verständnis für Unmut gegen Zuwanderung. Eine erste Initiative gegen Überfremdung wurde 1965 von den Zürcher Demokraten lanciert und 1967 zurückgezogen, weil man zufrieden war mit den Konzessionen, die der Bundesrat schon damals gemacht hatte.
Auch in der Debatte über die Überfremdungsinitiative im Nationalrat wurde ständig gesagt, man habe für das Anliegen Verständnis. Der Tenor lautete: Man muss dem Rechnung tragen, es ist selbstverständlich, dass nicht zu viele Ausländer kommen sollen. Man betrachtete es allgemein als problematisch, dass der Ausländeranteil am Steigen war. Im Nachgang zur Abstimmung, und zwar bis in die Achtziger-, Neunzigerjahre, hat die knappe Ablehnung der Überfremdungsinitiative die Schweizer Ausländerpolitik auf alle Fälle beeinflusst. Hier manifestiert sich ein Grundzug der Schweizer Direktdemokratie, der immer wieder eine Rolle spielt: Ein Druckversuch mittels Initiative kommt zwar nicht durch, aber die Behörden, die Regierung und ein Teil des Parteienspektrums nehmen den Impuls auf und machen Konzessionen an die Minderheitenposition. Es wurde darauf hingewiesen, dass 46 Prozent der Bürger der Überfremdungsinitiative zugestimmt hatten und dass das berücksichtigt werden müsse bei der Gestaltung der Migrationspolitik.
Wie zeigte sich das konkret?
In der Bewilligungspraxis, etwa beim restriktiven Umgang mit dem Familiennachzug. Oder auch auf Verwaltungsebene: Nach der Ablehnung der Überfremdungsinitiative wurde die sogenannte «Eidgenössische Konsultativkommission für das Ausländerproblem» ins Leben gerufen. Man stellte sich auf den Standpunkt, dass es Schwierigkeiten gebe mit der Ausländerpolitik und dass man deshalb eine Expertenkommission benötige. Zwei Mitglieder dieser Kommission gehörten der Nationalen Aktion an. Auch hier galt die Devise: Alle Lager müssen eingebunden werden.
Der Historiker, SVP-Nationalrat und «Weltwoche»-Redaktor Peter Keller hat kürzlich auf der SVP-Website eine Hommage an James Schwarzenbach veröffentlicht, in der er schreibt, die Überfremdungsinitiative habe die Schweizer Migrationspolitik von 1970 bis 2002 fundamental geprägt. Aufgrund der Initiative sei die Ausländerpolitik durch Kontingente geregelt worden. Erst die Personenfreizügigkeit habe 2002 das Erbe Schwarzenbachs infrage gestellt. Jetzt gelte es, mit der Begrenzungsinitiative wieder zum Status quo vor 2002 zurückzukehren.
Aus der Perspektive von Peter Keller ist das schlüssig. Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass zu Schwarzenbach zurückgekehrt werden soll. Ich erinnere daran, dass 1994 eine ähnliche Initiative wie die Überfremdungsinitiative unter anderem vom späteren FDP-Parteipräsidenten Philipp Müller lanciert wurde. Das war auch eine Begrenzungsinitiative, nur dass Müller und seine Mitstreiter die ausländische Wohnbevölkerung auf 18 Prozent begrenzen wollten, während Schwarzenbach einen maximalen Ausländeranteil von 10 Prozent anstrebte. Aber es ist natürlich schon bezeichnend, dass die heutige SVP-Politik explizit ans Erbe von Schwarzenbach anschliessen will.
Weshalb?
Mit Schwarzenbach hat die Schweiz im europäischen Kontext eine Avantgarde-Rolle gespielt. Etwas Analoges ist geschehen, als sich die SVP in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre unter Führung von Christoph Blocher und seines Zürcher Flügels von einer Schweizer Volkspartei in eine rechtspopulistische Partei verwandelte. Nirgendwo sonst in Europa konnten rechtspopulistische Kräfte so schnell ihren Wähleranteil steigern wie in der Schweiz. Wie schon Schwarzenbach kam auch Blocher die Eigenheit des Schweizer Politiksystems zugute, das auf Konsens und die Integration aller Kräfte ausgerichtet ist. In anderen europäischen Ländern gab es zwar auch erste rechtspopulistische Bewegungen, aber die dortigen Traditionsparteien verfolgten eine Strategie des cordon sanitaire. Sie blieben zu den Rechtspopulisten auf Distanz. In der Schweiz galt wie immer die Devise: Wir müssen diese Wählerschaften integrieren. Das hatte schliesslich auch für andere Länder eine Signalfunktion. Heute haben die bürgerlichen Traditionsparteien in den meisten europäischen Ländern die Strategie des cordon sanitaire aufgegeben.
