Schlüsselfigur im Bündner Justizkrimi soll abgewählt werden
Der Richter, der sich gegen die mutmassliche Fälschung eines Gerichtsurteils am Kantonsgericht auflehnte, soll weg. Das sagt die Justizkommission – obwohl sie ihm inhaltlich weitgehend recht gibt.
Von Anja Conzett, 03.06.2020
Hat der Präsident des Kantonsgerichts Graubünden ein Urteil gefälscht und so einen Mann um eine halbe Million Franken geprellt? Hat er versucht, den Kollegen, der ihm das vorwirft, des Amtes zu entheben? Haben weitere Richter sich eines Fehlverhaltens schuldig gemacht, indem sie im Sinne des Präsidenten handelten?
Oder hat das Kantonsgericht alles richtig gemacht – und ist der Richter, der die Anschuldigungen gegen die Kollegen vorbringt, nichts weiter als ein inkompetenter, untragbarer Querulant?
Diese Fragen stellten sich nach einer Recherche der Republik in Kooperation mit der SRG im Februar.
Hat der Präsident des Kantonsgerichts Graubünden ein Urteil gefälscht? Das sagt einer seiner Richterkollegen. Worauf dieser gefeuert werden soll. Ein Justizkrimi.
Jetzt hat die Justizkommission Graubünden einen ersten Bericht in der Sache veröffentlicht. Behandelt wird darin primär die Rolle des Richters Peter Schnyder, der gegen den Gerichtspräsidenten und seine Kollegen aufbegehrte.
In einem zusätzlichen Bericht empfiehlt die Kommission für Justiz und Sicherheit des Grossen Rats dem Kantonsparlament einstimmig, Schnyder bei den Richterwahlen im August nicht wiederzuwählen – und gibt dem Abzuwählenden inhaltlich recht.
Unrecht im Recht
Zur Erinnerung: Peter Schnyder wirft dem Gerichtspräsidenten Norbert Brunner vor, bei einem Erbstreit nachträglich ein Urteil inhaltlich stark abgeändert zu haben – aufgrund einer im Verfahren gar nicht vorhandenen Abtretungserklärung sprach der Gerichtspräsident eigenmächtig einer am Verfahren gar nicht beteiligten Drittperson einen Erbbetrag von über 500’000 Franken zu. Auf das geänderte Urteil wurde Schnyder, der am Verfahren beteiligt war, erst durch ein Revisionsgesuch des geprellten Erben aufmerksam.
Schnyder wies daraufhin seine Kollegen auf das mutmasslich rechtswidrige Verhalten des Gerichtspräsidenten hin, forderte die Nichtigerklärung des Urteils und stellte ein Ausstandsgesuch gegen den Gerichtspräsidenten im Revisionsverfahren. Letzteres wurde von drei Kollegen abgeschmettert – mehr noch: Die Richter entschieden sich zudem dagegen, die Verfahrensparteien vom Ausstandsverfahren in Kenntnis zu setzen, wie es eigentlich üblich wäre. Schnyder wies die Kollegen darauf hin, dass dies rechtswidrig sei, und boykottierte in der Folge die Revisionsverhandlung, worauf das gesamte Gericht der Justizkommission einen Antrag stellte, Schnyder seines Amtes zu entheben. Seither ist Schnyder krankgeschrieben.
In ihrem Bericht schreibt die Justizkommission nun, dass das Verhalten des Gerichtspräsidenten im Falle des Erbstreits keine rechtliche Grundlage habe, und bestätigt, dass der Vorsitzende die Abtretungserklärung – wie von Schnyder beanstandet – nachträglich und rückdatiert in das Verfahren brachte; das Urteil ohne erneute Zirkulation oder Beratung änderte.
Weiter schreibt die Kommission, es gebe keine gesetzliche Grundlage dafür, ein Ausstandsgesuch zu behandeln, ohne die Prozessparteien in Kenntnis zu setzen – auch damit hatte Schnyder also recht.
Schnyder ist demzufolge also alles andere als inkompetent. Dennoch wird er im Bericht gerügt.
Besonders hart kritisiert die Justizkommission Schnyders Verhalten, nachdem seine Kollegen das Ausstandsgesuch abgewiesen und unter Verschluss gehalten hatten: Statt am Revisionsverfahren teilzunehmen, bezog Schnyder kurzfristig einen Ferientag und blieb der Verhandlung fern. Zudem drohte er, das Amtsgeheimnis zu verletzen und die Verfahrensparteien selbst zu informieren – eine Drohung, die er aber nie wahr machte, was ihm im Bericht zugutegehalten wird.
In alledem und weiteren vernachlässigbareren Punkten sieht die Justizkommission eine Verletzung der Amtspflicht. In Anbetracht dessen, vor welchem Hintergrund Schnyder der Verhandlung fernblieb, habe man sich aber für die mildeste Disziplinarmassnahme entschieden: den Verweis. Den Antrag zur Amtsenthebung Peter Schnyders, der vom ganzen Gericht unterzeichnet wurde, schätzte die Justizkommission jedoch als ungenügend begründet ein (pro forma, der Antrag wurde unterdessen zurückgezogen).