Es gibt doch aber auch klare Unterschiede in der ausländerpolitischen Ausrichtung der Schwarzenbach-Bewegung und der späteren SVP. Bei Schwarzenbach geht es ausschliesslich um Arbeitsmigration, mit einer obsessiven Fixierung auf die Italiener. Später standen ganz andere Migranten im Vordergrund.
Sicher, die Zielscheiben wechseln. In den Zwanziger- und Dreissigerjahren waren es die osteuropäischen Juden, in den Sechzigerjahren die Italiener, in den Achtzigern die Tamilen, in den Neunzigern die Jugoslawen beziehungsweise Ex-Jugoslawen und seit 2001 die Muslime. Aber ich würde das nicht zu hoch gewichten. Ich denke, es ist nicht entscheidend, gegen welche spezifische Gruppe sich die Fremdenfeindlichkeit jeweils richtet. Im Visier sind immer Menschen, die als Fremde, als andere dargestellt werden.
Bei Schwarzenbach ging es um Arbeitsmigration. In den Neunzigerjahren ging es hauptsächlich ums Asylwesen.
Die Asylpolitik ist eigentlich seit 1981, seit dem ersten Asylgesetz – das als Lex Furgler bezeichnet werden kann –, ein ewiger Dauerbrenner. Regelmässig kommt es seither zu Verschärfungen und endlosen Revisionen. Das Thema wurde sehr intensiv bewirtschaftet von den zahlreichen Splitterparteien am rechten Rand. Die Auto-Partei zum Beispiel, die 1985 von ehemaligen FDP-Politikern gegründet wurde, forderte zum einen freie Fahrt für freie Bürger, zum andern aber eine massive Einschränkung des Asylrechts. Die rechtspopulistische Erneuerung der SVP am Anfang der Neunzigerjahre stand dann ebenfalls im Zeichen der Asylpolitik. Die eine Säule ihres Programms war natürlich der Widerstand gegen Europa und gegen den EWR. Die andere Säule war der Kampf gegen «Asylmissbrauch». 1992 lancierte die SVP mit der Asylinitiative die erste Volksinitiative in ihrer Parteigeschichte. Es war der Startschuss in eine neue Ära. Im Ergebnis ist das heutige Schweizer Asylwesen extrem stark durch den permanenten rechtspopulistischen Druck der letzten 30 Jahre geprägt, obwohl es von allen Parteien mitgetragen wird und bis vor kurzem eine Sozialdemokratin dafür zuständig war.
Mit der Begrenzungsinitiative kann die SVP ihre beiden Kernthemen – Europa und Migration – nun zusammenführen. Bei der Masseneinwanderungsinitiative hatte sie damit Erfolg.
Ich befürchte ein wenig, dass die Gegner der Begrenzungsinitiative in einen Argumentationsnotstand kommen könnten. Der SVP ist es in den letzten 30 Jahren gelungen, die Frage einer möglichen EU-Mitgliedschaft in ein absolutes No-Go zu verwandeln. Das ist ihr grösster politischer Erfolg. Auch hier steht sie übrigens in der Nachfolge von Schwarzenbach, der jede Form der Einbettung der Schweiz ins internationale Staatensystem strikt ablehnte und einen erbitterten Kampf gegen internationale Organisationen und gegen die Entwicklungszusammenarbeit führte. Heute kann sich kaum ein Schweizer Politiker mehr erlauben, eine EU-Mitgliedschaft auch nur diskutieren zu wollen. Es wäre politischer Selbstmord. Wir liegen zwar im Herzen von Europa, wir machen Geschäfte mit Europa, wir haben offene Grenzen zu Europa. Aber wir sind nicht Teil der Europäischen Union, wir wollen auf gar keinen Fall dazugehören. Wie soll man begründen, dass wir einerseits nichts zu tun haben mit der EU, dass wir andererseits aber offen sein müssen für die freie Ansiedlung europäischer Bürger?
Man macht wie immer wirtschaftliche Gründe geltend.
Wir werden sehen, wie erfolgreich das ist, besonders jetzt, wo aufgrund der Corona-Krise das Schutzbedürfnis der Menschen steigt und sich dabei wieder auf nationale Souveränitäten bezieht. Es ist nicht einfach, einerseits für die wirtschaftliche europäische Integration zu plädieren und andererseits wie ein heiliges Gebot den Grundsatz zu verteidigen, dass wir gar nicht zum politischen Europa gehören.