Statt des Amtes enthoben soll Schnyder abgewählt werden.
Die Kommission wirft dem Richter in ihrer Begründung «ausgeprägten Individualismus» und unkollegiales Verhalten vor, was sich auch abseits des geänderten Urteils im Erbstreitverfahren bemerkbar gemacht habe. Zudem könne sich das Kantonsgericht nicht vorstellen, weiter mit Schnyder zusammenzuarbeiten.
Während Schnyder zur Abwahl steht, bleiben die anderen Kantonsrichter, die in diesen Justizskandal verwickelt sind und teilweise im Verdacht stehen, sich weitaus gröbere Verfehlungen geleistet zu haben, unbehelligt. Vorerst.
Die nächste Runde
Dass ausgerechnet der Richter, der auf die Missstände am Kantonsgericht aufmerksam gemacht hat, bislang als einziger die Konsequenzen aus dem beispiellosen Fall um das geänderte Urteil tragen muss, wirkt zumindest unglücklich.
Dessen scheint sich auch die Justizkommission bewusst zu sein. An der Medienkonferenz vom Dienstag, 2. Juni, in Chur weist sie darauf hin, dass der Bericht über die disziplinarische Untersuchung gegen Gerichtspräsident Brunner noch nicht publiziert werden kann, weil Brunner, der Ende Jahr in Pension geht und nicht zur Wiederwahl steht, ein Ausstandsgesuch gegen sämtliche 11 Mitglieder der Justizkommission eingereicht hat. Begründung: Voreingenommenheit.
Die ohnehin schon schwierige Arbeit der Justizkommission wird damit zusätzlich erschwert. Und bis der Grosse Rat in der Junisession über Brunners Ausstandsgesuch entschieden hat, kann die Kommission den Bericht nicht veröffentlichen.
Ein Zeichen hat sie aber bereits gesetzt: Im April hat die Justizkommission die Immunität Norbert Brunners aufgehoben. Der amtierende Gerichtspräsident könnte sich also bald vor Gericht verantworten müssen: Der Staatsanwaltschaft Graubünden liegen mehrere Strafanzeigen wegen Urkundenfälschung gegen ihn vor.
Auch sonst wird sich die Justizkommission weiter intensiv mit dem Kantonsgericht auseinandersetzen müssen: Ein ebenfalls an der Medienkonferenz vorgestellter Bericht über die Pendenzenlast am Kantonsgericht weist auf erhebliche Mängel bei Führung und Abläufen am Kantonsgericht hin. Das Gericht hat die Weisung, regelmässig über die Umsetzung der im Rahmen der Berichte entstandenen Empfehlungen Rechenschaft abzulegen – und ist angehalten, bei möglichen Differenzen die Kommission rechtzeitig in Kenntnis zu setzen, heisst es vonseiten der Kommission.
Weiter klärt die Justizkommission ab, ob sie disziplinarische Untersuchungen gegen zwei Richter der Ersten Zivilkammer einleiten wird. Jene Richter, die das Revisionsgesuch ohne Rücksicht auf die (gemäss Justizkommission gerechtfertigten) Hinweise Schnyders auf ein mögliches Fehlverhalten des Gerichtspräsidenten beurteilten. Die Justizkommission wird klären, ob dabei eine mögliche Pflichtverletzung vorliegt, und wenn ja, wie schwer diese wiegt.
Nebst der kantonalen Justizkommission beschäftigt sich auch das Bundesgericht weiter mit der Sache: Schnyder hat dort Beschwerde gegen die Kollegen eingereicht, die entschieden hatten, das Ausstandsgesuch gegen Brunner entgegen den gesetzlichen Grundlagen geheim zu halten. Solange das Bundesgericht nicht entschieden hat, kann die Justizkommission keine Disziplinaruntersuchungen veranlassen.
Selbst wenn Schnyder und Brunner wegfallen würden, blieben also noch drei Richter am Kantonsgericht, die sich im Fall um das abgeänderte Urteil – anders als Schnyder – zwar kollegial, aber möglicherweise nicht rechtens verhalten haben.
Peter Schnyder hat über seinen Anwalt eine Stellungnahme veröffentlicht, die den Entscheid der Justizkommission heftig kritisiert. Unter anderem steht darin sinngemäss: Statt Schnyders stets am Recht orientiertes Verhalten in der Angelegenheit zu verdanken, belege die Justizkommission ihn mit einem Verweis und der Nichtwahlempfehlung.
Vieles deutet darauf hin, dass Schnyder das Feld nicht kampflos räumen wird.
Und die Krise am Kantonsgericht ist noch lange nicht ausgestanden.